Im Frühjahr 2024 standen in Moskau zehntausende Menschen Schlange, um Panzer zu bestaunen. Anlässlich der Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai wurden der Öffentlichkeit Fahrzeuge und Waffen vorgeführt, die russische Truppen in der Ukraine erbeutet hatten. Die Höhepunkte dieser auch international viel beachteten Inszenierung stellten westliche Waffensysteme dar; so etwa ein deutscher Leopard 2-Panzer oder ein M1 Abrams-Panzer US-amerikanischer Herkunft. Die Botschaft der martialischen Schau mit dem Titel „Geschichte wiederholt sich. Unser Sieg ist unausweichlich“ fügte sich nahtlos in die seit Jahren von der Kreml-Propaganda wiederholte Erzählung ein, Russland habe sich gegen die Aggression des kollektiven Westens zu verteidigen und werde aus diesem Kampf schlussendlich siegreich hervorgehen. Zugleich unterstrich die Exposition die angebliche Kontinuität zwischen den vergangenen Siegen des Zweiten Weltkriegs und einer Gegenwart, in der Russland erneut einen Existenzkampf gegen den „Faschismus“ führen müsse.
Diese Behauptungen sind zentral für die ideologische Legitimation der russischen Staatsdoktrin, wie sie unter Wladimir Putin popularisiert und politisch relevant wurde. Sie basiert auf der Prämisse, dass Russland eine „Großmacht“ sei und damit das Recht habe, auch jenseits der eigenen Grenzen als imperiale Ordnungsmacht zu agieren.
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Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Februar 2022, als der russische Präsident entschied, den seit 2014 andauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine zu entgrenzen. Die Eskalation auf den Schlachtfeldern, die Angriffe gegen die ukrainische Bevölkerung sowie die Zerstörung ziviler Infrastrukturen sind sichtbarer Ausdruck einer neo-imperialen Hybris, die offensiv eingesetzte militärische Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen begreift. Mehr noch: Unverhohlen wird in der Öffentlichkeit die vermeintliche Überlegenheit der „russischen Zivilisation“ beschworen, die sich in einer fundamentalen Auseinandersetzung mit dem „dekadenten Westen“ befinde.
Das Denken in solchen Kategorien befördert die Transformation Russlands in einen Kriegsstaat. Politisches System, Militär und Volkswirtschaft wurden und werden darauf ausgerichtet, den Krieg auf Dauer zu stellen. Weite Teile der russischen Gesellschaft akzeptieren – mehr oder minder bereitwillig – nicht nur die damit verknüpften Heldenerzählungen, sondern auch die damit verbundenen Kosten und Herausforderungen.
Kontinuitäten mit dem sowjetischen Militärstaat
Die umfassende Ausrichtung auf den „ewigen Krieg“ gehorcht in vielfacher Hinsicht den ökonomischen und militärischen Zwängen des von Russland entfesselten Krieges gegen die Ukraine. Doch die Voraussetzungen dafür wurden in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen bzw. stehen zumindest teilweise in einer Kontinuität mit sowjetischen Vorläufern. Neben der radikalen Opposition zum Westen, die sich wesentlich aus der von vielen Russen geteilten Wahrnehmung einer vermeintlichen „Demütigung“ speist, sind hier vor allem drei Aspekte von besonderer Relevanz:
Erstens war die Sowjetunion Zeit ihres Bestehens ein militarisierter Staat, dessen Ökonomie in wesentlichen Teilen darauf ausgerichtet war, Krieg führen zu können. Die Sorge vor einem möglichen „großen“ Krieg beherrschte das Denken der sowjetischen Führer und diktierte ihr Handeln in erheblichem Maße. Zugleich prägte der Militärstaat des Kalten Krieges auch die Weltsicht des damaligen KGB-Offiziers Wladimir Putin und vieler seiner späteren Berater. Den Zerfall des roten Imperiums im Jahr 1991, jene „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie es Wladimir Putin in einem oft wiederholten Zitat formulierte, vermochten die sowjetischen Waffen indes nicht zu verhindern.
