Die SARS-CoV-2-Pandemie ist eine akute weltweite Krise. Sie stellt alle Staaten vor enorme Herausforderungen: Der Infektionsschutz, der Kauf von Impfstoffen, die Impfungen und die Behandlung erkrankter Menschen müssen organisiert werden. Entscheidungen sind häufig schnell und – angesichts sich ständig verändernder Infektionszahlen – auf zum Teil unsicherer Faktengrundlage zu treffen. Sie sollen möglichst effektiv dazu beitragen, die Pandemie zu überwinden. Wo die Staatsgewalt handeln muss, stellt sich im demokratischen Rechtsstaat immer die Frage der Zuständigkeit. In einem föderalen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik Deutschland tritt neben die Gewaltenteilung auf horizontaler Ebene (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) noch die Gewaltenteilung auf vertikaler Ebene hinzu, die den Vollzug der Bundesgesetze grundsätzlich den Ländern zuweist (Art. 83 ff. GG). Das Rechtsstaatsprinzip gebietet es, stets die Grundrechte zu wahren (Art. 1 Abs. 3 GG).
Am Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlament sowie zwischen Bund und Ländern regt sich aus unterschiedlichen Ecken Kritik. Nimmt man diejenigen, die Schutzmaßnahmen (z.B. Maskenpflicht und Impfungen) grundsätzlich ablehnen, aus der Betrachtung heraus, so zeigen sich zwei Kritikschwerpunkte: Die einen bemängeln die staatlichen Maßnahmen, wahlweise als zu sprunghaft, zu wenig nachvollziehbar, zu wenig effektiv, oder fordern mehr Krisenmanagement „aus einer Hand“. Die anderen kritisieren das Verhältnis zwischen der Exekutive und der Legislative. Dabei unterscheiden viele nicht zwischen Bundes- und Landesstaatsgewalt. Vielmehr nehmen sie die Bundes- und die Landesregierungen als die eine Seite, den Bundestag und die Landesparlamente als die Gegenseite wahr und mahnen eine größere Beteiligung der Parlamente am Krisenmanagement an.
In diesem Beitrag soll es nicht um die Effektivität einzelner staatlicher Maßnahmen (Prävention durch Masken- und Abstandspflicht, Impfungen oder Krankenhausausstattung) gehen. Vielmehr soll gefragt werden, wer besser „durch eine Krise kommt“: unsere heutige Verfassungsordnung oder eine stärker auf die Exekutive setzende, wie sie in der Weimarer Zeit bestand und heute noch in einzelnen Staaten existiert.
Eine demokratische Republik mit (zu) starker Exekutive: die Weimarer Republik
Die Weimarer Republik befand sich in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens, also von 1919 bis 1924, in einem dauerhaften Krisenmodus.[1] Schuld daran waren die Vorbelastungen durch den Krieg und die Niederlage sowie die hasserfüllte Feindschaft rechts- und linksextremer Parteien und Gruppen: Die Kriegsschulden und die Reparationslasten aufgrund des harten Versailler Friedensvertrages belasteten den Staatshaushalt schwer. Durch den passiven Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebiets („Ruhrkampf“) 1923 wurde der Reichsetat übermäßig belastet. Die ohnehin schon starke Inflation wurde weiter angeheizt. Sie erreichte im November 1923 ihren Höhepunkt, als die Brotpreise in Milliarden Mark angegeben wurden. Die Sparguthaben von Millionen Deutschen waren vernichtet. Seit 1919 agierten Extremisten von links und rechts gegen die Weimarer Demokratie. In der Verfassungsgebenden Nationalversammlung waren sie noch nicht vertreten, dafür aber seit 1920 im Reichstag. Dort störten radikale Abgeordnete die Sitzungen, beleidigten die Republik und schürten den Hass ihrer Anhänger. Zunächst waren die Kommunisten zahlenmäßig stärker als die Rechtsextremisten, die sich zum Teil in der größtenteils monarchistischen DNVP und später in völkischen Parteien engagierten. Die Völkischen standen generell der westlichen Moderne und ihren rechtlichen, sozialen wie kulturellen Errungenschaften feindlich gegenüber. Die Kommunisten hingegen strebten ein bolschewistisches Sowjetdeutschland an. Auch sie hassten die liberale Demokratie, das Parlament und alle, die dafür eintraten. Die rechts- und linksradikalen Todfeinde der Demokratie versuchten, ihre Ziele auch durch Aufstände und Putschversuche an verschiedenen Orten zu erreichen. Dies hielt die Reichs- und manche Landesregierungen bis in den Spätherbst 1923 in Atem. Alle Aufstände waren aber letztlich erfolglos. Ihnen fehlte zum einen eine breite Anhängerschaft und stand zum anderen der unbedingte Abwehrwille des demokratischen Staates gegenüber.
