Ursächlich hierfür ist wesentlich der von autoritärem Machtinteresse geleitete Politikstil der seit 2015 regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit („Prawo i Sprawiedliwość“, kurz: PiS) unter Führung von Jarosław Kaczyński. Dieser macht sich einerseits die vielerorts greifbare gesellschaftliche Verunsicherung zunutze, die sich mit Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 beziehungsweise seit der daran anschließenden, sozioökonomisch harten Periode der Transformation bis zu einer heute noch vielfach empfundenen Rückständigkeit gegenüber dem europäischen „Westen“ eingestellt und verstetigt hat. Andererseits dient als weiterer Anknüpfungspunkt die allgegenwärtige Spaltung des Landes – in eine offene, liberal-städtische und eine wertkonservativ-ländliche Gesellschaft, in von Modernisierungsprozessen gezeichnete, alte versus flexible, anpassungsfähigere jüngere Wähler und Wählerinnen[1] sowie in einen Europa fest zugewandten, boomenden Westen Polens gegenüber dem noch immer nachholungsbedürftigen polnischen Osten.
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Die Politik der PiS verspricht die Festigung der souveränen polnischen Nation, die Verteidigung nationaler Traditionen und Werte sowie die Bekämpfung all jener „Feinde“, die daran Hand anlegen. Dies jedoch produziert keinen gesellschaftlichen Frieden, sondern zementiert die tiefe, inzwischen nahezu ausgereizte politische Polarisierung Polens in eine weltoffene, liberale Opposition und eine nationale, konservative Regierung. Der PiS ist dies willkommen, sucht sie doch das politische System, die Justiz und die Medien im Land im Sinne eines „state capture“ unwiderruflich zu übernehmen. Dies zu erreichen, bedient sich Recht und Gerechtigkeit radikal und effektiv der Instrumentalisierung gesellschaftspolitischer, vermeintlich identitätsstiftender Themen unter Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Gender, Religion, Sprache und Selbstbestimmtheit.
Eigentlicher Zweck dieser Methodik in Zeiten eines postulierten politischen Kulturkampfs (culture war) ist tatsächlich zum einen die effektive Mobilisierung der eigenen Wählerschaft in Abgrenzung zum politischen Feindlager. Zum anderen soll von politisch ungleich schwerer vermittelbaren Inhalten abgelenkt werden, beispielsweise der Reform des Gesundheitswesen, des Renten- oder des Steuersystems.
In welcher Vielfalt und Intensität die polnische Regierungspartei sich dabei identitätspolitischer Inhalte bedient, werden die nachfolgenden Schlaglichter der politischen Agenda der PiS aufzeigen. Doch vorangestellt werden soll eine allgemeine Definition von Identitätspolitik, um die Auswirkungen der PiS-Politik auf die Gesellschaft in Polen adäquat einordnen zu können.
Was macht Identitätspolitik aus?
Identitätspolitik wird vorliegend verstanden[2] als das Bemühen einer machtvollen Gruppe – die nicht notwendigerweise zahlenmäßig groß ist –, ihre Vorstellungen für die Gestaltung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse als allgemeingültig durchzusetzen, um die einzelnen Mitglieder in die vorgegebene Herrschaftslogik einzubinden. Da die in sozialen Interaktionen eingeübten beziehungsweise gewohnten Sprach- und Handlungsmuster allein keine Identität zu stiften vermögen, wird diese von den herrschenden Eliten unter Rückgriff auf in der Gesellschaft wirkmächtige Symbole, Mythen und Rituale bewusst erzeugt. Ziel ist ein auf breiter Basis gegründeter identitätspolitischer Konsens.
Der Erfolg dieser Versuche bemisst sich daran, ob und inwieweit es gelingt, dass die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft beziehungsweise Gemeinschaft die vorgegebenen Weltbilder, Werte und Normen als alternativlos und normal verinnerlichen. Die Festlegung auf für die Gruppe vermeintlich wesentliche und letztlich existenzielle Gemeinsamkeiten impliziert zugleich die Ausgrenzung von Trägern und Trägerinnen anderer Weltbilder, Werte und Handlungsweisen und die Abgrenzung von anderen Gruppen.
