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Essay

Zur Bedeutung Ernst Jüngers für die Neue Rechte

von Prof. Dr. Helmuth Kiesel

Eine Recherche

Wie groß war der Einfluss Ernst Jüngers auf die Entwicklung der Neuen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland? Eine kritische Lektüre von Hauptwerken aus dem Umfeld neurechten Denkens lässt nicht den Schluss zu, dass man ihn zu den Vordenkern rechtsextremer Kräfte zählen kann. In seinen Schriften vollzog Jünger schon seit den 1930er Jahren eine Entwicklung vom Nationalismus zum „planetarischen Denken“. Im Zentrum seines geschichtlichen Denkens und literarischen Schaffens nach 1945 steht nicht die nationale Politik, sondern die Entwicklung der wissenschaftlich-technisch geprägten Moderne.

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Immer wieder liest oder hört man, der notorisch „umstrittene“ Ernst Jünger (1895–1998) sei als Vordenker und Stichwortgeber der Neuen Rechten unserer Tage anzusehen. So heißt es in Volker Weiß’ vielbeachtetem Buch Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes (2017), Jünger gelte „innerhalb der Neuen Rechten“ zusammen mit Carl Schmitt „zweifellos“ als einer der „Hausgötter“. Die Neue Rechte wird dabei in die von Armin Mohler erneuerte Tradition der „Konservativen Revolution“ gestellt, als deren in den 1920er und frühen 1930er Jahren führende Vertreter wiederum Schmitt und Jünger genannt werden. Ähnliches liest man in einer Dissertation mit dem Titel Die „Neue Rechte" in der Grauzone zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus? (2017). Auch ihr Autor, Patrick Keßler, stellt die „Konservative Revolution“ als „ideologischen Hintergrund“ der Neuen Rechten dar und identifiziert Jünger als einen Hauptvertreter der Konservativen Revolution.


Ernst Jünger – „Hausgott“ der Neuen Rechten?

Diesen beiden Übersichtsdarstellungen ging eine auf Jünger konzentrierte Studie von Horst Seferens voraus, die schon 1998 unter dem ominösen Titel „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945 erschien. Sie hat zwei miteinander verschränkte Beobachtungsgegenstände. Der eine besteht in Jüngers Wahrnehmung und literarischer Verarbeitung der historisch-politischen Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg. Vor allem im Hinblick auf Jüngers „stereoskopische“ oder transrealistische Weltsicht und deren literarische Encodierung in vielschichtige Textwelten schafft diese analytisch-interpretatorisch überaus eindringliche Untersuchung wichtige und präzise Einsichten, verbunden mit einer bemerkenswerten Anerkennung von Jüngers dichterischer Leistung. Auch der zweite Beobachtungsgegenstand, nämlich die dokumentierten Bezugnahmen der neuen bundesrepublikanischen Rechten von Armin Mohler bis Heimo Schwilk, wird mit großer Umsicht dargestellt, ist aber meines Erachtens mit zwei denunziatorisch wirkenden Fehleinschätzungen behaftet. Zum einen war Jüngers Bereitschaft, sich auf diese frühe neue Rechte einzulassen, weit geringer, als Seferens dies glauben machen will. Zum andern verdächtigt Seferens Jünger permanent eines intellektuellen und politischen Doppelspiels, ja geradezu der „artistischen Heimtücke“, so als seien beispielsweise Jüngers Verurteilungen des Mordes an den europäischen Juden – 22. Juni 1943: Greueltaten, „die das Universum gegen uns aufbringen“ – nie vollgültig gewesen, sondern immer nur vorgeschoben, um Historisierungen und Relativierungen der NS-Verbrechen abzusichern.  Auf beiden Beobachtungsfeldern lautet Seferens Botschaft: Mit Jünger konnte die „vorgestrige“ Gegenaufklärung oder Gegenmoderne, die üblicherweise als Konservative Revolution bezeichnet wird, Bedeutung für die neue Rechte der 1980/90er Jahre gewinnen und damit zur Gefahr von „übermorgen“ werden.

 

Wegbereiter Hitlers und rechtsextremer Kräfte seit 1945?

Da die Konservative Revolution mit dem Odium belegt ist, durch ihren Nationalismus, ihr antipluralistisches Denken und antidemokratisches Wirken den Weg für Hitlers „Machtergreifung“ geebnet zu haben, ist mit der Zuordnung Jüngers zur Konservativen Revolution und mit der Eingliederung der Neuen Rechten in die Tradition der Konservativen Revolution ein zweifacher schwerer Vorwurf verbunden: Jünger wird ja nicht nur beschuldigt, ein Wegbereiter Hitlers gewesen zu sein; ihm und seinem Werk wird auch vorgeworfen, die derzeitige Neue Rechte, die in Teilen als „gesichert rechtsextremistisch“ gilt, inspiriert zu haben. Er wird als Brandstifter identifiziert.


