Kontroverses Signum zwischen Geschichte und Gegenwart
Vor rund anderthalb Jahrzehnten veröffentlichte der britische Historiker Tony Judt 2010 sein leidenschaftliches Plädoyer gegen ein Vergessen des 20. Jahrhunderts – eines Säkulums der radikalen Verwerfungen, immenser Gewalt und totalitärer Herrschaftsausübung. Ihn besorgte die in seinen Augen fehlgeleitete Annahme, wir wären nun vor solchen Abgründen gefeit und müssten nicht mit Rückfällen in derart düstere Geschichtsperioden rechnen. Wer vom unumkehrbaren Sieg der Demokratie träume, befinde sich auf dem Holzweg, mahnte Judt eindringlich. In der Tat mag kaum noch jemand vom einst viel beschworenen liberaldemokratisch erleuchteten „Ende der Geschichte“ sprechen. Vom Glauben an solche Glückseligkeit hat sich das 21. Jahrhundert mittlerweile deutlich entfernt. Das lässt sich auch an den gewandelten Stichworten einer Zeitdiagnostik ablesen, die von absterbenden Demokratien und einer Verlockung des Autoritären künden.
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Von dieser Warte aus muss es fast wehmütig-nostalgisch stimmen, auf das erste Jahrzehnt nach dem Untergang der Sowjetunion zurückzublicken, als für viele unwiederbringlich das Ende des Totalitarismus besiegelt schien. Mit dem – vermeintlichen – Abschied vom Phänomen selbst ging damals eine Renaissance der Totalitarismusforschung einher, die nun weniger kontrovers und akzeptierter erschien als in früheren Jahrzehnten. Bis zu diesem Zeitpunkt oszillierte die Totalitarismusdebatte, insbesondere der Vergleich zwischen „braunen“ und „roten“ Diktaturen, stets zwischen den Polen einer politischen, normativ-wertenden und einer wissenschaftlichen, empirisch-analytischen Position. Beide Sphären hatten sich in Wirklichkeit noch nie klar voneinander scheiden lassen. Den Anhängern des Totalitarismusmodells wurde gelegentlich unterstellt, sich eigentlich in Kommunistenjagd zu üben, ihren Gegnern dagegen, selbst mit totalitären (zumeist: sozialistisch-kommunistischen) Weltbildern zu liebäugeln. Dieser unglücklich zu nennende Zustand einer Übertragung des Kalten Krieges auf die Wissenschaft darf seit der Zeitenwende von 1989 ff. als überwunden gelten.
Von einem Vergleichsverbot zwischen „linken“, „rechten“ oder andersartigen Diktaturformen kann mittlerweile kaum mehr die Rede sein. Dabei ist die grundlegende Tatsache entscheidend, dass vergleichen nicht gleichsetzen heißt, sondern auf die Herausarbeitung von Parallelen ebenso wie Unterschieden zielt. Schon seit Längerem hat es sich durchgesetzt, die beiden Großtotalitarismen und verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus und des Stalinismus miteinander zu vergleichen. Auf mehr Skepsis trifft die Gegenüberstellung von NS- und SED-Staat, sind in diesem Fall doch gravierende Unterschiede augenfällig. Die DDR hat keinen Genozid begangen und keinen Krieg begonnen, außerdem ist sie aus einer Besatzungsdiktatur hervorgegangen und konnte bei Weitem nicht das Ausmaß einer quasi-plebiszitären Unterstützung durch die Bevölkerung erreichen, wie es dem Nationalsozialismus gelungen war. Und doch lassen sich mit dem Instrumentarium des Totalitarismusansatzes auch Ähnlichkeiten zwischen beiden Regimes herausstellen, etwa der Monopolanspruch einer Partei, eine mit Terrormethoden arbeitende Geheimpolizei oder der Versuch einer totalen Einbindung der Bevölkerung in die Strukturen und ideologischen Vorgaben von Staat und Partei.