In diesen Krisenzeiten nahm die Exekutive das Heft in die Hand: der Reichspräsident, assistiert von der jeweiligen Reichsregierung. Sah das Staatsoberhaupt die öffentliche Sicherheit und Ordnung als erheblich gestört oder gefährdet an, durfte es die „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen“ treffen. Der Reichspräsident war befugt, die Streitkräfte einzusetzen und bestimmte Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft zu setzen (Art. 48 Abs. 2 WRV). Die Rechtswissenschaft und die Staatspraxis legten die Vorschrift sehr weit aus. Sie verstanden auch wirtschaftliche Krisen als Gefährdung der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ sowie Rechtsverordnungen als „nötige Maßnahmen“. In Krisenzeiten war damit eine Rechtsetzung am Parlament vorbei möglich. Die Reichsministerien erstellten die Entwürfe für die präsidialen Rechtsakte. Zwar konnte der Reichstag die Aufhebung solcher „Notverordnungen“ verlangen (Art. 48 Abs. 3 WRV). Aber er musste damit rechnen, im Gegenzug vom Reichspräsidenten sofort aufgelöst zu werden. Denn das Staatsoberhaupt durfte das Parlament „jederzeit“ nachhause schicken und Neuwahlen ansetzen (Art. 25 WRV). Außerdem kam es Parteien und ihren Reichstagsabgeordneten in den krisenhaften Anfangsjahren der Republik recht gelegen, wenn der Reichspräsident die Verantwortung für umstrittene Entscheidungen übernahm. Die an bestimmte Milieus gebundenen Parteien vermochten oftmals aus den Grenzen ihrer Weltanschauung nicht herauszutreten. Die Mehrheitsverhältnisse wechselten, die Reichskabinette ebenfalls. Allein von Februar 1919 bis Mai 1924 amtierten zehn Kabinette, denen insgesamt acht Regierungschefs vorstanden. Der Reichstag überließ Reichspräsident Friedrich Ebert gern die Initiative. Der Exekutive gelang es, die junge Republik mit mehreren Notverordnungen durch die krisenhaften Anfangsjahre zu steuern.
Zunehmende Zahl von Notverordnungen ab 1930
Lediglich die Jahre zwischen 1924 und 1929 lassen sich als Zeit relativer Ordnung und „goldene“ Zwanzigerjahre bezeichnen. Die politische Lage beruhigte sich. Ab Oktober 1929 setzte dann eine erneute, letztlich tödliche Krisenphase ein. Sie wurde durch die Weltwirtschaftskrise, die das Deutsche Reich besonders hart traf, stark befeuert: die Arbeitslosenzahl stieg rasant, die Staatsverschuldung ebenso. Mitte 1930 begann die zweite Phase mit hohem Rechtsetzungsanteil der Exekutive. Als Grund wurde vonseiten der Reichsregierung – wie in den Jahren bis 1924 – die Arbeitsunfähigkeit des Reichstages angegeben. Dieser sei außerdem nicht dazu bereit, die Spar- und Steuergesetze zu verabschieden, die angesichts der wachsenden Staatsverschuldung nötig seien. In Wahrheit hatten der obrigkeitsstaatlich denkende Reichspräsident Paul von Hindenburg und Reichskanzler Heinrich Brüning gar kein Interesse an einer Einbeziehung des Parlaments. Hindenburg wollte die SPD aus der Regierung heraushalten, ohne die eine Reichstagsmehrheit nicht zu erreichen war; Brüning wollte sein Ziel durchsetzen, mit einer rigorosen Spar- und Deflationspolitik die überlasteten öffentlichen Haushalte zu sanieren.[2] Nach der katastrophalen Reichstagswahl vom 14. September 1930, die der NSDAP massive Zuwächse bescherte, tolerierte die SPD das Kabinett, um die Nationalsozialisten aus der Regierung herauszuhalten und die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung nicht zu gefährden. Das Ergebnis war, dass der Reichstag monatelang vertagt wurde, und die Gesetzgebung sich im Jahr 1931 mehrheitlich von der Legislative zur Exekutive verlagerte. Hatten 1930 einer Handvoll Notverordnungen noch 98 Parlamentsgesetze gegenübergestanden, waren es 1931 mehr als 40 Notverordnungen und 36 Parlamentsgesetze. Dieser Trend wurde nicht mehr umgekehrt: 1932 wurden rund 60 Notverordnungen, aber nur noch fünf (!) Parlamentsgesetze erlassen.[3]