Aber wie stichhaltig sind diese Vorwürfe? Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, eine Antwort zu geben. Hierfür ist es notwendig, die Entwicklung des historisch-politischen Denkens von Ernst Jünger knapp zu skizzieren, bevor nach seiner Bedeutung für die Neue Rechte gefragt wird.

 

Konservative Revolution

Was unter Konservativer Revolution zu verstehen ist und wer dieser Richtung zuzurechnen ist, ist in der Forschung höchst umstritten. Das von Armin Mohler 1950 begründete und von Karlheinz Weißmann überarbeitete „Handbuch“ Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932 (zuletzt in 6. Auflage 2005) nennt auf über 600 Seiten eine Vielzahl von Schriftstellern, Philosophen, Wissenschaftlern und Politikern, die mit der Idee einer revolutionär wirkenden Erneuerung aus dem Geist des Konservatismus in Verbindung zu bringen sind; Hugo von Hofmannsthal und Stefan George werden ebenso genannt wie Carl Schmitt und Ernst Jünger, zudem auch Thomas Mann, der um 1921 als einer der ersten von einer konservativen Revolution sprach und sich noch 1937 im Geleitwort zu der Zeitschrift Maß und Wert zu der Idee des „revolutionären Traditionalismus“ und der vergangenheitsgeprägten Erneuerung oder eben – wörtlich – zur „konservativen Revolution“ bekannte. Wenn man Jünger dieser Richtung zurechnet, muß man allerdings sehen, dass sein Denken und publizistisches Wirken um 1930 keinen konservativen Charakter hatte, sondern auf eine revolutionäre Veränderung der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse in vollem Umfang zielte. Alfred Döblin hat ihn deswegen 1938 in einem Überblick über die deutsche Literatur der 1920/30er Jahre neben sich selbst und Bertolt Brecht zur Gruppe des „geistesrevolutionären“ Autoren gerechnet.


Jünger selbst sah sich in den Jahren vor 1930 als Vertreter der „neuen Nationalisten“ oder „Nationalrevolutionäre“, die ein modernes und starkes Deutschland als zukunftsmächtige Kraft zuwege bringen wollten. Voraussetzung dafür schien die Überwindung der Weimarer Demokratie zu sein, die deswegen mit scharfen Worten attackiert wurde. Den angestrebten „Zukunftsstaat“ charakterisierte Jünger im Juni 1926 mit den Worten: „Er wird national sein. Er wird sozial sein. Er wird wehrhaft sein. Er wird autoritativ gegliedert sein. […] Er ist nicht reaktionär, sondern revolutionär von Grund auf.“ In diesem Zusammenhang publizierte Jünger 1930 im Rahmen einer Debatte über die damals so genannte „Judenfrage“ einen Artikel, Über Nationalismus und Judenfrage, der von Affekten gegen das „assimilierte“ Judentum bestimmt ist und Menschen jüdischer Herkunft verbieten will, sich als Deutsche zu betrachten und in Deutschland als Deutsche – anstatt als Juden – zu leben. Der Artikel, der aus einer aufgeheizten Kommunikationssituation resultiert, ist aber eine einmalige Entgleisung; weitere Äußerungen, die Jünger als einen Rassisten erscheinen ließen, gibt es nicht.
 

Vom Nationalismus zum Weltstaat

Schon um 1930 rückte Jünger unter dem Einfluss verschiedener Gesprächspartner von der Konzentration auf Deutschland und den Nationalismus ab. Sein Blick wurde „planetarisch“. Das Zukunftsbild, das er 1932 mit dem Groß-Essay Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt entwarf, ist das Bild einer großräumig nach Gesichtspunkten produktiver Effizienz geordneten und verwalteten Welt, in der Nationen nicht mehr sind als Arbeitseinheiten, die da und dort gebraucht werden, um die Erschließung der Welt voranzutreiben; als Beispiele werden die sowjetische Erschließung Sibiriens und die zionistische Besiedlung Palästinas genannt. Dieser erdumspannende Blick sollte Jüngers historische und politische Reflexionen auch weiterhin bestimmen. Er hoffte nicht nur auf den Zusammenschluss Europas, sondern auf das Zustandekommen eines Weltstaats, in dem die Nationen nicht an kultureller Bedeutung verlieren, aber kriegerischer Rivalitäten enthoben sein sollten. Ausdruck fand dieses Denken in der zwischen 1943 und 1945 entstandenen Schrift Der Friede.


