13. August 1961, Bau der Mauer – das beklemmende Gefühl bleibt. Ich bin Jahrgang 1951 und als achtes Kind einer katholischen Familie in Berlin (Ost) zu der „Ehre“ gekommen Patenkind von Wilhelm Pieck, dem 1. Staatspräsidenten der DDR, zu werden. Am Tag des Mauerbaus war ich zehn Jahre alt und bekam alles mit. Ich bin aufgewachsen in einer Einfamilienhaussiedlung in Berlin-Weißensee, einer gemütlichen Straße; ein kleiner Mikrokosmos, wo jeder jeden kannte und jeder auch einen Garten hatte. Am Tag des Mauerbaus und in den Tagen danach wurde in unserer Straße leise gesprochen. Die Nachbarn, und auch wir, versteckten Westzeitungen in unseren Gärten, weil wir mit Schlimmerem rechneten. Wir rechneten mit Hausdurchsuchungen und Festnahmen unter einem Vorwand, jedenfalls hatten wir eine unbestimmte Angst. Nach meiner Erinnerung, auch wenn Erinnerungen in der Regel nicht immer real sind, schwiegen sogar die Vögel in unserer an Grün reichen Gegend. Was ich mitbekam war, dass die Erwachsenen überzeugt waren: das kann nicht lange so bleiben. Meine nächste Erinnerung als Zehnjähriger ist, dass wenige Wochen nach dem Bau der Mauer vor unserer Haustür in der Dingelstädter Straße 61 ein Mann mit Schlapphut und schwarzem Ledermantel klopfte. Er sah unheimlich aus, jagte mir Angst ein, und so traute ich mich nicht nach Hause. Unsere Mutter hat mir zu dieser Zeit noch nicht viel erzählt, zumal Schweigen in der DDR geübte und lebensnotwendige Praxis war. Später fand ich heraus: Der Hintergrund des Besuches des Mannes war, dass eine meiner Schwestern zu ihrem Verlobten nach West-Berlin flüchten wollte und zu den Unglücklichen zählte, die es nicht schafften. Die Folge war: Stasi U- Haft in Hohenschönhausen und Gefängnis Rummelsburg für anderthalb Jahre.
Gesprochen wurde darüber später nie. Aber das Bild des Mannes mit Schlapphut und schwarzem Ledermantel hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Unsere Mutter kam gebürtig aus Aachen und unser Vater, der uns leider früh verlassen hat, kam aus Polen. Beide heirateten vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin und meine Mutter, die rheinische Frohnatur, konnte ja nicht wissen, dass ihr ab 1961 der Weg in die geliebte Heimat offensichtlich für immer verschlossen bleiben sollte. Das war sicherlich ein Grund dafür, dass meine Mutter spätestens mit dem 13. August 1961 ihr Urteil über die SED-Kommunisten gefällt hatte. Von uns acht Geschwistern war keiner bei den Jungen Pionieren, keiner in der Freien Deutschen Jugend und keiner in irgendeiner Partei oder Massenorganisation – die Konflikte mit staatlichen Institutionen waren vorprogrammiert. Meinen Geschwistern Doris und Helmut sagte der jeweilige Klassenlehrer: „Entweder trittst Du in die FDJ ein, oder du bekommst eine Note schlechter“. Meine Mutter, klein vom Wuchs aber mit großer Stärke, regelte das in der Schule, indem sie den Lehrern deutlich die Meinung sagte. In derartigen Situationen pflegte sie zu sagen: „Sie können mich ja einsperren, aber dann können Sie sich auch um meine Kinder kümmern.“
Nun ja, für die acht Kinder der Familie Dombrowski ein extra Kinderheim aufmachen? Das war den Damen und Herren von der SED dann wohl doch zu viel Aufwand. Da wir keinen Vater mehr hatten, hatten wir nicht viel – arm wäre falsch ausgedrückt – aber das hatten andere zu dieser Zeit auch nicht.