Man kann über den Erfolg mancher Notverordnung streiten, etwa bei der Rettung des deutschen Bankensystems 1931.[4] Auch die Notverordnung, mit der SA und SS verboten wurden[5], war sinnvoll – wurde aber leider nach wenigen Wochen wieder kassiert. Generell war die exekutive Rechtsetzung nicht erfolgreich; denn sie konnte die Folgen der Weltwirtschaftskrise nicht auffangen: Weder gelang die Sanierung der Staatsfinanzen noch wurde die Massenarbeitslosigkeit reduziert. Stattdessen stiegen die Armut, der Unmut und die Abstiegsängste. Die unpopulären Regierungen und Notverordnungen – die nicht einmal im Reichstag diskutiert wurden – trugen zu den Stimmenzuwächsen der NSDAP und der KPD bei. In immer stärkerem Maße erhielten ihre paramilitärischen Kampfverbände SA und Roter Frontkämpferbund Zulauf. Der politische Kampf wurde blutig auf der Straße ausgefochten. Die Notverordnungen gewöhnten das Volk an eine Herrschaft ohne Parlament und höhlten auf diese Weise die Demokratie aus. Die exekutive Rechtsetzung in der Weimarer Republik ist also vor allem für die letzten Jahre bis 1933 als verheerender Irrweg anzusehen. Während Eberts besonnene Regelungen, die eine Mehrheit im Reichstag hinter sich hatten und auf den Republikerhalt abzielten, dazu beitrugen, die Anfangskrisen durchzustehen, kann man Hindenburgs Notverordnungen ohne parlamentarischen Rückhalt – mit wenigen Ausnahmen – nur als erfolglos (und teilweise als demokratieschädigend) beschreiben. Aus der im Oktober 1929 einsetzenden Krise fand die Weimarer Republik keinen Ausweg mehr. Sie ging daran zugrunde.
Die Bundesrepublik Deutschland als Demokratie mit starker Legislative
Die Bundesrepublik hat in ihrer mehr als 70-jährigen Geschichte alle bis zur Belastungsgrenze herausfordernden Situationen gemeistert: die wirtschaftlich schwierigen Anfangsjahre bis zum Einsetzen des Wirtschaftswunders, die Ölkrise und den industriellen Strukturwandel mit steigender Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahren, den RAF-Terror und die stark gestiegene Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung sowie die Banken- und Eurokrise ab 2008. Aus allem ist Deutschland gestärkt hervorgegangen. Die Bundesrepublik Deutschland ist das freiheitlichste, demokratischste, wirtschaftlich erfolgreichste und politisch stabilste Gemeinwesen der deutschen Geschichte. Sie sieht sich derzeit und künftig vielen Herausforderungen gegenüber: der Globalisierung, der Digitalisierung aller Lebensbereiche, dem Terrorismus verschiedener Couleur, dem Klimawandel, dem Migrationsdruck – und aktuell der SARS-CoV-2-Pandemie sowie der sich daraus ergebenden finanziellen Belastung. Zu einer Verfassungskrise, einer Aporie des politischen Systems, ist es bislang aber nicht gekommen. Dazu wird es – effizientes und intelligentes Staatshandeln vorausgesetzt – auch künftig nicht kommen. Die starke wirtschaftliche Basis der Bundesrepublik und das Fehlen starker verfassungsfeindlicher Parteien und Gruppen waren ein Erfolgsfaktor und bleiben es hoffentlich auch. Auch das stabile Parteiensystem, das verantwortungsbewusste Politikerinnen und Politiker hervorgebracht hat, trug zum Erfolg bei. Es bleibt zu hoffen, dass die teilweise einsetzende Erosion mancher Parteien das austarierte Gefüge dennoch nicht maßgeblich schwächen wird.