Notwendig ist eine Anmerkung zu Jüngers Verhältnis zum Nationalsozialismus: Es gab um 1928 eine Bereitschaft der Neuen Nationalisten zur Kooperation mit den Nationalsozialisten, die von Jünger aber aufgekündigt wurde, weil er mit mehreren Schachzügen Hitlers, etwa mit seiner Haltung gegenüber den norddeutschen Bauernprotesten und mit seinem betrügerischem Legalitätskurs, nicht einverstanden war. Zusammen mit seinem nationalbolschewistischen Freund Ernst Niekisch, dem Verfasser des Pamphlets Hitler – ein deutsches Verhängnis (1932), gehörte Jünger zu den Hitler-Gegnern und machte dies auch öffentlich deutlich, indem er im Sommer 1933 seine Aufnahme in die gleichgeschaltete nationale Dichterakademie mit einem an die Presse lancierten Schreiben ablehnte. Die Rechtsverletzungen durch die NS-Regierung und der Staatsterror waren ihm zuwider; die 1939 erschienene Erzählung Auf den Marmorklippen, deren Publikation der emigrierte Schriftsteller Hermann Broch als eine „Heldentat“ bezeichnete, ist eine gut getarnte, aber unmissverständliche Anklageschrift. Das alles gerät aber außer Sicht, wenn man Jünger kurzerhand zum Vertreter der Konservativen Revolution erklärt und diese mit dem pauschalen Vorwurf belastet, Hitler den Weg geebnet zu haben.


Wenden wir uns nun wieder der Frage zu, welche Bedeutung Jünger für die Neue Rechte hat. Hier erlebt man zunächst einmal die Überraschung, dass der Name dieses angeblichen Hausgottes in den weiteren Ausführungen von Weiß (knapp 300 Seiten) und Keßler (knapp 330 Seiten) keine große Rolle mehr spielt. Von Weiß wird etwa zehnmal beiläufig auf Jünger verwiesen, von Keßler nach dem historischen Einleitungsteil noch seltener. Das ist nicht zufällig, sondern entspricht dem von Weiß auch durchaus genannten Umstand, dass Jünger nach 1945 vor allem sein literarisches Ansehen sichern wollte und sich auf eine Beschäftigung mit den „politischen Niederungen“ nicht einließ und schon gar nicht als Galionsfigur eines neuen Nationalismus oder einer neuen Rechten in Erscheinung treten wollte. Folge dieser politischen Zurückhaltung Jüngers war, dass Mohler und andere Vertreter der frühen bundesrepublikanischen Rechten sich enttäuscht von ihm abwandten (Mohler allerdings nur vorübergehend) und auch Vertreter der jüngeren Neuen Rechten Jünger als Ästheten abtaten, dem politische Courage fehle und von dem brauchbare Direktiven nicht mehr zu erwarten seien.

 

Jünger in den Schriften der Neuen Rechten: selten zitiert

Befragt man nun die Schriften der gegenwärtigen Neuen Rechten selbst nach der Bedeutung, die Jünger für sie hat, so erweist sich die Einstufung Jüngers als einen der „Hausgötter“ vollends als Übertreibung . Zwar gibt es Götz Kubitschek, den Gründer des in Schnellroda ansässigen Instituts für Staatspolitik und des ebenfalls dort etablierten Antaios-Verlags. Kubitschek hat über Ernst Jüngers Bruder Friedrich Georg eine germanistische Abschlussarbeit geschrieben und ist ein Kenner nicht nur des Jünger’schen Werks, sondern auch der umgebenden Literatur. In seinen Schriften, publizistischen Stellungnahmen und Interviews beruft er sich vielfach auf Jünger und geriert sich als dessen Geistesverwandter, man könnte auch sagen: geistiger Erbe, getragen von Jüngers Hoffnungen auf eine grundlegende positive Wendung der Geschichte, zugleich aber auch angesteckt von Jüngers melancholischem Blick auf den geschichtlichen Verfall und die vorerst noch trüben Aussichten. Aber für keinen anderen Vertreter der Neuen Rechten hat Jünger eine vergleichbare Bedeutung.