Das sind Fragen einer Historiographie, die verschiedene Totalitarismusmodelle – denn das eine gültige gibt es nicht – neben anderen Varianten des Diktaturvergleichs in empirischer Absicht anwendet. Mittlerweile haben indes nach einer posttotalitären Blüte der Totalitarismusforschung in historisierender Anwendung die Zweifel zugenommen, ob totalitäre Ideologie und Herrschaft wirklich nur einer vergangenen, überwunden geglaubten Epoche angehören. Nicht zuletzt angesichts eines gleich theokratischen wie terroristischen Islamismus (ob im Iran des Mullah-Regimes oder im Afghanistan der Taliban) und autoritär-repressiver Führerstaaten in Russland, China oder Nordkorea zeichnet sich immer deutlicher ab, dass „Totalitarismus“ nicht unumwunden als Phänomen des 20. Jahrhunderts verabschiedet werden kann. Während sich mithin eine Renaissance des Totalitarismus in der Realität unserer Gegenwart abzeichnet, hat die Dominanz des Begriffs innerhalb der (vergleichenden) Diktaturforschung, die weitere alternative Ordnungsbegriffe bereithält, wieder abgenommen.
Frühe Totalitarismusansätze aus eigener Erfahrungswelt
Es gehört zu den langlebigen Legenden, den Totalitarismusansatz auf einen Kampfbegriff des Kalten Krieges zu reduzieren. Zwar wurde der Terminus im Systemwettbewerb des Ost-West-Konflikts durchaus politisch instrumentalisiert, seine Geschichte reicht aber weiter zurück und über die eng geführte, antikommunistisch gefärbte Propagandaformel deutlich hinaus. Die ideengeschichtlichen Wurzeln liegen im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die erste explizite Erwähnung eines „sistema totalitario“ findet sich im Italien der 1920er Jahre. Der liberale Journalist und Politiker Giovanni Amendola verwandte den Terminus 1923, um den an die Macht gelangten italienischen Faschismus zu charakterisieren. Luigi Sturzo, ein christlicher Priester und Politiker, verwandte diese Begrifflichkeit ebenfalls bereits ab 1922. Wie Amendola (der 1926 an den Folgen eines faschistischen Attentats starb) war Sturzo ein energischer Gegner Mussolinis. Vom Exil aus entwickelte er den Totalitarimusbegriff ständig fort. Er systematisierte ihn und legte ihn, ergänzt um den deutschen Nationalsozialismus wie den sowjetischen Bolschewismus als Untersuchungsobjekte, vergleichend an. Sturzo darf als wesentlicher Schöpfer des Totalitarismuskonzepts gelten.
Ab den 1930er Jahren leisteten zudem mehrere deutsche Emigranten einen Beitrag zur Entwicklung der Totalitarismustheorie, die sie gleichsam vom alten auf den neuen Kontinent transferierten. Zu den herausragenden, lange wenig beachteten Protagonisten dieses Ansatzes zählten u. a. Franz Borkenau und Sigmund Neumann. Sie waren eigensinnig-originelle Intellektuelle, die bald nach Hitlers Machtübernahme mit dem Tode bedroht und zur Flucht gezwungen worden waren. Ebenfalls sorgenvoll blickten sie auf den kommunistischen Terror unter Stalins Herrschaft.
Angesichts des massiven Terrors, den sie persönlich erlebt hatten, setzten diese Autoren sich frühzeitig mit den Auswüchsen totalitärer Herrschaft auseinander. In der Debatte nach 1945 fanden sie allerdings nicht die ihnen gebührende Beachtung. Borkenau verglich in seinem 1940 in London publizierten Buch The Totalitarian Enemy, das sich gut in die fatale Phase des Hitler-Stalin-Pakts fügte, Nationalsozialismus und Bolschewismus miteinander. Sigmund Neumann legte sein Hauptwerk über den Totalitarismus unter dem Titel Permanent Revolution 1942 ebenfalls im Exil vor. Im Gegensatz zum Behemoth seines Namensvetters Franz L. Neumann oder zu Hannah Arendts Opus The Origins of Totalitarianism ist das Werk Sigmund Neumanns weitgehend vernachlässigt worden. Eine deutsche Übersetzung ließ lange Zeit auf sich warten und erschien erst im Jahr 2013. Eine der wichtigsten Leistungen Neumanns war sein sorgfältiger historischer Vergleich der diktatorischen Regime in Italien, Deutschland und Russland. Er ordnete sie demselben Typus zu, einem Regimetypus, der eine Revolution – verstanden als Ausnahmezustand einschließlich Terror – perpetuierte und institutionalisierte. Mit der Terrorthese nahm er im Übrigen jene Grundkategorie totalitärer Herrschaft vorweg, die erst rund zehn Jahre später durch Hannah Arendt populär wurde.