Ein weiterer, sicher bleibender Erfolgsfaktor ist das Grundgesetz selbst. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten aus den Weimarer Erfahrungen gelernt. Der Bundestag bildet als unmittelbar vom Volk gewähltes Verfassungsorgan das „Herz der Demokratie“. Er ist dies in viel stärkerem Maße als der Weimarer Reichstag. Denn die Rolle des Bundestages im Organgefüge des Grundgesetzes ist deutlich stärker als die des Reichstages. Anders als in der Weimarer Zeit können der Präsident und die Regierung nicht ohne oder gar gegen das Parlament regieren. Denn der Bundeskanzler (Art. 63, 67 GG) und über diesen die Bundesregierung (Art. 69 Abs. 2 GG) verdanken ihr Amt der Kanzlerwahl durch das Parlament. Der Bundestag kann den Kanzler und damit die Regierung durch ein konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG) stürzen. Eine Auflösung des Bundestages ist dem Bundespräsidenten – anders als dem Reichspräsidenten – nur noch in zwei Ausnahmefällen gestattet (Art. 63 Abs. 4 S. 3, 68 Abs. 1 GG). Eine parlamentslose Zeit zwischen der Auflösung und der Neuwahl, in der die Regierung „freie Hand“ hätte, besteht auch nicht mehr.
Geblieben ist die bedeutende Rolle der Regierung bei der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe. Sie hat in den Ministerien und nachgeordneten Behörden mehrere Tausend Spezialistinnen und Spezialisten, die diese Arbeit erledigen. Der Bundestag hingegen wäre überlastet, wenn er oder einzelne Fraktionen oder Abgeordnete alle Gesetzentwürfe selbst erstellen müssten. Aus der Mitte des Bundestages (Art. 76 Abs. 1 GG) stammen fast ausschließlich nur die Entwürfe der Oppositionsfraktionen, solche zum Wahl- oder Parlamentsrecht und die seltenen lagerübergreifenden Vorlagen, die ethisch heikle Fragen betreffen. Doch bedeuten die beschriebenen Umstände nicht etwa, dass die Exekutive zu stark würde. Es gehört zum Wesen des parlamentarischen Regierungssystems, dass die Parlamentsmehrheit und die Regierung eng zusammenarbeiten. Sie teilen sich die Aufgabe der Staatsleitung im Sinne gemeinsamer politischer Ziele. Die Regierung erarbeitet die meisten Gesetzentwürfe. Das Parlament debattiert diese öffentlich, ändert sie, und beschließt sie. Diese breite Diskussion aller Fragen ist ein Vorzug eines starken Parlaments. Die sehr lebhafte öffentliche Meinung und die Grundrechte Einzelner können auf diese Weise deutlich stärker debattiert werden und Berücksichtigung finden, als es bei einer rein durch die Regierung verantworteten Politik der Fall wäre. Nicht ohne Grund drehte sich mehr als ein Drittel der im Bundestag verhandelten Gesetzentwürfe, Anträge, Fragen etc. seit dem Ausbruch der Corona-Seuche um diese Pandemie. Die breite Diskussion kann die Akzeptanz der Bevölkerung auch zu unliebsamen Maßnahmen erhöhen (was aber nicht immer der Fall ist).