Zweitens verband sich mit der Priorisierung des Militärischen auch die jahrzehntelange Gewöhnung der russischen Gesellschaft an innere und äußere Kriege als „normale“ Instrumente der Kremlpolitik. Immer wieder lösten Führer von Breschnew bis Putin Kriege aus oder intervenierten mit militärischen Mitteln in bestehenden Konflikten. Seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 bis in die Gegenwart des Frühsommers 2024 waren die Sowjetunion bzw. die Russländische Föderation in zahlreiche Kriege involviert – explizite Friedensjahre gab es in diesen viereinhalb Jahrzehnten nur wenige und seit 2014 führt Russland permanent Krieg. Eine Aufzählung der wichtigsten Ereigniszusammenhänge vermittelt einen Eindruck von der Allgegenwart des Krieges: Von 1979 bis 1989 dauerte der verhängnisvolle Afghanistankrieg an, der erheblich zur Delegitimierung des sowjetischen Systems beitrug. 1991 befahl Michail Gorbatschow den Einsatz sowjetischer Truppen in Litauen. In die Präsidentschaft Boris Jelzins fielen der Einsatz der Armee während der Verfassungskrise 1993 und insbesondere der desaströse erste Tschetschenienkrieg (1994–1996). Der eigentliche Kriegspräsident ist indes Wladimir Putin: Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) trug er bereits die Verantwortung und als 2008 russische Truppen in Georgien intervenierten, war Dmitri Medwedew lediglich formal an seine Stelle getreten. Ab 2015 griff Russland in den Bürgerkrieg in Syrien ein, russische Söldner und Kämpfer sind aktiv in afrikanischen Bürgerkriegen. Vor allem aber führt Russland seit 2014 permanent Krieg gegen die Ukraine. Die massive Ausweitung dieses Angriffskriegs seit dem Februar 2022 markiert den dramatischen Höhepunkt einer aggressiven russischen Kriegspolitik, deren Ende derzeit nicht abzusehen ist.
Drittens wurde Putins Obsession mit einstiger „imperialer Größe“ in vielerlei Hinsicht zur Richtschnur politischen Handelns in der Gegenwart. Der Kremlherrscher leitet aus seiner beinahe manischen Beschäftigung mit der russländischen bzw. sowjetischen Geschichte weitreichende machtpolitische und territoriale Ansprüche ab. So gehört etwa das Narrativ von der historischen Einheit von Russen und Ukrainern zum traditionellen Kernbestand russisch-imperialer Geschichtsauffassungen, doch seit Beginn der dritten Amtszeit Putins im Jahr 2012 wurde es für eine zunehmend aggressive Geschichtspolitik instrumentalisiert. Die Ukraine sei, so hieß es etwa in seinem im Sommer 2021 veröffentlichten Text „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“, keine eigenständige Nation und könne „wahre Souveränität“ nur in enger Partnerschaft mit Russland erlangen. Diese vielbeachtete Einlassung wurde von zahlreichen Beobachtern als unzweideutige Drohung begriffen und muss als programmatisch-ideologische Begründung des gegenwärtigen Krieges verstanden werden.
Allmählicher Wandel zur Diktatur
Diese Allgegenwart des Krieges sowie das Denken in imperialen Kategorien sind zentral für ein Verständnis des Systems Putin, wie es heute existiert. Seit einem Vierteljahrhundert ist er es, der Krieg und militärische Gewalt immer wieder als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ einsetzt – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich mit dem Verweis auf (vermeintliche) äußere Bedrohungen Herrschaftsansprüche im Inneren leichter durchsetzen ließen. All dies bedeutet nicht, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine unausweichlich war oder über Jahrzehnte systematisch geplant war, aber – und das ist der entscheidende Punkt – der massive Einsatz militärischer Gewalt ist für Russland unter Putin zur selbstverständlichen Option geworden.