Mein Lehrer in der Grundschule hatte mir zweimal ein blaues Pionierhalstuch geschenkt, wohl in der Annahme, dass meine Mutter die 1,50 Mark, die diese Tücher sonst kosteten, nicht hätte. Beide Male habe ich diese Halstücher meiner Mutter übergeben, die diese ohne weitere Kommentierungen in die Schuhputzkiste packte. Zettel der örtlichen SED-Organisation, in denen zu allen möglichen Dingen aufgerufen wurde, wanderten nicht in den Papierkorb, sondern durch den Haustürschlitz gleich wieder auf die Straße. So war das mit dem stillen, machtlosen Protest. Wenn ich sieben Häuser weiter zu unserer Religionslehrerin ins Haus ging, dann hatte dies für mich immer etwas Konspiratives. Nicht, dass uns das jemand verboten hätte, aber wir wussten ja, dass dies bemerkt wurde und dass dies auch für die weitere Lebensplanung Folgen haben könnte.
Projekt „Übertritt zum jüdischen Glauben“
Da ich immer ein neugieriger Junge war fragte ich meine Mutter im Alter von 13 Jahren: „Mutti, was hast du eigentlich bei Hitler gemacht? Meine Mutter hat mir geantwortet: „Ich habe wie alle anderen am Straßenrand gestanden und gejubelt.“ Sie hat mir natürlich noch viel mehr gesagt, und sie hat mir auch gesagt, wie sehr sie sich schämt, so betrogen worden zu sein, ohne es zu merken. In der Schule haben wir viel über die Nazis gehört und viel über den heldenhaften Widerstand der sowjetischen Bürger gegen die Nazis, und was wir auch gelernt haben war, dass in den Konzentrationslagern die Widerstandskämpfer ermordet worden waren. Wovon wir in der Schule nichts erfahren haben, war der Mord an Millionen Juden. Da ich immer neugierig war, habe ich das, getrieben vom jugendlichen Forscherdrang, selbst herausgefunden. Das aktive Verschweigen dieser ungeheuerlichen Verbrechen an jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen machte mich dann mit 14 Jahren fassungslos. Mit wem sollte ich darüber reden? Ich entschloss mich – mit jugendlicher Naivität – aus Solidarität zum jüdischen Glauben überzutreten. Aber wie? Es gab ja kein Internet und keine öffentlichen Informationen über jüdisches Leben in der DDR – schwierig eben. In der Hoffnung, dort vielleicht einen „Juden“ zu treffen, bei dem ich mich erkundigen konnte, wie das gehen könnte, fuhr ich mit dem Bus 37 und der Straßenbahnlinie 4 zum Jüdischen Friedhof am Weißenseer Weg. Der Versuch schlug fehl. Weit und breit niemand, den ich hätte ansprechen können, mal abgesehen davon, dass ich nicht wusste, woran ich einen „Juden“ in der Hauptstadt der DDR erkennen könnte. Noch zwei weitere Male habe ich es versucht – wieder erfolglos und irgendwann habe ich dann dieses Thema, und mein Projekt „Übertritt zum jüdischen Glauben“, wohl aus den Augen verloren. Die Enttäuschung und Empörung jedoch halten bis heute an. Die politische Erklärung für das aktive Verschweigen des Holocaust war wohl, zumindest zu dieser Zeit, dass die DDR fest an der Seite der Palästinenser, der PLO, stand und darum der Staat Israel nicht in einer Art Opferrolle erscheinen sollte. Im Übrigen habe ich in der Grundschule lernen müssen, dass der Zionismus eine Art des Terrorismus wäre. Von Terrorismus hatte ich damals, wie von vielem anderen, nur eine leise Ahnung. Ziel war wohl das Bild zu festigen, dass Israel ein böser Staat wäre. Naja, bei mir hat es schlussendlich nicht funktioniert.
Bleib im Westen!
Ich war jedenfalls ab meinem 14. Lebensjahr mit der DDR fertig. Als einziger von 34 Schülern war ich nicht in der FDJ. Sieht schon merkwürdig aus, wenn an Staatsfeiertagen 33 Schüler mit Blauhemd in der Klasse sitzen und einer ohne. Natürlich waren die anderen keine Nachwuchskommunisten, aber sie wollten keinen Ärger. Bei der Berufswahl war klar, dass für mich nur eine Handwerksausbildung bei einem der privaten Handwerksmeister oder einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) in Frage kommen würde. In einem volkseigenen Betrieb hätte ich mich dem politischen Druck nicht entziehen können. Mein bester Freund Georg „Orje“ hatte noch acht Geschwister. Er war ein Mathe-Genie, hatte aber als er hörte, dass ich eine Malerlehre in der PGH beginnen werde, entschieden ebenfalls Maler zu werden – allerdings in einem Volkseigenen Betrieb. In der Berufsschule haben wir uns am ersten Tag natürlich nebeneinandergesetzt. Das Vergnügen wurde schon in der ersten Stunde vom Klassenlehrer beendet: Privat und PGH auf die linke und VEB auf die rechte Seite.
