Ludwig Erhard in Bedrängnis
Hoch her ging es vor fünfundsiebzig Jahren am 28. September 1948 im Frankfurter Wirtschaftsrat. Ludwig Erhard, der Direktor für Wirtschaft, musste den Abgeordneten zu den Folgen der am 20. Juni vollzogenen Währungsreform Rede und Antwort stehen. Denn handstreichartig hatte er die von langer Hand geplante Einführung des neuen Geldes mit der Freigabe von vielen Preisen verbunden und damit eine Grundsatzentscheidung gegen die bisherige Planwirtschaft getroffen. Über Nacht waren die Schaufenster und Regale voll mit Waren, die lange vermisst wurden oder bislang nur auf abenteuerlichen Wegen auf dem Schwarzmarkt erhältlich waren. Aber zugleich explodierten die Preise und die Arbeitslosenzahlen, und etliche Konsumgüter blieben knapp. Viele Kritiker, vor allem in den Reihen von SPD und KPD, hielten Erhards Liberalisierungsstrategie für ein verrücktes Sozialexperiment, das schnellstens zu beenden sei. Auch innerhalb der CDU, die den parteilosen Einzelgänger zusammen mit der FDP ins Amt gehievt hatte, wuchs die Nervosität.
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Erhard erklärte seinen Kritikern frei von jeder Verunsicherung, warum er seine Politik als eine „Soziale Marktwirtschaft“ verstand: „Die Wirtschaftspolitik, die wir eingeschlagen haben, hat zwar natürlich auch eine ökonomische Zielsetzung, aber sie hat vor allem eine soziale und eine politische Zielsetzung: die Auflösung des Zwangs, die Freiheit des Volkes und die Förderung des demokratischen Gedankens in Deutschland, ohne den wir nie zu einer Zusammenarbeit kommen können, ohne den wir nie zu einer wirklichen Form einer Demokratie kommen können, wie sie uns von anderen Völkern vorgelebt wird.“
Diesseits und jenseits von Angebot und Nachfrage: Soziale Marktwirtschaft als Ordnung der Freiheit
75 Jahre später ist der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ nicht mehr kontrovers. Er ist zu einem Allerweltslabel geworden, das von vielen Parteien beansprucht wird und mit dem ganz unterschiedliche Ordnungsvorstellungen verbunden werden. Die „Soziale Marktwirtschaft“ ist als politische Formel Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Dies liegt daran, dass der Begriff oft ausgleichend verstanden wird, als elastische Kombination verschiedener Ordnungsprinzipien, von denen mal ein freiheitlich-marktwirtschaftliches und mal ein ausgleichend-soziales Prinzip dominieren möge. In den „Düsseldorfer Leitsätzen“ von 1949 beschreibt die CDU beispielsweise die „soziale Marktwirtschaft“ als die „sozial gebundene Verfassung der gewerblichen Wirtschaft, in der die Leistung freier und tüchtiger Menschen in eine Ordnung gebracht wird, die ein Höchstmaß von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit für alle erbringt.“ Hier werden Antagonismen auf integrative Weise miteinander verkoppelt. Aber so wird die programmatische Kernbotschaft, die Ludwig Erhard antrieb, auch verdunkelt.
Interessanterweise wird dessen Konzeption an einer anderen, allerdings etwas versteckten Stelle der „Düsseldorfer Leitsätze“ viel prägnanter definiert: „Die ,soziale Marktwirtschaft‘ ist diejenige Ordnung, welche die Ausrichtung der Erzeugung auf die wirklichen Wünsche der Verbraucher und die billigste Versorgung des Gesamtbedarfs mit dem geringsten Aufwand an politischer und gesellschaftlicher Macht gewährleistet.“
Hier wird ein Verständnis von „Sozialer Marktwirtschaft“ deutlich, das nicht als Koexistenz gegensätzlicher Prinzipien angelegt ist. Es kommt ohne die Bezugnahme auf schillernde, auslegungsbedürftige Begriffe wie Freiheit oder Gerechtigkeit aus. Hier wird erstens der Verbraucher mit seinen Wünschen als Bezugspunkt der Ordnung gesehen. Zweitens muss der Gesamtbedarf aller auf möglichst billige Weise erfüllt werden. Möglichst niedrige Nominalpreise wären darunter zu verstehen, aber auch die Vermeidung externer Kosten wie beispielsweise Umwelt- oder Klimaverschmutzung, die die Verbraucher aufeinander oder auf Dritte abwälzen könnten. Drittens vermeidet diese Ordnung Machtkonzentration von gesellschaftlichen oder politischen Akteuren. Die Macht, die der Staat einsetzen muss, um das Behindern des Wettbewerbs oder das Abwälzen von Risiken und Kosten auf Dritte zu verhüten, ist ungleich geringer als die Macht, die er bräuchte, um die Wirtschaftsplanung bis hin zur konkreten Produktion und Zuteilung von Waren und Dienstleistungen selbst in die Hand zu nehmen.