Dass es so kam, hing ganz wesentlich mit dem systematischen und umfassenden Ausbau der Machtvertikale zusammen, die in den vergangenen Jahren eine autokratische Ordnung mit diktatorischen Zügen entstehen ließ, die vollkommen auf die Person Wladimir Putins ausgerichtet ist. Diese Transformation des russischen politischen Systems vollzog sich in einem langen Prozess, der von der Präsidialdemokratie der 1990er Jahre über die autokratische Ordnung der 2000er Jahre bis hin zur de facto Diktatur der Gegenwart reicht. Mehrere Zäsuren zeichnen sich dabei ab. So unterschieden sich die vergleichsweise liberalen 1990er Jahre unter Boris Jelzin deutlich von der zunehmend autoritärer werdenden Herrschaft Putins ab 1999. Die ersten postsowjetischen Jahre waren in Russland einerseits durch Demokratisierungsbemühungen sowie eine plurale Medienlandschaft und andererseits durch dramatische wirtschaftliche Krisen und einen weitgehend ungezügelten „Raubtierkapitalismus“ gekennzeichnet. Eine solche Perspektive übersieht freilich, dass die Grundlagen für die Aushöhlung der russischen Demokratie und die Stärkung der Machtvertikale bereits in der umstrittenen Verfassung von 1993 angelegt waren, die dem Präsidenten weitreichende Vollmachten einräumten. Doch im Gegensatz zu seinem ambitionierten Nachfolger vermochte der kränkelnde Boris Jelzin diese umfassenden Kompetenzen nur begrenzt einzusetzen.
Mit dem Amtsantritt des energischen Geheimdienstmannes Putin zu Beginn des neuen Jahrtausends wurden binnen kurzer Zeit mehrere Veränderungen offenkundig. Er konsolidierte die Macht des föderalen Zentrums, brachte die wichtigsten Medien zunehmend unter staatliche Kontrolle und schränkte politische Partizipationsmöglichkeiten sukzessive ein. Vor allem aber gelang es dank steigender Rohstoffpreise, die ökonomische Situation spürbar zu stabilisieren. Das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre wird daher häufig als eine Zeit eines unausgesprochenen „Sozialvertrags“ bezeichnet, der darauf beruhte, dass die Bevölkerung im Gegenzug für das Versprechen bescheidenen Wohlstands und sozialer Stabilität keine Erwartungen auf ernsthaften politischen Wandel artikulierte.
Illusion eines westlichen Entwicklungspfads
Auf internationaler Ebene wuchs die Hoffnung, dass Russland ein berechenbarer Teil der Weltordnung des 21. Jahrhunderts sein werde – und seinen Beitrag dazu im Wesentlichen in Form von verlässlichen Gas- und Öllieferungen leisten würde. In jenem Maße, in dem die Abhängigkeit Westeuropas und insbesondere Deutschlands von russischen Rohstoffexporten wuchs, stieg hier indes zugleich die Bereitschaft, die Augen vor der stetig repressiver werdenden Politik im Inneren Russlands zu verschließen.
Die Reden von „Modernisierungspartnerschaft“ und „Wandel durch Handel“ konnten jedoch nur notdürftig überdecken, dass Russland keineswegs dabei war, einen „westlichen“ Entwicklungspfad einzuschlagen: Denn das System Putin basierte von Anfang stets auch auf dem massiven Einsatz von Gewalt und der Bedrohung Andersdenkender. Das brutale Agieren russischer Einheiten in Tschetschenien ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Morde an der Journalistin Anna Politkowskaja, dem ehemaligen KGB-Agenten Alexander Litwinenko (beide 2006) oder an dem Wirtschaftsprüfer Sergei Magnitski (2009). Es war offensichtlich, dass im Staate Putins abweichende Meinungen und Opposition allenfalls innerhalb klar umrissener Grenzen zulässig waren.
Endgültig sichtbar wurde der Umschlag hin zu einer deutlich repressiveren Politik im Winter 2011/12, als es in Moskau und anderen größeren Städten zu erheblichen Protesten gegen Fälschungen bei den Wahlen zur Duma kam, deren Ausmaß und Intensität die Machtelite überraschten. Für kurze Zeit schien es sogar möglich, dass die Wiederwahl Putins zum Präsidenten in Gefahr geraten könnte. In dieser krisenhaften Situation entschied sich die Administration dagegen, den Protestierenden entgegenzukommen. Vielmehr reagierte der Staatsapparat mit großer Härte und setzte zunehmend auf Repressionen. Seitdem wird der Spielraum für politische Opposition, unabhängige Medien oder Nichtregierungsorganisationen immer geringer.