Parlamentsvorbehalt in Fragen, die die Grundrechte betreffen
Da der Bundestag seine Aufgabe ernst nimmt, verlassen viele Gesetzentwürfe den Bundestag mit (teilweise) anderem Inhalt, als dem, mit dem sie eingebracht wurden. Dem grundlegenden Einvernehmen zwischen der Regierungsmehrheit und der Regierung schadet das nicht. Das Parlament hat unter dem Grundgesetz die Letztentscheidung und -verantwortung. Soll die Regierung Details selbstständig regeln, bedarf sie zu einer solchen Rechtsverordnung der Ermächtigung durch ein Gesetz des Bundestages (Art. 80 Abs. 1 GG). Allerdings darf das Parlament nicht alles einfach auf die Regierung delegieren. Alle wesentlichen Fragen, d.h. vor allem solche, die die Grundrechte betreffen, muss das Parlament selbst per Gesetz regeln (sog. Parlamentsvorbehalt). Daher benötigt jedes Verwaltungshandeln, das in Grundrechte eingreift – wie etwa Kontaktbeschränkungen zur Pandemiebekämpfung – eine parlamentsgesetzliche Grundlage. Ob ein bestehendes Gesetz für Grundrechtseinschränkungen genügt, ist in jedem Einzelfall gründlich zu prüfen.[6] Gegebenenfalls ist gesetzgeberisch nachzubessern, und zwar auch dann, wenn schnelles Handeln erforderlich ist. Das eingespielte Gesetzgebungsverfahren lässt sich ohne Weiteres in wenigen Tagen durchlaufen. Das hat sich schon mehrfach gezeigt. Ein vermeintlich „schnelles“ rein exekutives Regelungsrecht ohne parlamentarische Grundlage – wie das Weimarer „Notverordnungsrecht“ – benötigt die Bundesrepublik ganz sicher nicht.
Am Primat des Bundestages ändert sich auch nichts durch die verfassungsrechtlich gebotenen und politisch sinnvollen Absprachen, die regelmäßig zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen stattfinden. Die Absprachen sind geboten und sinnvoll, da die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitzuwirken haben (Art. 50 GG). Die beiden staatlichen Ebenen sind eng miteinander verwoben. Dies zeigt sich in der Corona-Krise: Wenn sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder treffen, um Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu besprechen, fassen sie zwar „Beschlüsse“ (oder sprechen sich ab). Sie erlassen aber keine Gesetze. Das ist allein Sache des Bundestages und gegebenenfalls der Landesparlamente. Die (physischen oder digitalen) Treffen der Bundes- und der Landesregierungen dienen vielmehr dazu, mögliche Gesetzentwürfe inhaltlich vorzubereiten, Finanzfragen zu klären und vor allem, ein einheitliches Vorgehen der 16 Länder zu erreichen.
Die Pandemiebekämpfung ist ein gutes Beispiel für das aus Verfassungsgründen notwendige Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern: Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen gegen die Übertragung gemeingefährlicher und übertragbarer Krankheiten (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG). Die Länder hingegen sind nach dem Grundgesetz dazu verpflichtet, das vom Bund erlassene Infektionsschutzgesetz durch ihre Exekutive in eigener Zuständigkeit auszuführen (Art. 30, 84 GG). In der Praxis äußert sich dies durch die bekannten „Corona-Schutzverordnungen“ der Länder (auf der Basis der §§ 28 ff. des Infektionsschutzgesetzes).[7] Der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz der Bundestreue verlangt, dass sich der Bund und die Länder in Fragen der Pandemiebekämpfung abstimmen. Der Grundsatz wäre verletzt, wenn die Länder den Bund regelmäßig übergingen oder dieser einfach das Infektionsschutzgesetz mit möglichen hohen Folgekosten für die Länder ändern würde, ohne diese zu beteiligen. Man kann bemängeln, dass einige Länder im Detail Sonderwege beschreiten (z.B. bei der Öffnung der Schulen oder der Geschäfte) oder von Beschlüssen der Bund-Länder-Beratungen abweichen.[8]
Zuverlässige Kontrolle des staatlichen Handelns durch die rechtssprechende Gewalt
Immer wieder wird bemängelt, der Föderalismus verursache einen „Flickenteppich“ an Regelungen. Das mag im Einzelfall – auch während der SARS-CoV-2-Pandemie – stimmen. Die Effektivität staatlicher Maßnahmen wird dadurch aber in aller Regel nicht gefährdet. Beispielsweise ist der Föderalismus, den man ansonsten aus guten Gründen kritisieren kann, für Maßnahmen gegen die Pandemie kein Hemmschuh. Dazu ist die Lage zu ernst. Selbst wenn Deutschland ein Zentralstaat wie Frankreich wäre, oder ein präsidiales Notverordnungsrecht wie in der Weimarer Republik bestünde, würden die Maßnahmen hierzulande nicht anders aussehen. Sie wurden und werden in vielen Staaten Europas und der Welt ganz ähnlich getroffen, da sie zumeist wissenschaftlichen Empfehlungen folgen. Sie wurden und werden auch nicht langsamer getroffen als anderswo. Parlamentarische Regierungssysteme sind durchaus fähig, sehr schnell und effektiv zu handeln. Kein Gemeinwesen mit im Vergleich stärkerer Exekutive ist bislang nachweisbar besser durch die Krise gesteuert als die Bundesrepublik.
