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Zwischenruf

Eine nüchterne Betrachtung des westlichen Kolonialismus

von Dr. Philip Plickert

Anmerkungen zum Beitrag „Kapitalismus und Koloniale Expansion“ von Werner Plumpe

Die Vergangenheit hat viele Facetten. Der Streit um die Bedeutung des Kolonialismus der Europäer und ihre Beteiligung am Sklavenhandel ist alt, doch wird er im Zuge der Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM) und des postkolonialen Diskurses neu und schärfer ausgetragen. Wie sehr haben die Europäer ökonomisch profitiert? Besonders in akademisch-linken „postkolonialen“ Zirkeln wird die Ansicht vertreten, dass der „globale Norden“ seinen Wohlstand der Ausbeutung des „globalen Südens“ verdankt. Dabei standen den Gewinnen einiger Profiteure erhebliche Kosten für die Steuerzahler gegenüber – unterm Strich waren viele Kolonien sogar Verlustbringer.

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Werner Plumpe hat differenziert dargelegt, dass einige Kolonialmächte aus ihren Besitzungen große ökonomische Vorteile zogen, andere weniger. Einige europäische Mächte, die früh gewaltige Kolonialreiche eroberten und ausplünderten, wie die spanische Krone in Südamerika, fielen in späteren Jahrhunderten wirtschaftlich zurück und schafften im 19. Jahrhundert nicht einmal ansatzweise den Sprung zur modernen Industrialisierung. Andere Länder wie Deutschland, das erst spät in den Wettlauf um Kolonien einstieg und die letzten verbliebenen, wirtschaftlich wenig attraktiven Flecken in Afrika erwarb, hatten längst vorher erfolgreich ihren Aufstieg zur Industriemacht begonnen. Die These, dass Kolonien die Basis oder das Sprungbrett für die westliche Industrialisierung waren, steht auf wackeligen Füßen.

Dennoch wird diese These – gerade mit Blick auf Großbritannien – vertreten. Londons Bürgermeister Sadiq Khan von der Labour-Partei meinte 2020 auf dem Höhepunkt der „Black Lives Matter“-Proteste, es sei „eine unangenehme Wahrheit, dass unsere Nation und unsere Stadt einen großen Teil ihres Reichtums der Rolle im Sklavenhandel verdankt“. In Deutschland, das nur sehr viel weniger bedeutende Kolonien als das britische Empire besaß, wird diese Debatte bislang weniger heiß geführt.

 

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Ein einflussreiches Narrativ auf der politischen Linken besagt, dass die Sklavenwirtschaft in Kolonien quasi die Ur-Sünde des Kapitalismus war. Erst die Profite aus der Sklaverei und den Sklavenplantagen hätten das Kapital für die Industrielle Revolution in England geschaffen. So argumentierte der Historiker Eric Williams, der später erster Präsident von Trinidad und Tobago nach der Unabhängigkeit wurde, in seiner Schrift Capitalism and Slavery (1944). Vor ihm hatte Karl Marx in Das Kapital (1867) diese Auffassung angedeutet.

 

„Postkolonialismus und Antikapitalismus gehen fast immer Hand in Hand“

Laut Marx ist die Lohnarbeit in Europa in Wirklichkeit eine verkappte Sklaverei, der Kapitalismus habe als „Sockel“ die Sklaverei in der Neuen Welt gebraucht. So erklärt er es in Band 1 in der Genesis des industriellen Kapitalismus. Das Kapital sei „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt gekommen, formulierte Marx in charakteristisch-drastischer Art. Spätere sozialistische Denker sahen die „Dritte Welt“ als eine Art Ersatzproletariat, von dem sie sich ein anti-kapitalistisches Revolutionspotenzial erhofften. Bis heute haben die BLM-Proteste eine solche Stoßrichtung. „Black Lives Matter UK“ etwa schreibt explizit, um Imperialismus und „White Supremacy“ (Weiße Vorherrschaft) zu brechen, müsse man den Kapitalismus überwinden. Postkolonialismus und Antikapitalismus gehen fast immer Hand in Hand.