Migration
Eines der prägnantesten und zugleich mit Blick auf die eigene Wählerschaft wirkmächtigsten Beispiele für die Politik der PiS in diesem Kontext ist das Themenfeld Migration. Soweit es um Symbolpolitik zur Bewahrung der polnischen Sicherheit und Ordnung geht, lässt sich kaum ein auffälligeres Projekt der Regierung in Warschau finden als die Grenzbarriere zu Belarus: der 186 Kilometer lange, 5,50 Meter hohe, mit NATO-Draht verstärkte Zaun. Die umstrittene Mauer entstand als Antwort der PiS auf Tausende von Migranten und Migrantinnen, die ab Herbst 2021 aus dem Nahen Osten, Afghanistan und Afrika über Russland und Belarus an die polnische EU-Außengrenze geschleust wurden.
Anknüpfend an die erfolgreiche politische Linie der PiS ab Ende 2015, sich angesichts der Flüchtlingswelle aus Syrien über Ungarn nach Deutschland der Verteilung von Migranten und Migrantinnen innerhalb der EU nach Polen gänzlich zu verweigern, entschied man sich Ende 2021 medienwirksam und unter Verhängung einer Notstandsgesetzgebung erneut für den radikalen Weg: vorzugsweise Ängste im Land zu schüren vor einer drohenden Überfremdung der polnischen Gesellschaft. Dass mit den politischen Maßnahmen massiv gegen geltende Asylregelungen verstoßen und mit Menschenrechtskonventionen gebrochen wurde, interessierte nicht. Einzig bedeutsam war das Narrativ, allein Recht und Gerechtigkeit schütze den Fortbestand der polnischen Gesellschaft vor unregulierter Zuwanderung und Migration.
Da diese Praxis an der eigenen Basis derart positiv verfängt, formulierte Ministerpräsident Morawiecki anlässlich des sogenannten „Migrationspakts“ in Brüssel auch in diesem Sommer neuerlichen polnischen Widerstand: „Solange es die PiS-Regierung geben wird, werden wir nicht zulassen, dass uns irgendwelche Migrationsquoten, Quoten für Flüchtlinge aus Afrika, aus dem Nahen Osten, für Araber, Muslime oder wen auch immer auferlegt werden.“[3]
Gleichzeit untermauerte diese rein wahlstrategisch motivierte Position kurz darauf der Parteivorsitzende Kaczyński: Er kündigte an, die Frage der Zustimmung zu dieser „aufgezwungenen Solidarität“ am Tag der Parlamentswahl 2023 zum Gegenstand eines Referendums zu machen. Die PiS bekräftigte somit erneut ihre Haltung, das einzig wahre Bollwerk der polnischen Nation gegen externe Einflüsse zu sein.
Kirche und Religion
Von ebenso zentraler Bedeutung ist für die nationalkonservative Regierungspartei das unverzichtbare Narrativ von Polen als Bastion des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche gegen die Liberalisierungstendenzen des Westens.
Historisch gründet dies auf der polnischen Vorstellung der „Allianz von Thron und Altar“[4]. Polen ist ein stark katholisch geprägtes Land. Christliche Werte waren stets tief in der Gesellschaft verwurzelt; selbst die Solidarność-Bewegung bezog im Kampf gegen den Kommunismus ihre Stärke und ihr Vertrauen aus dem Glauben und über die Netzwerke der Institution Kirche.
Allerdings hat auch in Polen das Ansehen der römisch-katholischen Kirche im Lichte der zahlreich aufgedeckten Pädophilie-Skandale gelitten und die Menschen wenden sich aus verschiedenen Gründen massenhaft von der Institution Kirche ab. Insofern sollte man meinen, dieses Themenfeld biete keine Chancen, die Stellung der Regierungspartei im Wahlvolk zu festigen. Doch die PiS versteht sich geschickt darauf, gegenüber den weltoffenen Parteien der Opposition die tradierte Identität der Nation effektiv in Stellung zu bringen.