Dazu trugen auch die Erfolge der „Farbenrevolutionen“ in mehreren postsowjetischen Staaten bei, die Putin und seinen Getreuen zweierlei verdeutlichten: Einerseits wurde der russische Einfluss in den Nachbarstaaten nicht mehr unwidersprochen hingenommen und andererseits wuchs im Kreml die Befürchtung, dass es auch in Moskau zur Revolution kommen könnte. Der Euromaidan in der Ukraine im Winter 2013/14, der zum Sturz des Präsidenten Wiktor Janukowitsch führte, löste deshalb massive russische Reaktionen aus. Die Ereignisse in Kyiv seien, so hieß es, aus dem Westen gesteuert und es sei nun notwendig, die eigenen „Landsleute“ zu schützen und zu ihren Gunsten zu intervenieren. Es folgten die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel Krym im März 2014 sowie die massive Unterstützung der Separatistengebiete im Osten der Ukraine.
Ausbau militärischer Gewalt seit 2012
Seit 2012 hat sich das politische System Russlands stark verändert: Eine nennenswerte Opposition existiert nicht mehr, weil ihre führenden Köpfe entweder ermordet wurden (beispielsweise Boris Nemzow im Jahr 2015), zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden oder das Land verließen. Zugleich ist es für kritische Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Medien praktisch unmöglich geworden, sich legal zu betätigen. Die Gesetze, mit denen unliebsame gesellschaftliche Organisationen (seit 2012) beziehungsweise Privatpersonen (seit 2020) als „ausländische Agenten“ registriert wurden, erzeugten ebenso ein Klima der Angst wie das harte Durchgreifen der Sicherheitsbehörden bei Demonstrationen und Meetings der Opposition. Der Verfolgungsdruck des Staates erstreckt sich mittlerweile praktisch auf alle Bereiche des gesellschaftlich-politischen Lebens, wie etwa LGBTQ-Aktivisten oder die international renommierte Menschenrechtsorganisation „Memorial“.
Die Eskalation des russisch-ukrainischen Krieges im Jahr 2022 verschärfte die Situation noch einmal deutlich: Im Kriegsstaat Russland wird nun jegliche Kritik an der „militärischen Spezialoperation“ unnachgiebig verfolgt und die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Menschen wächst kontinuierlich. Hunderttausende verließen das Land, weil sie sich der Atmosphäre der Angst und Bedrückung entziehen, oder – wie im Herbst 2022 – der Mobilisierung entgehen wollten. Die öffentlichen Manifestationen anlässlich des unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommenen Kremlkritikers Alexej Nawalny im Februar 2024 werden vermutlich für lange Zeit die letzten Demonstrationen einer kritischen Öffentlichkeit bleiben, deren Vernetzungs- und Organisationsmöglichkeiten systematisch ausgehöhlt und überwacht werden.
Im Frühsommer 2024 scheint das System Putins gefestigt und stabil. Eine nennenswerte politische Opposition innerhalb Russlands existiert derzeit nicht. Trotz beispielloser Sanktionen des Westens floriert die russische (Kriegs-)wirtschaft, weil China und andere Staaten des Globalen Südens russische Rohstoffe abnehmen und Devisen ins Land bringen. Auch wenn ein durchschlagender militärischer Erfolg der russischen Armee nicht unmittelbar bevorzustehen scheint, sind die Aussichten für Russland im Krieg besser denn je. Eine „Palastrevolte“ gegen Putin zeichnet sich gleichfalls nicht ab – wobei es Kennzeichen solcher Coups ist, dass sie überraschend und unerwartet kommen. Land und Eliten scheinen den „langen Krieg“ zu akzeptieren. Der andauernde Krieg aber stellt die Grundlage für den Fortbestand von Putins Herrschaft dar. Veränderungen im politischen System Russlands – wie auch immer sie aussehen mögen – wird es daher wohl erst dann geben können, wenn die Kosten des Krieges aus Sicht des Kremls seinen möglichen Nutzen übersteigen.
Robert Kindler ist seit 2022 Professor für die Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.