Der historische Erfolg der „Sozialen Marktwirtschaft“
Weder diese erhardsche Konzeption, nach der immer das mildeste Mittel an Machtausübung gewählt werden muss, noch andere Auslegungsmöglichkeiten der „Sozialen Marktwirtschaft“ wurden nach 1948 konsequent in die politische Praxis umgesetzt. Es gab schon zu Adenauers und Erhards Zeiten viele halbherzige und einige widersprüchliche Entscheidungen. Und dennoch hat die „Soziale Marktwirtschaft“ als Ordnungsidee große historische Erfolge vorzuweisen.
Die Wirtschaftsreform von 1948 hatte erstens eine große Fernwirkung, weil in den folgenden Jahren viele weitere Preise freigegeben wurden und auf die umfassende Verstaatlichung von Bergbau und Schlüsselindustrien verzichtet wurde. Damit wurde trotz einiger Einschränkungen eine Kultur des Wettbewerbs und der Innovation gestiftet, von der das Land bis heute profitiert.
Zwar nicht vollkommen und konsequent, aber doch insgesamt wegweisend war zweitens die Etablierung einer Wettbewerbspolitik zur Kontrolle von Monopolen und Fusionen und zum Verbot von Kartellen. Die starke Stellung des Wettbewerbsgedankens und des Verbraucherschutzes waren und sind ein Eckpfeiler der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik.
Als segensreich erwies sich drittens die Etablierung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik bis 1999. Die Sicherung des Geldwertes durch ein unabhängige, auf ein einziges, klares Ziel verpflichtete Zentralbank war eine entscheidende Rahmenbedingung für den wirtschaftlichen Erfolg und die Erfüllung der Aufstiegsversprechen in der Bundesrepublik.
Von langfristiger Bedeutung war viertens auch, dass die Politik der „Sozialen Marktwirtschaft“ von Beginn an auf die europäische Integration ausgerichtet wurde und der Freihandelsgedanke allmählich an Durchsetzungskraft gewann. Viele Reformimpulse auf nationaler Ebene, z.B. der Abbau von staatlichen Monopolen der sogenannten „Daseinsvorsorge“, sind durch die Binnenmarktpolitik der Europäischen Union überhaupt erst erzwungen worden.
Fünftens hat die Bundesrepublik über all die Jahrzehnte hinweg wirtschaftliche Krisen gut gemeistert. Anders als in vielen europäischen Ländern kam es seither nicht zu einer politischen Destabilisierung. Das Versprechen auf Wohlstand und Aufstieg konnte bislang eingehalten werden. So war der wirtschaftliche Erfolg der „Sozialen Marktwirtschaft“ nicht zuletzt die Voraussetzung dafür, dass die Wiedervereinigung nach 1989/90 ökonomisch bewältigt werden konnte.
Der Blick nach vorn
75 Jahre nach der Währungs- und Wirtschaftsreform macht sich allerdings Krisenstimmung breit, und harte ökonomische Indikatoren verdeutlichen, dass in mancher Hinsicht der aufgestaute Reformbedarf derzeit größer ist als das Problembewusstsein der politischen Eliten und der Wählerschaft. Prinzipiengeleitetes Ordnungsdenken hat es schwer gegen tagespolitischen Opportunismus und programmatische Konkurrenzangebote. Dabei böte die „Soziale Marktwirtschaft“, wie sie Ludwig Erhard verstanden hat, auch heutzutage noch Orientierung und könnte erfolgreich auf neue Herausforderungen wie Klimaneutralität, soziale Vorsorge und Wettbewerbsfähigkeit bezogen werden. Sieben Botschaften gehen heutzutage vom Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ aus:
1. Sorgt für tragfähige Staatsfinanzen!
Solide Haushalts- und Finanzpolitik ist schon länger kein Markenzeichen der Bundesrepublik mehr. Schuldenfinanzierte „Sondervermögen“ täuschen solide Finanzpolitik nur vor. Zukunftsrelevante Bereiche wie Bildung, Infrastruktur oder Verteidigung sind trotz hoher Abgabenlast chronisch unterfinanziert. Denn es fehlt der Mut, entbehrliche Aufgaben und Ausgaben des Staates zu identifizieren und konsequent herunterzufahren. Noch kritischer ist die langfristige Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme, in denen sich gewaltige Kostenrisiken auftürmen. Künftige Bundesregierungen müssen den Mut zu nachhaltigen Konsolidierungsstrategien in der Haushalts- und Sozialpolitik aufbringen, wenn sie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederherstellen und die Wohlstandsversprechungen einlösen wollen.
2. Stabilisiert den Geldwert!
Laxe Haushaltspolitik hat ihren Preis: entweder die Vernichtung von Vermögenswerten und Vorsorgerücklagen durch Inflation oder die schmerzhafte Einschränkung des gegenwärtigen Konsums durch eine strenge Geldpolitik. Seit der Einführung des Euro ist die strikte Geldwertstabilisierung Zug um Zug aufgegeben worden – auch unter tatkräftiger Mithilfe deutscher Finanzminister. Die Europäische Zentralbank wurde zunehmend in den Dienst anderer, konkurrierender Zwecke gestellt: die Verbilligung von Staatsschuldenrisiken, die Finanzierung einer aufwendigen Konjunktur- und Krisenpolitik und neuerdings die Flankierung der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik. Das überfordert die Zentralbank und führt zu Zielkonflikten. Europa wird aber seine Wachstums- und Nachhaltigkeitsziele nur erreichen, wenn es auf eine konsequente Geldwertstabilisierung setzt, Inflation entschlossen bekämpft und dazu die Mitgliedstaaten zu Ausgabendisziplin und Reformbereitschaft motiviert. Deutschland muss sich dazu klarer bekennen und auch bereit sein, dafür mehr Konflikte einzugehen.
3. Nutzt Krisen zu Reformen!
Seit 2008 hat Deutschland ein Ineinandergreifen schwerer wirtschaftlicher Krisen erlebt: Finanzmarktkrise, Staatsschuldenkrise, Corona-Pandemie und aktuell die Folgen des russischen Neo-Imperialismus in Osteuropa. In Deutschland und anderswo hat man sich geradezu daran gewöhnt, dass der Staat mit gewaltigen Summen wirtschaftliche Strukturen in Krisenzeiten stabilisiert und eine aktivistische Konjunkturpolitik betreibt. Zugegeben: Auch Ludwig Erhard war in Fragen der Konjunkturpolitik kein Kind von Traurigkeit und hätte viele der Maßnahmen der letzten Jahre mitgetragen. Er hätte aber stärker im Blick gehabt, dass bloße Stabilisierungsmaßnahmen die Gefahr bergen, die Krise zu verlängern und zu verteuern. Er hätte im Wissen darum, dass in Krisenzeiten Geschäftsmodelle neu ausgerichtet werden müssen, mehr Wert daraufgelegt, die Anpassungsfähigkeit der Akteure zu erhöhen und intensiver auf strukturelle Reformen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit gedrungen.
4. Verteidigt offene Märkte!
Lange Zeit gehörte die Durchsetzung von Freihandel und Binnenmarkt zu den großen Errungenschaften der europäischen Integration. Der Wind hat sich allerdings empfindlich gedreht. Nicht nur autoritäre Staaten, sondern auch viele westliche Demokratien frönen einem kurzsichtigen Protektionismus und einer merkantilistischen Subventionspolitik. Sicherheitspolitische Gründe sprechen dafür, die Handelsbeziehungen mit Ländern wie Russland oder China mit Vorsicht auszugestalten. Aber eine rein industriepolitisch motivierte Politik der „strategischen Autonomie“ wäre ein Holzweg für Deutschland und Europa. Es zahlt sich auf Dauer nicht aus, sich vor dem Wettbewerb durch andere mittels Abschottung zu schützen. Auf lange Sicht hilft nur die Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit. Wenn beispielsweise wie derzeit die Energiepreise für die produzierende Wirtschaft zu hoch sind, hilft dagegen nur die Ausweitung der Energieproduktion und die Stärkung anderer Standortfaktoren, aber keine flatterhafte Subventionierung der Energiepreise für die Industrie.