Besichtigt werden konnte dies am Anfang des Wahljahres im März 2023, nachdem ein TV-Bericht aufdeckte, wie Karol Wojtyła (der spätere Papst Johannes Paul II.) in seiner Zeit als Erzbischof von Krakau Priester, die der Pädophilie beschuldigt wurden, nur milde bestrafte und so Fälle vertuschte, die der Kirche hätten schaden können. Die Anschuldigungen spalteten die politische Szene in Polen tief, nicht aber die breite Öffentlichkeit und die PiS, die am positiven Bild von Papst Johannes Paul II., einer über Jahrzehnte anerkannten Figur nationaler Identifikation, Hoffnung und Freiheit, unverrückbar festhielt. Recht und Gerechtigkeit nutzte die Gelegenheit, durchchoreografiert auf sämtlichen politischen Kanälen zu reagieren: Sie sprach von dem Versuch liberaler Medien, einen „Zivilisationskrieg zu provozieren“ (Morawiecki), bestellte den US-amerikanischen Botschafter ins Außenministerium ein[5] und brachte schließlich zur „Verteidigung des guten Namens von Johannes Paul II.“ eine Resolution gegen die „schändliche Medienkampagne“ im Sejm, der wichtigsten Kammer des polnischen Parlaments, ein.
Führt man sich vor Augen, dass sich erst im vergangenen Jahr 99 Prozent der PiS-Wähler und -Wählerinnen in einer Umfrage zum polnischen Papst als wichtige moralische Autorität bekannten, lässt sich die kommunikative Wucht der Partei von Kaczyński nachvollziehen: PiS-Politiker und -Politikerinnen sind bereit, sich geschlossen und unmissverständlich jeder radikalen Rhetorik und Symbolik zu bedienen, wenn es darum geht, Inhalte (hier das Erbe des polnischen Papstes Johannes Paul II.) zu verteidigen, die im höchsten Ansehen Polens stehen und die nationale Identität betreffen.[6]
Frauenrecht und Abtreibung
Die Politik der PiS fokussiert auch zunehmend und mit denselben Maßstäben auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft und das Abtreibungsrecht. Die Partei greift hier einschneidend in den unmittelbaren privaten Lebensbereich der Bürgerinnen ein.[7]
Diese Ausrichtung ist ebenfalls eng verknüpft mit der einflussreichen Rolle der Kirche. Diese bestand schon in kommunistischer Zeit gepaart mit der Unterstützung der Solidarność auf der Achtung des christlichen Familienbildes unter Betonung der traditionellen Rollenzuschreibung der Frau. Folgerichtig rang sie nach der politischen Wende 1993 der Regierung ein restriktives Abtreibungsrecht[8] ab.
Wenn die PiS heute ihre Wähler und Wählerinnen identitätspolitisch auf einen Konsens für ein weiter religiös-katholisch geprägtes Polen einschwört, das es alternativlos gegen „westlich-säkuläre“ Einflüsse zu verteidigen gilt, so folgt sie dieser oben genannten Tradition. Die Ausflüsse dessen sind mannigfaltig. Seit 2015 bemühen sich die Nationalkonservativen, progressive Änderungen zu behindern und rückgängig zu machen und die Frau in der traditionellen Rolle der Ehefrau, Mutter und Pflegerin bedürftiger Angehöriger einzuschließen. Hier nur einige Beispiele: die Stelle des Regierungsbeauftragen für die Gleichstellung von Frauen und Männern sollte gestrichen werden; feminine Formen im polnischen Sprachgebrauch stoßen auf Widerstand und Unverständnis; weibliche Ableitungen von Berufsbezeichnungen und Funktionen werden als feministische Zumutung betrachtet; soziale Wohltaten mittels Kindergeld von 500 Złoty (im Wahlkampf 2023 inflationsbedingt als um 300 Złoty aufgestocktes Versprechen wiederaufgelegt) wurden zur Förderung traditioneller Familien eingeführt; Bildungs- und Wissenschaftsminister Czarnek bekannte offen, die allererste Aufgabe der Frau sei die Fortpflanzung: „Wenn man das erste Kind im Alter von 30 Jahren zur Welt bringt, wie viele Kinder kann man dann bekommen? Das sind die Folgen, wenn der Frau erklärt wird, dass sie nicht das machen muss, wozu sie von Gott berufen wurde[FO1] .“[9]
Im Jahr 2020 gestaltete die PiS das Verfassungstribunal um, das in der Folge das bis dahin schon – abgesehen von Malta – restriktivste Abtreibungsrecht innerhalb der EU weiter verschärfte und die Abtreibung von Föten mit unheilbaren Schäden verbot – der inzwischen negative Höhepunkt der Umsetzung dieser Politik. Seitdem sind die Frauen in Polen gezwungen, todkranke Kinder zur Welt zu bringen, was bereits zu einigen Todesfällen führte.