In Büchern wie Alexander Gaulands Anleitung zum Konservativsein (2002), Karlheinz Weißmanns Das konservative Minimum (2007), Thor von Waldsteins Metapolitik (2015), Benedikt Kaisers Die Partei und ihr Vorfeld (2022), Martin Sellners Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze (2023) und Maximilian Krahs Politik von rechts. Ein Manifest (2023; außer Gauland allesamt im Antaios-Verlag) wird Jünger gar nicht oder nur beiläufig erwähnt. Symptomatisch ist, dass Krah zwar Jüngers Werk neben den Werken von Rainer Maria Rilke und Joseph Roth, Gottfried Benn und Bertolt Brecht zu den großen literarischen Leistungen zählt, als „Klassiker“ des „eigentlichen rechten Denkens“ aber Carl Schmitt, Oswald Spengler, Thomas Mann (dank der Betrachtungen eines Unpolitischen) und Leo Strauss nennt, nicht aber Ernst Jünger. Wenn er diesen einmal mit dem 1934 formulierten Aphorismus zitiert, wonach „über den verlassenen Altären die Dämonen hausen“, so ist dies nur ein dekoratives Zitat ohne substanzielle argumentative Bedeutung.


Ähnlich verhält es sich in dem Interviewband Nie zweimal in denselben Fluß. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig (2020), in dem fast alles, was Rang und Namen hat – von Heraklit und Aristoteles bis Heidegger und Adenauer – bemüht wird, also auch Jünger (dreimal) nach Goethe (siebenmal) und Bismarck (sechsmal, laut Register). Unter den „herausragenden Denkern“ des 20. Jahrhunderts – Ludwig Klages, Edgar Jung, Dietrich Bonhoeffer, Martin Heidegger – wird Jünger aber nicht genannt, und zwei der drei Bezugnahmen auf Jünger haben wiederum nur dekorativen Charakter, dienen nur dazu, einen Gedanken mit einem Jünger-Wort zu schmücken. Substanziell neurechten Charakter hat allein die Bezugnahme auf Jüngers demokratiekritischen Essay Der Waldgang (1951).


Stärkere Rückgriffe auf Jünger habe ich – außer bei Kubitschek – nur bei zwei Autoren gefunden: Benedikt Kaiser porträtiert Jünger in seinem kleinen Buch Querfront (2017) zutreffend als Beispiel für das die Mitte überspannende Querfrontdenken linker und rechter Autoren der Jahre um 1930. Und in Rolf Peter Sieferles ominösem Traktat Finis Germania (2017) findet sich ein vierseitiges Kapitel mit der Überschrift „Ernst Jünger als Erzieher“, das aber nicht etwa politische Direktiven aus Jüngers Werk ableitet, sondern Jünger als einen Autor zeigt, dem wir eine besonders „harte und klare Beschreibung der Welt“ verdanken und der uns gelehrt hat, die „Geschichte der Menschheit bis in ihre finale Krise hinein als ein grandioses Naturschauspiel anzusehen“. Gewonnen wäre mit dieser ästhetischen Operation ein freier Blick „jenseits von Gejammer, Kritik und Praxiswut“.


Lehrer der neurechten „Metapolitik“?

Nun wird Jünger von Weiß und Seferens nicht so sehr als Lieferant konkreter politischer Postulate oder Direktiven dargestellt, sondern primär als Lehrer rechter „Metapolitik“, wie sie dann von Waldstein (2015), Kaiser (2022), Krah (2023) und insbesondere Sellner (2023) profiliert wurde. „Metapolitik“ meint, kurz gesagt, den Bereich der geistigen, kulturellen oder ideologischen Einstellungen, die den politischen Haltungen und Entscheidungen der Menschen vorgelagert sind und diese letztlich bestimmen. Welche Bedeutung die Metapolitik für die Neue Rechte hat, ist aus zwei einleitenden Thesen von Sellners Regime Change von rechts zu ersehen. Es heißt dort: „Das Zentrum der politischen Macht sind die Metapolitik und mit ihr die H[!]errschende Ideologie. Sie dominiert die ,Ideologischen Staatsapparate‘ und wer sie kontrolliert, hat die höchste staatspolitische Gestaltungsmacht.“ Und das heißt: „Das rechte Hauptziel, die Erlangung von Macht zur Umsetzung einer anderen Bevölkerungs- und Identitätspolitik, erfordert daher eine metapolitische Wende und nicht nur den Austausch einer Regierung.“ Für diesen metapolitischen Ansatz berufen sich Waldstein, Kaiser und Sellner nicht ein einziges Mal auf Jünger, sondern ausschließlich auf die von dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci um 1930 in Mussolinis Gefängnissen entwickelte Theorie der Metapolitik oder kulturellen Vorherrschaft. Trotzdem könnte Jünger, wie Seferens schon 1998 behauptete, für die metapolitischen Planungen und Bemühungen der damaligen neuen Rechten wichtiger gewesen sein als Gramsci.