Zum Abschluss noch ein paar Worte zu den – zum Teil alarmartigen – Warnungen vor übermäßigen Grundrechtseingriffen. Staatliche Maßnahmen, die zu unbestimmt sind oder in unverhältnismäßiger Weise in Grundrechte eingreifen, werden in der Bundesrepublik durch die Verwaltungs- und die Verfassungsgerichte – auch während der SARS-CoV-2-Pandemie – zuverlässig kontrolliert und gegebenenfalls ganz oder teilweise aufgehoben.[9] Eine unverhältnismäßige Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten, gar über längere Zeit, ist daher nicht zu befürchten.
Die Zukunft wird zeigen, wie erfolgreich das Handeln der Bundesrepublik Deutschland zur Pandemiebekämpfung war, auch im internationalen Vergleich. Eines jedoch ist sicher: Unsere Verfassung liefert ein gutes Fundament dafür, dass die Bundesrepublik einen Weg auch durch diese schwere Krise findet, mag er auch schwieriger sein, als vielleicht zunächst gedacht. Die Voraussetzung dafür ist aber – wie immer: Diejenigen, die öffentliche Ämter und Mandate bekleiden, und diejenigen, die zur Wahl gehen, müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein und sich entsprechend verhalten. Die Demokratie ist eine anspruchsvolle – vielleicht sogar die anspruchsvollste – Staatsform. Sie verlangt viel Einsatz, verdient ihn aber auch.
Philipp Austermann war Beamter in der Verwaltung des Deutschen Bundestages und ist Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl.
[1] Die Spanische Grippe, die im Deutschen Reich 300.000 Tote forderte, war der heutigen Corona-Pandemie vergleichbar. Sie brach im Frühjahr 1918 aus, war aber in Deutschland trotz eines weitgehend planlosen Vorgehens der Behörden noch vor dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung weitestgehend überwunden. Für diesen Beitrag ist sie daher ohne Belang.
[2] Zu Brünings (weiteren) Motiven siehe Austermann, Der Weimarer Reichstag, 2020, S. 114 f.
[3] Vgl. Austermann, ebd., S. 210.
[4] Außer Frage steht, welches die schädlichste Notverordnung war: die Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen vom 20. Juli 1932 (RGBl. I S. 377). Sie entmachtete die preußische Landesregierung und schleifte damit eine wichtige demokratische Bastion.
[5] Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Staatsautorität vom 13. April 1932 (RGBl. I S. 175).
[6] Hinsichtlich der Corona-Schutzmaßnahmen hat sich in der Rechtswissenschaft eine breite Diskussion über das Verhältnis von Legislative und Exekutive entwickelt. Sie dreht sich unter anderem darum, inwieweit die Maßnahmen durch das Infektionsschutzgesetz gesetzlich gedeckt sind. Siehe z.B. Schwarz/Sairinger, Metamorphosen des Föderalismus in Krisenzeiten, NVwZ 2021, 265 ff.; Brocker, Exekutive versus parlamentarische Normsetzung in der Corona-Pandemie, NVwZ 2020, 1485 ff.; Leitmeier, Corona und „Ultra-vires: Recht an der Grenze, DÖV 2020, 645 ff.
[7] Man kann darüber streiten, ob es nicht verfassungsrechtlich geboten oder jedenfalls politisch sinnvoller wäre, wenn die Landtage den Inhalt solcher Rechtsverordnungen generell gemäß Art. 80 Abs. 4 GG als Landesgesetze beschließen würden.
[8] Ebenso kann man sich wundern, dass sich die Kritik an den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung größtenteils an den Bund, aber kaum an die Länder richtet.
[9] Näher Schenk, Die Rechtsprechung der Verwaltungs- und Verfassungsgerichte in der Corona-Pandemie – ein erster Eindruck, BayVBl. 2020, 793 ff.; Zuck/Zuck, Die Rechtsprechung des BVerfG zu Corona-Fällen NJW 2020, 2302 ff.