Doch Recht und Gerechtigkeit nimmt dies billigend in Kauf oder leugnet die Folgen dieser Gesetzgebung. Erst im Juni 2023 nahm der Parteivorsitzende Kaczyński hierzu Stellung und bekannte, das scharfe Verbot der Abtreibung sei kein Problem, da diese ja tatsächlich doch „fast in jedem Winkel in Warschau und an vielen verschiedenen Orten arrangiert werden könne und niemand [gemeint sind die liberalen Oppositionsregierungen in den großen Städten, Anm. der Verf.] dagegen vorgehe“. Todesfälle in den Geburtskliniken hingegen gebe es nicht, seien „erfunden von der Propaganda“, Teil einer „imaginären Realität“.[10]
Sexualkundeunterricht und LGBTQ
Angesichts dieser zynischen Politik der PiS, die jeden Respekt vor Frauen und deren Rechten in einer konkret lebensbedrohlichen Lage vermissen lässt, kann auch nicht die gleichfalls ultrakonservative Vorgehensweise in Sachen Sexualkundeunterricht und LGBTQ[11] verwundern.[12]
Hier sorgte Ende 2019 ein von einer konservativen zivilgesellschaftlichen Gruppe eingebrachtes Gesetzesprojekt für eine Kontroverse, über das der Sejm beraten musste, und das Sexualkundeunterricht an Schulen unter Strafe stellen sollte. Vorgeschlagen wurde, Personen, die „Geschlechtsverkehr von Minderjährigen öffentlich propagieren oder gutheißen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren“ bestraft würden, Lehrer und Lehrerinnen noch schärfer. Das Gesetz sollte Kinder und Jugendliche „vor sexueller Verderbtheit und moralischem Verfall“ schützen. Zwar kam es im Zuge öffentlicher Proteste und eines Urteils des Obersten Gerichts, demzufolge der Gesetzesentwurf nicht mit dem Bildungsauftrag der Schulen vereinbar sei, nicht zur Umsetzung. Doch die Haltung der Regierungspartei ist unverändert.
In den Worten Kaczyńskis lautet diese: „Die Idee ist, dass Kinder keinen Praktiken ausgesetzt werden sollten, die für sie schädlich sind. Ich denke dabei insbesondere an die Praxis der Sexualisierung von Kindern bereits im Vorschulalter. (…) Eltern wissen trotz bester Absichten nicht, wie sie mit den Problemen umgehen sollen, die ihre Kinder betreffen. Sexualisierung ist eine große Bedrohung, die wir stoppen müssen.“[13]
Recht und Gerechtigkeit führt somit einen offenen Kampf gegen die Liberalisierung öffentlicher Moralvorstellungen und prangert regelmäßig eine vermeintliche „Gender-Ideologie“ an, die dem christlichen Familienbild entgegenwirke, junge Menschen „sexualisiere“ und durch die Information über gleichgeschlechtliche Lebensformen, zu Homosexualität „anstifte“. Niederschlag findet dies darin, dass im Vorfeld der bevorstehenden Parlamentswahl die Angriffe führender Vertreter und Vertreterinnen der PiS auf Homo- und Transsexuelle schärfer geworden sind. Die feindselige Rhetorik nimmt zwecks Mobilisierung der eigenen Wählerinnen und Wähler zu. Und Vertreter und Vertreterinnen der LGBTQ-Szene werden von Politikern und Politikerinnen als „Abartige“,„kranke Menschen“ und „Bedrohung für die polnische Familie“ bezeichnet.[14]
Rechtsstaatlichkeit, Sprache und die Souveränität der eigenen Nation in Europa
Politische Inhalte und Narrative betreffend die Justizreform, den Deutschunterricht und generell zu Polens Stellung in der Europäischen Union sollen der Vollständigkeit halber hier ebenfalls Erwähnung finden, wenn es um das Bestreben der PiS geht, Polen als Nation nach den Vorstellungen der herrschenden Partei zu formen.