Eine gute Erklärung dafür gab es nicht, und mir fällt bis heute keine ein, denn gelernt haben wir ja dasselbe.
1964 wurde meine Mutter wegen ihrer zahlreichen Erkrankungen Frührentnerin. Unsere Mutter hielt Familienrat mit den verbliebenen sieben Kindern, um die Frage zu klären, ob sie, ihrem Herzen folgend, von der Besuchsreise zu ihren Geschwistern nach Westdeutschland nicht zurückkehren sollte. Hintergrund war, dass meine Mutter der Überzeugung war, aus dem Westen könne sie uns besser helfen. Alle stimmten zu. Ich, als Jüngster, hatte unter vier Augen die letzte Entscheidung und ich habe meiner Mutter gesagt: „Bleib im Westen!“ Die restlichen vier Jahre bis zu meiner Volljährigkeit habe ich dann in der Familie meiner ältesten Schwester gelebt. 1970 wurde ich zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee eingezogen. Vor der Einberufung traute sich meine Mutter erstmalig wieder in die verhasste DDR und von da an kam sie regelmäßig.
In den Jahren meiner Jugend musste mich meine älteste Schwester, die für mich das Erziehungsrecht ausübte, oft von irgendeiner Polizeiwache oder aus dem Präsidium am Alexanderplatz abholen. Natürlich immer wegen politischer Proteste – wegen des Einmarsches in der ČSSR oder wegen der Jugendproteste am 7. Oktober 1969 in der Ost-Berliner City. Bestimmt 4.000 Jugendliche liefen, inspiriert durch den Prager Frühling, mit den Rufen „Dubček, Svoboda“ (Dubček Freiheit) durch die Stadtmitte. Erst wurden die FDJler gegen uns losgeschickt, dann kam die Polizei. Gerangel gab es reichlich.
Wir wurden auf LKW der Polizei verladen. Im Polizeipräsidium waren nicht nur die Zellen, sondern auch Büros und Flure voll mit jungen Leuten. Hausdurchsuchungen waren bei uns auch nichts Besonderes. Einmal wegen Flugblättern, die wir hergestellt hatten, um gegen das gewaltsame Haareschneiden von jungen Männern auf den Polizeiwachen zu protestieren. Unvorstellbar heute, dass die Polizei junge Männer auf der Straße einfängt, um ihnen gewaltsam die Haare zu schneiden. So vieles ist mit Blick von heute unglaublich, aber wahr.
Als ich kürzlich in meinen Stasiunterlagen, immerhin 14.000 Seiten, stöberte, fand ich einen Haftbefehl des Ministeriums für Staatssicherheit von September 1969, auf dem auch der Vollzug vermerkt war. Der „Witz“ dabei, mir fällt nicht mehr ein, was der Grund war. Ich glaube so ging es vielen, weil es irgendwann, wenn die Angst weg war, auch keine große Bedeutung mehr hatte. Es war zu tun, was zu tun war.
Proteste gab es immer, aber erst mit dem Grundlagenvertrag von 1972 kamen Journalisten ins Land, die auch berichten konnten, was geschah.