Es gilt, an solche herausragenden Intellektuellen zu erinnern, die schon als Zeitgenossen eine ebenso feine wie zutreffende Diagnostik für Diktaturen in gleich analytischer wie kritischer Absicht entwickelt hatten. Andererseits sind auch Figuren wie die Juristen Carl Schmitt und Ernst Forsthoff zu erwähnen, die in affirmativer Weise über den „totalen Staat“ schwadronierten und dem Nationalsozialismus geistige Zuträgerdienste leisteten. Auch der Kommunismus fand, selbst in seiner rigoros-gewalttätigen Frühphase, unter Linksintellektuellen berauschte Anhänger. Der liberalkonservative französische Totalitarismuskritiker Raymond Aron sollte vor diesem Hintergrund später vor dem Marxismus als dem „Opium der Intellektuellen“ und allgemein vor der quasireligiösen Anziehungskraft totalitärer Ideologien warnen. Ralf Dahrendorf, der große deutsch-britische liberale Autor, zog in ähnlicher Weise eine ernüchternde intellektuellengeschichtliche Bilanz gegenüber rechts- wie linkstotalitären Bewegungen, von denen beachtliche „Versuchungen der Unfreiheit“ ausgegangen seien. Insgesamt bleibt ein ambivalentes Bild: Intellektuelle erlagen einerseits antidemokratischen Verlockungen innerweltlicher Heilsverkünder, andererseits wurden manche unter ihnen angesichts der selbst erfahrenen totalitären Bedrohung zu antitotalitären Vorkämpfern, die darüber hinaus vom eigenen Schicksal abstrahierende, analytisch tragfähige totalitarismustheoretische Erklärungsmodelle entwarfen.
Prominente Totalitarismusdeutungen
Rezeptionsgeschichtlich kam diesen Avantgardisten der Totalitarismusinterpretation nicht der Rang zu, den sie verdient hätten. Immerhin ist aber ihre Bedeutung innerhalb der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts – auch und zumal bei der Herausbildung und Bewahrung eines liberaldemokratischen Gegenmodells in der Krisenperiode der Zwischenkriegszeit – erkannt worden. Sie eröffneten den Reigen einer Vielzahl von Totalitarismusansätzen, zu deren bekanntesten und einflussreichsten Varianten mit „Klassiker“-Status bis heute das ideengeschichtlich-philosophisch ausgerichtete Werk Hannah Arendts und der herrschaftsstrukturell geprägte Zugang von Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzeziński zählen.
Arendt hob in ihrem 1951 erschienenen Werk The Origins of Totalitarianism den völlig neuartigen Charakter des totalitären Herrschaftstyps hervor. Die Philosophin würdigte eingehend die ältere Staatsformenlehre, um den Totalitarismus von den bisher bekannten Formen politischer Unterdrückung wie Diktatur, Despotie und Tyrannei abzugrenzen. Totalitäre Herrschaft reiche über eine Zerstörung des politisch-öffentlichen Raums hinaus und erweise sich insofern als „wahrhaft total“, als sie das „privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors“ spanne. Für Arendt lag im Terror das Wesen und das „Gesetz“ totalitärer Herrschaft. Im Mittelpunkt ihres Modells stand zudem eine Unbedingtheit fordernde Ideologie, die „objektive Gegner“ definierte, die sich unabhängig von ihren subjektiven Einstellungen und Verhaltensweisen dem Terror und Vernichtungsstreben des totalitären Regimes nicht entziehen konnten. Konzentrationslager zählte Arendt zum spezifischen Ort totaler Herrschaft: Sie dienten „nicht nur der Ausrottung und Erniedrigung der Individuen“, sondern zielten auch darauf ab, die Natur des Menschen an sich zu verändern, jegliche „Spontaneität“ zu ersticken und ihn „in ein Ding zu verwandeln“.