Insoweit Recht und Sprache evident den Kern der Identitätsausbildung einer Gesellschaft betreffen, scheint die regierende Partei von den Überzeugungen geleitet, dass zum einen die Judikative den Ausbau des politischen Systems so zu unterstützen habe, wie die vom Volk in Wahlen vollumfänglich legitimierte Exekutive dies beschließt, zum anderen Sprachen einer anerkannten Minderheit als nicht identitätsstiftende Form der Kommunikation keiner größeren Förderung bedürfen. Folgt man dieser Interpretation, ist nachvollziehbar, dass das mittels Besetzung durch neue Richter und Richterinnen durch die Regierung de facto eingenommene Verfassungstribunal im Oktober 2021 den Vorrang der polnischen Verfassung vor EU-Recht erklärte, ja die Regierung seit Jahren mit der EU-Kommission vehement über die Justizreform in Polen streitet. Auch wird verständlich, dass die Regierungspartei der deutschen Minderheit in Polen im Sejm eine drastische Mittelkürzung für den Deutschunterricht beibrachte.
Beides steht in Einklang mit dem von Kaczyński und Recht und Gerechtigkeit geschaffenen und stetig befeuerten Mythos, Polen werde von einer Europäischen Union dominiert und bevormundet, die in Wahrheit von Deutschland gesteuert sei und den wichtigen Nachbarn im Osten unterdrücke.
Historisch wird damit auf die versuchte Auslöschung Polens als Nation durch Nazideutschland angespielt (weshalb das Thema der Reparationsforderungen an Deutschland politisch und vor allem medial in den von der Regierung kontrollierten polnischen Staatsmedien seit Jahren wirkmächtig hochgehalten wird). Und ihren realen Widerhall findet die PiS-Erzählung faktisch auch in dem polenweit verbreiteten Empfinden, der Nachbar im Westen würde Polen nicht als Partner auf Augenhöhe behandeln.
In der Konsequenz mündet dieses immer und immer wieder präsentierte Narrativ der Regierungspartei in Statements wie dem, welches Ministerpräsident Morawiecki in seiner Heidelberger Grundsatzrede am 20. März 2023 gab: „Wir brauchen ein Europa, das durch seine Nationalstaaten stark ist, und nicht eines, das auf deren Ruinen gebaut ist“. Und er fügte hinzu, es sei ein Irrweg, einen europäischen Superstaat anzustreben, wie dies manche Bürokraten und Bürokratinnen in Brüssel wollten.[15]
Abschlussbetrachtung
Die Zusammenschau der zahlreichen Themenfelder, in denen die PiS mit identitätspolitischen Inhalten reüssiert, verdeutlicht, dass die Regierungspartei gezielt, umfassend und radikal darauf dringt, Polen in einer ausschließlich national-konservativ verstandenen Verfasstheit zu gestalten. Vollzogen wird dies inhaltlich in Form einer Politik, die das eigene Elektorat in ihrer Empfindung und Lebenswirklichkeit (Religion, Familie, Schule) unmittelbar persönlich anfasst sowie mit Blick auf die starke sozioökonomische Verunsicherung mittels Abgrenzung beziehungsweise Abschottung gegenüber allen liberal-demokratischen, weltoffenen, fremden, als „hegemonial“ gebrandmarkten Einflüssen operiert. Dabei geriert sich die PiS als alleinige Bewahrerin national lange tradierter Werte. Postuliert wird die Bedrohung durch den säkularisierten und (in Folge einer Jahrzehnte währenden historischen Teilung des Kontinents) ökonomisch überlegenen Westen, der die eigene Identität der polnischen Nation nicht anerkennt, nicht achtet, nicht würdigt. Tatsächlich aber dient die Politik der PiS der Verfestigung der gesellschaftlichen wie staatlichen Machtstellung und weiteren Durchsetzungsfähigkeit der Partei, das politische System Polens entlang eigener Vorstellungen nachhaltig autoritär ausbauen zu können – koste es, was es wolle.