„Wir haben heute besondere Gäste an Bord“
Im März 1974 erkrankte unsere Mutter in West-Berlin lebensgefährlich und alle sieben Geschwister stellten ein Besuchsreiseantrag in dringenden Familienangelegenheiten, der allerdings, wie von uns erwartet, natürlich abgelehnt wurde. Parallel dazu hatte ich, in Kenntnis der „Zuverlässigkeit“ der SED, meine Flucht organisiert, denn ich war der jüngste und als einziger der sieben Geschwister noch ledig. Ich war also nur für mich selbst verantwortlich. Dass die Flucht nun gerade in die Zeit meiner begonnenen Meisterschule fiel, war mir in diesem Moment egal. Die Flucht ging schief und endete für mich mit einer Verurteilung zu vier Jahren Gefängnis. Im Dezember 1975 wurde ich von der Bundesregierung für 96.000 DM freigekauft und ich bin stolz darauf, dass ich diese Investition „zurückgezahlt“ habe, da ich keinen einzigen Tag, seit ich im Freien Deutschland war, arbeitslos war und immer fleißig gearbeitet habe.
Die Ankunft in Berlin war überwältigend, da der PAN-AM-Pilot, der mich und fünf andere Freigekaufte, die nach Berlin wollten, an Bord hatte, uns als besondere Gäste begrüßte und die Ansage machte: “Wir haben besondere Gäste an Bord und überfliegen jetzt den Kurfürstendamm.“ Heute bin ich 70, aber, wenn ich nach so vielen Jahren an diesen Satz denke, dann werden mir noch immer die Augen feucht und mich überkommt ein Schauer. Aus der Dunkelheit der Zelle in das vorweihnachtliche, hell erleuchtete Berlin. Für mich kann ich sagen, dass die Aufnahme im freien Teil Deutschlands schöner und erfreulicher war, als ich es mir jemals erträumt hatte. Frei, alles selbst entscheiden können und müssen. Die Mitarbeiter der Behörden interessierten sich tatsächlich für mich und nahmen mich als Menschen und Bürger war; das kannte ich nicht. Ich habe die Chance bekommen einen neuen Beruf zu erlernen und ich konnte mich ohne jeden Zwang politisch engagieren. Davon habe ich dann auch Gebrauch gemacht und habe es dann sehr zügig zum Landesvorsitzenden der Jungen Union in Berlin gebracht. Beruf und Politik liefen im Grunde genommen wie von allein.
Dass man mich eingesperrt hatte, war für meine älteren Geschwister der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Nur raus hier“ war fortan ihr Devise und das war bemerkenswert, denn in der DDR hatten meine Geschwister alles, was man für Geld in der DDR bekommen konnte. Selbst ein Rennpferd auf der Trabrennbahn Karlshorst hatte eine meiner Schwestern, was durchaus auch heute etwas Besonderes ist. Aber es ging nicht mehr; die DDR war zu klein für die Familie Dombrowski, und nacheinander gingen noch vier weitere meiner älteren Geschwister für kurze oder lange Zeit in politische Haft. Aber das Ziel war klar: wir wollten rüber.
Lieber im Gefängnis als weiter so leben zu müssen
Alle haben es geschafft in den Westen zu kommen, die einen mit kürzeren Strafen, die anderen, wie ich, mit mehreren Jahren Haft. Das Bemerkenswerte ist, dass weder meine Geschwister noch ich nur einen einzigen Tag bereuen. Meine Schwester Doris, mit 3,5 Jahren Haft, wurde in einem Interview gefragt:“ Das muss doch für Sie schwer gewesen sein, dort Dinge tun zu müssen, die Sie nicht wollten?“ Die Antwort:“ Nein, wir mussten ja immer Sachen machen, die wir nicht wollten“. Dieser Teil des Interviews ist nicht gesendet worden – verständlich für uns – aber für die Zuschauer? Diese deprimierende Antwort sollte sagen: lieber im Gefängnis, als weiter so leben zu müssen.
Von uns, damals noch lebenden, sieben Geschwistern waren sechs in politischer Haft, aber keiner von uns blickt im Zorn zurück. Wir freuen uns, trotz aller Schwierigkeiten, wie sie in jedem Leben zu finden sind, und sind glücklich, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen zu können. Nicht allen ehemaligen politischen Häftlingen fällt es leicht die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ohne sie zu vergessen. Wie kann auch eine Mutter, die ihren Sohn durch Todesschüsse an der Mauer verloren hat, jemals mit dem Schicksal ausgesöhnt sein?Wenn ich an die Zeit vor meiner Verurteilung zu vier Jahren Gefängnis und an meine vielen Festnahmen und Hausdurchsuchungen zurückdenke, dann ist es nicht das, was mich traurig stimmt. Traurig stimmen mich die Geschichten und Schicksale, die ich während meiner Haft erfahren habe.