Der bereits Mitte der 1920er Jahre nach Amerika übergesiedelte Carl Joachim Friedrich lehrte an der renommierten Harvard-Universität Vergleichende Regierungslehre. Gemeinsam mit seinem früheren Studenten Zbigniew Brzeziński, der aus Polen stammte und später zum Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter aufsteigen sollte, entwarf er im Laufe der 1950er Jahre eine Sechs-Punkte-Liste von Merkmalen, mit deren Hilfe sich totalitäre Systeme eindeutig identifizieren lassen sollten. Dieses Idealmodell des Totalitarismus umfasste: erstens eine Ideologie mit Absolutheitsanspruch, zweitens eine einzige Massenpartei, drittens eine terroristische Politik der Geheimpolizei, viertens eine dirigistisch gesteuerte Kommunikation, fünftens ein Waffenmonopol und schließlich sechstens eine zentral gelenkte Wirtschaft.
Wie Arendt identifizierten beide Autoren die totalitäre Diktatur als etwas qualitativ Neues, als ein Phänomen sui generis. Sie betrachteten linke Diktaturen wie die kommunistische Sowjetunion und rechte Diktaturen wie den faschistischen Staat in Italien oder das NS-Regime in Deutschland ihrem Wesen nach als ähnlich. Zumindest hielten sie diese Ideologiestaaten für einander stärker verwandt als mit jedem anderen Regierungssystem, selbst unter Einschluss älterer Formen der Autokratie. Das Sechs-Punkte-Syndrom als Totalitarismus-Richtmaß ist ob seines statischen, abstrakt wirkenden Zuschnitts häufig kritisiert worden. Weichere Diktaturformen, Übergänge und Wandlungen autokratischer Herrschaftsformen würden so unterschätzt.
In gewisser Weise begegnete der 1926 in Deutschland geborene spanische, später an der Universität Yale lehrende Politikwissenschaftler Juan Linz diesen Einwänden im Jahr 1975 mit seiner originellen Studie über autoritäre und totalitäre Systeme, in der er Abstufungen von Diktaturen vornahm. Beide Diktaturtypen – ob totalitär oder autoritär – seien zunächst dadurch gekennzeichnet, nicht demokratisch zu sein. Um zwischen totalitären und autoritären Systemen zu differenzieren, diskutierte Linz drei Hauptdimensionen: den Grad des politischen Pluralismus, der ideologischen Orientierung und der kontrollierten politischen Mobilisierung. Totalitäre Regime kennzeichne ein monistisches Machtzentrum, eine exklusive, autonome Ideologie und Massenmobilisierung. Autoritäre Regime ließen demgegenüber einen begrenzten Pluralismus zu, beruhten auf einer traditionellen, nicht sonderlich elaborierten Geisteshaltung und profitierten von der politischen Apathie der Bevölkerung.
Der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori ging sogar noch einen Schritt weiter und schlug vor, eine ganze Reihe von Diktatur-Dimensionen (darunter: Bedeutung der Ideologie, Grad der Politisierung, des Zwangs, der Willkür etc.) als Variablen zu definieren und deren Ausprägung zu verschiedenen Zeitpunkten zu erfassen. Sartori empfahl, diese Aspekte in eine empirisch anwendbare Checkliste einzubringen, um die Entwicklungsdynamik und Transformation diktatorischer Systeme im Zeitverlauf besser erfassen zu können. An die Stelle einer scharfen dichotomischen Abgrenzung zwischen autoritären und totalitären Systemen tritt so das Bild eines in Bewegung bleibenden Kontinuums.