Nachweise und Quellen
[1] Gemeint ist hier die Gruppe im mittleren Alter ab 29 Jahre. Noch jüngere Wähler und Wählerinnen tendieren mittlerweile stark dazu, aus Enttäuschung und Protest Parteien abseits des sogenannten „Duopols“ aus PiS (konservativ-national) und PO (liberal-weltoffen) zu unterstützen.
[2] Siehe: „Identitätspolitik“, Glossar der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/504279/identitaetspolitik/ (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[3] „Polen will Migrationsquoten nicht zulassen“. In: ZDF.de, 09.06.2023. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/eu-asyl-kompromiss-polen-ablehnung-100.html (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[4] Vgl. Dominika Kozłowska (2022), Ist Polen (noch) ein christliches Land? in: DPI (Hrsg.): Jahrbuch Polen 2022. Widersprüche, S. 53ff.
[5] Ursache hierfür: Der den Bericht ausstrahlende Sender TVN 24 finanziert sich u. a. mit US-amerikanischer Hilfe.
[6] Dies und mehr zum Thema in: David Gregosz/Thomas Behrens (2023): Vier weitere Jahre „Recht und Gerechtigkeit?“, KAS-Länderbericht vom 06.04.2023. https://www.kas.de/de/web/polen/laenderberichte/detail/-/content/vier-weitere-jahre-recht-und-gerechtigkeit (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[7] Vgl. Ewa Wanat (2023), Frauen in Polen zwischen Rechtskonservatismus und Feminismus, in: DPI (Hrsg.): Polen-Analyse Nr. 307 vom 07.03.2023. https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/307/frauen-in-polen-zwischen-rechtskonservatismus-und-feminismus/ (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[8] Inhalt damals, im Jahr 1993: Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen erlaubt – bei Vergewaltigung, Bedrohung des Lebens und der Gesundheit der Mutter und unheilbaren Schäden des Fötus.
[9] Ewa Wanat (2023), Frauen in Polen zwischen Rechtskonservatismus und Feminismus, in: DPI (Hrsg.): Polen-Analyse Nr. 307 vom 07.03.2023. https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/307/frauen-in-polen-zwischen-rechtskonservatismus-und-feminismus/ (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[10] Michał Szułdrzyński (2023), „Co Jarosław Kaczyński naprawdę myśli o aborcji“ / dt.: Was Jarosław Kaczyński wirklich über Abtreibung denkt, in: Rzeczpospolita-Online, vom 27.06.2023. https://www.rp.pl/komentarze/art38663101-michal-szuldrzynski-co-jaroslaw-kaczynski-naprawde-mysli-o-aborcji (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[11] Siehe dazu auch den Beitrag in dieser Veröffentlichung von Dana Fennert: Geschlecht und Identität.
[12] Vgl. hierzu: Dorothea Traupe (2020): GBT-Rechte, Gender und Sexualmoral in Polen, in DPI (Hrsg.): Polen in der Schule, Darmstadt 2020. https://www.poleninderschule.de/arbeitsblaetter/gesellschaft/lgbt-rechte-gender-und-sexualmoral-in-polen/ (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[13] Schützen wir die Kinder, unterstützen wir die Eltern (pis.org.pl).
[14] „Zehntausende bei Pride-Parade in Warschau“, in: FAZ.de, 17.06.2023. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/zehntausende-ziehen-bei-pride-parade-durch-warschau-18971698.html (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).
[15] „Polens Regierungschef warnt vor zu viel Europa“. In: Spiegel.de, 20.03.2023. https://www.spiegel.de/ausland/polen-mateusz-morawiecki-warnt-in-heidelberg-vor-zu-viel-europa-a-87bb9176-0dd4-49e9-b2bb-cddef37b1f6f (zuletzt aufgerufen: 10.09.2023).