Jede einzelne Geschichte verdient es, erzählt zu werden
Ein Mithäftling aus Dresden, dem sein Vater gedroht hatte: „Wenn Du in den Westen gehst, dann schieße ich Dir eine Kugel in den Kopf“. Der Mithäftling, der an der Grenze in eine Selbstschussanlage geraten war und völlig entstellt mit drei Jahren Haft in unsere Zelle kam. Er wusste, dass er keine Chance hatte in den Westen freigekauft zu werden, da es die Selbstschussanlagen ja offiziell nicht gab. In der Toilette zerkleinerte er ein Glas und verschluckte die Scherben, weil er lieber innerlich verbluten wollte, als in der DDR weiterleben zu müssen. Der Arzt, der sich vor der Flucht mit Frau und Kindern vom Schwiegervater verabschiedete, der die Familie jedoch verriet. Der Spitzenfabrikant in meiner Zelle, der dort an einem Magendurchbruch verblutete, weil es nachts keine Hilfe gab.
Der Mithäftling, der mit einer Gruppe von jungen Männern und Frauen über die innerdeutsche Grenze flüchten wollte. Ein 16 Jahre alter Junge, der mit in der Gruppe war, trat auf eine Mine und starb. Die anderen wurden nicht nur wegen versuchtem „gewaltsamen Grenzdurchbruch“, sondern auch wegen „fahrlässiger Tötung“ verurteilt. So einfach war die Schuldfrage für die SED.
Ich könnte noch viele dieser Beispiele nennen, die alle eines gemeinsam haben: die Menschenverachtung des SED-Systems.
Mich belastet noch heute, dass ich einen vertrauten Freund nicht in meine Fluchtpläne einweihen konnte, um ihn nicht zu gefährden, und dass ich ohne Abschied in der Nacht gehen musste. Mein Freund Jörg nahm sich später das Leben. Die DDR war nicht gemacht für Menschen mit Lebensentwürfen, die von der Norm abwichen. Wenn ich sein Grab besuche, dann habe ich Schuldgefühle. Die, die Schuld auf sich geladen haben werden nicht von Schuldgefühlen geplagt. Gregor Gysi sagte Anfang des Jahres: „Die NSDAP hat Berge von Leichen hinterlassen, die SED Berge von Akten“. Kein Aufschrei, kein Widerspruch. Herr Gysi wird weiter in Talkshows eingeladen und erklärt mit zwei Halbsätzen auch die komplexesten Sachverhalte – jedenfalls scheint es so.
Für die Mutter von Chris Gueffroy ist ihr an der Berliner Mauer am 6. Februar 1989 erschossener Sohn keine Akte, sondern eine nie heilende Wunde. Die Leidens- und Lebenswege der Menschen, die nicht in die Freiheit hinein geboren wurden, sondern die ihre Freiheit erkämpft, erstritten und erlitten haben, sind so vielfältig. Jede einzelne Lebensgeschichte verdient es, erzählt und vor allem respektiert zu werden.
Ich verurteile niemanden, der sich in der DDR gut aufgehoben fühlte. Was ich verurteile, ist das Desinteresse am Leben Anderer. Desinteresse und Gleichgültigkeit sind Bausteine, die nötig sind für das Funktionieren von Diktaturen.
Am Tag des Mauerbaus, aber auch am Tag des Mauerfalls, denken viele von uns an die Menschen in der ehemaligen DDR, denen es nicht mehr vergönnt war, den Fall der Schandmauer mitzuerleben. Die krank durch die Aussicht wurden, nie mehr Freiheit zu erleben. Auch diese vielen Menschen sollten wir nicht vergessen. Die Deutsche Einheit kann und sollte uns alle glücklich und versöhnlich stimmen, denn wenn der Ruf: “Wir sind ein Volk“ stimmt, dann müssen wir akzeptieren, dass die Einen wie die Anderen und alle dazwischen dazugehören. Mit Respekt und gutem Willen wird es gelingen.
Dieter Dombrowski ist seit 2015 Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft. Von 2014 bis 2019 war er Vizepräsident des Landtages Brandenburg.