Schlussbemerkung
Statt der einen Totalitarismusformel gibt es ein ganzes Arsenal von Erklärungsansätzen, die den Terminus nutzen, um die Neuartigkeit und den spezifischen Charakter der diktatorischen Ideologien und Regime im 20. Jahrhundert zu kennzeichnen. Die meisten Modelle betonen den Absolutheitsanspruch einer Ideologie, einen auf Repression und Terror ruhenden Herrschaftswillen sowie den unbedingten Drang zur Durchdringung aller Lebensbereiche über einen dezidiert politischen Bereich hinaus. Spätestens seit der systematischen Unterscheidung zwischen autoritären und totalitären Regimen als zwei Unterformen des Autokratie- oder Diktaturtypus stellt sich verstärkt die Frage nach der Transformation, Entwicklungs- und Anpassungsbereitschaft von Diktaturen, die so ihre Konkurrenzfähigkeit und Popularität im Wettbewerb mit demokratischen Systemen zu erhöhen trachten.
Bislang galt es als ausgemacht, dass Demokratien deswegen einen Vorteil gegenüber Diktaturen besäßen, weil sie dynamisch und lernfähig seien. Der Prozessbegriff der Demokratisierung ist geläufig, während seltener von Autokratisierung gesprochen wird. Michael Zürn hat jüngst dazu angeregt, sich vermehrt „Dynamiken der Autokratisierung“ zu widmen. Statt vorrangig nach den Kennzeichen statischer Herrschaftsformen zu fragen, sollte der Elastizität, Bewegungs- und Anpassungsfähigkeit autoritärer Systeme sowie den Bedingungen ihres Aufstiegs, Bestands und Verfalls vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden. Gerade im Falle der vorrangigen autoritären Player des 21. Jahrhunderts wie Chinas und anderer asiatischer Staaten sei auffällig, wie es über einen längeren Zeitraum hinweg – überwiegend ohne offene Repression – gelungen sei, bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung über Wohlfahrtsgewinne und Aufstiegseuphorie die Zufriedenheit mit dem eigenen politischen System zu steigern. Im Zeichen eines sich im Aufwind befindenden Populismus ist zudem näher zu ergründen, welche Dynamik und Attraktion nicht nur von demokratischen, sondern auch von autoritären sozialen Bewegungen auszugehen vermag.
Zur Klassifikation von Diktaturen und ihrer schärfsten Form dürfte der Totalitarismusbegriff auch im 21. Jahrhundert weiter zur Anwendung gelangen. Für den produktiven wissenschaftlichen Dialog gilt es dabei, das jeweils zugrunde gelegte begrifflich-typologische Modell transparent zu machen und es mit empirischer Analytik zu kombinieren. Die allzu leichthändige Verwendung des „Totalitarismus“ als zeitdiagnostische Provokationsformel wirkt hingegen meist überzogen, ob nun von einem ‚technologischen‘, ‚digitalen‘, ‚neoliberalen‘, ‚überwachungskapitalistischen‘ oder ‚expertokratischen‘ Totalitarismus (angesichts der Corona-Bekämpfung), auch im Zeichen degenerierender ‚postdemokratischer‘ Regierungsweisen, die Rede ist. Schließlich ist mit der Totalitarismusformel stets ein scharfes Verdikt verbunden. Der Begriff sollte daher der Kennzeichnung von Weltanschauungsdiktaturen mit umfassendem Herrschaftsanspruch vorbehalten bleiben.
Alexander Gallus ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz.
Literatur:
- Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. Erw. Neuausgabe, München 2023.
- Uwe Backes: Autokratien. Baden-Baden 2022.
- Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München 2006.
- Günter Frankenberg/Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Treiber des Autoritären. Pfade und Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./New York 2022 (darin der Text von Michael Zürn).
- Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. Cambridge u.a. 2009.
- Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Berlin 2018.
- Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. 2. Aufl., Baden-Baden 1999 (darin Texte von Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzeziński und Giovanni Sartori).
- Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. München 2010.
- Juan J. Linz: Totalitäre und autoritäre Regime. Berlin 2000 (engl. zuerst 1975).
- Detlef Schmiechen-Ackermann: Diktaturen im Vergleich. Darmstadt 2002.
- Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin 1997.