5. Stärkt wieder die Tarifpartnerschaft!
Die Konzeption der „Sozialen Marktwirtschaft“ war auch deshalb über viele Jahrzehnte so erfolgreich, weil sie auf die gemeinsame Verantwortung der Tarifpartner setzte und den Staat aus der Lohnfindung herausgehalten hat. Dieses System erodiert derzeit – einerseits durch die nachlassende Organisationskraft der Tarifpartner, denen damit das notwendige Wissen über dezentrale Marktgegebenheiten verloren geht, andererseits durch eine zunehmende Verstaatlichung der Lohnfindung und durch eine Überregulierung des Arbeitsrechts. Die staatliche Festsetzung von Löhnen löst unplanbare Nebeneffekte aus und führt damit in eine Welt der Entmündigung und des Interventionismus hinein. Im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft läge es, die Tarifpartnerschaft zu stärken, sie damit für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer wieder attraktiver zu machen und den Tarifpartnern die Aushandlung der Arbeitsbeziehungen wieder stärker zuzutrauen und zuzumuten.
6. Lasst mehr dezentrale Innovation zu!
Deutschland leidet wie die Europäische Union im Ganzen unter den wachsenden Lasten einer immer restriktiveren und dichteren Regulierung, die den Binnenmarktgedanken allmählich kannibalisiert. Zudem gelingt es nicht, den Aufwand für Berichts- und Dokumentationspflichten und die Dauer von Genehmigungsverfahren entschlossen zu reduzieren. Regulierung und Bürokratie sind wie überbordende, kurzatmige und widersprüchliche Subventionspolitik Ausdrucksformen eines Politikverständnisses, das wenig Vertrauen in dezentrale und spontane Innovationsprozesse hat und das sich in einem hohen Maße zutraut, wünschenswerte und unerwünschte Innovationen vorab zu selektieren und wirtschaftliche Aktivitäten nach politischen Prämissen zu planen. Hier wäre ein freiheitlicheres Denken nötig, das mehr entlastet als fördert und das mehr auf verlässliche Regeln setzt und dafür weniger im Detail reguliert.
7. Nutzt den Wettbewerb für Klimaschutz!
Nirgends ist der Geist des Interventionismus derzeit stärker zu Gange als in der Energie- und Klimapolitik. Technologische Optionen werden teils verboten, teils mit hohem Aufwand in einem ohnehin boomenden Markt preistreibend gefördert. Hektische und inkohärente Regulierung treibt Marktakteure in Attentismus. Energieerzeugungskapazitäten werden politisch beschränkt, die Energiepreise werden auf der einen Seite durch Steuern und Entgelte hochgetrieben, auf der anderen Seite erschallt der Ruf nach Energiepreissubventionen, während die Verbraucher durch die absehbare Ausweitung von Monopolen in der Wärmeversorgung entmündigt werden. Einfacher, schneller und gerechter käme man auf dem Weg zur Klimaneutralität vorwärts, wenn eine konsistente und sektorübergreifende Bepreisung von Klimalasten bestünde und der Grundsatz der Technologieoffenheit hochgehalten würde. An die Stelle des dirigistischen Dickichts müsste eine wettbewerbsfreundliche Klimapolitik treten, die externe Kosten in die Wirtschaftsrechnung aller Marktteilnehmer integriert und damit Anreize für politisch unvorhersehbare Innovationen setzt.
So wenig die Marktwirtschaft als funktionierende Wettbewerbsordnung erst sozial gemacht werden muss, so wenig muss sie ökologisch gemacht werden. Es geht darum, die Ordnung der Freiheit auch in sozialen und ökologischen Zusammenhängen wirken zu lassen. Nötig ist ein neuer politischer Konsens dafür, dass ordnungstheoretisch reflektierte Reformen ohne Finanzillusionen sich langfristig auszahlen – für wachsenden Wohlstand und besseren Klimaschutz, für einen höheren Freiheitsgrad der Bürger und für eine demokratische Kultur, die dann übrigens auch vor den Verlockungen des Radikalismus besser gefeit wäre.
Hans Jörg Hennecke ist außerplanmäßiger Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock.
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