Darüber kann man streiten. Unbestreitbar aber ist, und dies wird auch von Seferens eingeräumt, dass Jünger auf Distanz zur organisierten Rechten blieb, für nationalistische und rassistische Zielsetzungen keine Parolen lieferte, sich mit den politischen Gegebenheiten und der bundesrepublikanischen Demokratie versöhnte, zwar von der Notwendigkeit einer großen Wende überzeugt war, aber diese nicht mit herbeiführen wollte, sondern als ein „erdgeschichtliches“, dem Willen einzelner gesellschaftlicher Kräfte oder Nationen entzogenes Ereignis erwartete. Für die aktuellen Fragen der Politik – Finanzen, Sozialversicherung, Landesverteidigung, Bündnisse, Bevölkerungspolitik, Migration, Grenzkontrolle, identitäre Bestrebungen, LGBT-Angelegenheiten, Genderverhältnisse, Homoehe, Abtreibungsregelung usw. – ist sein Werk unergiebig, weil er der Tagespolitik keine Aufmerksamkeit schenkte; sein Blick war – wie bereits gesagt – planetarisch und „erdgeschichtlich“. „Nicht mehr die Politik ist unser Schicksal“, notierte er am 4. Juni 1990 in seinem Tagebuch, „sondern die Physik“, womit er das ganze Instrumentarium der wissenschaftlich-technischen Weltbemächtigung von der Humangenetik oder der zu erwartenden Humantransformation bis zur Kernkraft und Eroberung des Weltraums meinte.

 

„Planetarischer“ Blickwinkel, „erdgeschichtliche“ Perspektive

Tagespolitischen Vorgängen schrieb Jünger keine große Bedeutung zu. Den durch ein Misstrauensvotum herbeigeführten Regierungswechsel vom 1. Oktober 1982 verfolgte er am Rundfunk, begleitete die Debatte mit einigen Notizen über Politik und Kunst und quittierte den Ausgang der Abstimmung mit dem Satz: „Drei Uhr nachmittags: Habemus papam – ein Helmut geht, ein Helmut kommt.“ Die Entwicklung in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, in der die Berliner Mauer fiel, verfolgte er am Fernsehen und bekundete im Tagebuch am 10. November seine Freude darüber: „Endlich einmal auch eine gute Nachricht für unser Land. Sie wirkte wie ein Regen in der Wüste nach langer Trockenheit.“ Jubel gibt es aber nicht, obwohl Jünger in früheren Eintragungen – etwa am 1. Januar 1981 – festgehalten hatte, „der Zustand der Welt und insbesondere des eigenen, zerrissenen Landes [beschatte] Tag und Nacht das Gemüt“.


Der Eintrag vom Tag nach dem Mauerfall beschränkt sich aber auf zwölf Zeilen, aus denen im Übrigen hervorgeht, dass Jünger auf eine andere Art der Wiedervereinigung gehofft hatte: „Daß es einmal zur Wiedervereinigung kommen würde, habe ich nie bezweifelt – ob ich sie noch erleben würde, jedoch sehr. Dabei habe ich weniger an ein nationales Erwachen als an das Einschmelzen der Grenzen innerhalb der allgemeinen Entwicklung zum Weltstaat gedacht.“ Weitere Eintragungen zeigen, dass Jünger hoffte, die Wiedervereinigung werde zu einer „neuen Ost-West-Begegnung“ führen, die die Welt friedlicher machen werde (2. April 1990). Immer ging sein Blick weit über das aktuelle politische Geschehen und den nationalen Rahmen hinaus. Am 9. Oktober 1990, dem Vorabend des zweiten Golfkriegs notierte er: „Die Politik wird störender [gemeint: im Hinblick auf die zivilisatorische Entwicklung der Welt; H. K.]. In der Korrespondenz […] wird erwogen, ob es am Persischen Golf zum Kriege oder sogar zum Beginn eines Dritten Weltkrieges kommen wird. Diese Frage könnte sich vereinfachen durch die Annahme, daß wir uns seit 1914 in einem Kriege befinden, der teils als National- und teils als Bürgerkrieg geführt und an den Rändern fortgesetzt wird. Dahinter die Erdrevolution.“
 

Literaturhinweis: 

Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1918 bis 1933. München 2017. 

 

Helmuth Kiesel ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die Geschichte der literarischen Moderne vom Naturalismus bis zur Gegenwart.

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