Aber wie groß war der ökonomische Beitrag des Kolonialismus zur wirtschaftlichen Entwicklung Europas wirklich? Einige empirische Untersuchungen wecken erhebliche Zweifel an der These von Marx und Williams. Der Ökonom Kristian Niemietz vom Institute of Economic Affairs (IEA) in London hat diese Studien vor Kurzem in einem lesenswerten Büchlein zusammengeführt. Sein Fazit: „Kolonialismus und Sklavenhandel waren allerhöchstens geringe Faktoren für den wirtschaftlichen Durchbruch Britanniens und des Westens, und möglicherweise sogar Verlustbringer“.

Kolonialreiche brachten nämlich nicht nur Profite – vor allem für Plantagenbesitzer, Investoren in die Rohstoffausbeutung und Großhändler –, sie verursachten auch enorme Kosten: Ausgaben für die Marine, für Besatzungs- und Schutztruppen, für die Verwaltung der kolonialen Gebiete. Großbritanniens Ausgaben für sein Militär und die Kriege im 18. und 19. Jahrhundert um das Übersee-Imperium und die Handelswege führten dazu, dass die Steuerbelastung britischer Bürger eine der höchsten in ganz Europa war, die zweithöchste nach den Niederlanden. Der Wirtschaftshistoriker Patrick O’Brien von der London School of Economics geht davon aus, dass die Steuerlast der Briten um ein Viertel niedriger hätte sein können, hätte das Land für sein Militär nur so viel ausgegeben wie Frankreich und Deutschland.

Sicherlich gab es auch enorme Profite und große Profiteure. Aber diese Gewinne, die etwa Plantagenbesitzer auf den Westindischen Inseln und die großen Spieler im Außenhandel machten, darf man nicht mit einem allgemeinen Wohlstandszuwachs der Gesamtbevölkerung gleichsetzen. Während einige (politisch gut vernetzte) Profiteure Riesengewinne erzielten, trugen die Steuerzahler die Kosten. Dies ist ein typisches Problem der „kollektiven Aktion“, das die Neue Politische Ökonomie analysiert hat: Die Steuerzahler, welche die Kosten trugen, ließen sich als Interessengruppe nur schwer organisieren. Auch Werner Plumpe unterstreicht diesen Punkt: Die Nutznießer des Systems befeuerte in der politischen Debatte den Standpunkt der Vorteilhaftigkeit der Kolonien, sie konnten ihre Interessen weit besser organisieren. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Kolonialpolitik für das Land gesamtwirtschaftlich vorteilhaft war.

Aus diesem Grund kritisierten bedeutende wirtschaftsliberale Vordenker wie Adam Smith den Kolonialismus. Es wäre vorteilhafter, die britischen Kolonien aufzugeben und stattdessen Freihandel mit ihnen zu treiben, meinte Smith. Auch Richard Cobden, der führende Vertreter des Manchesterliberalismus, war der Ansicht, dass die Kolonien England mehr kosten als einbringen. Der Imperialismus sei letztlich ein Verlustgeschäft zulasten der einfachen Bürger und Steuerzahler.

 

„Dass die Kolonialpolitik für das Land gesamtwirtschaftlich vorteilhaft war, ist nicht gesagt“

Nach Schätzung des Wirtschaftshistorikers O’Brien wäre Britannien in einem kontrafaktischen Szenario ohne Empire und Kolonialhandel im Jahr 1913 nur etwa 3,3 Prozent ärmer gewesen. In einer neueren, regional differenzierten Forschungsarbeit kamen die Wirtschaftshistoriker Stephan Heblich, Stephen Redding und Hans-Joachim Voth zwar zu dem Schluss, dass reinvestierte finanzielle Gewinne aus Sklavenplantagen die britische Industrielle Revolution in bestimmten Regionen beschleunigt hätten. Nach ihren Berechnungen hat die Sklaverei „im Aggregat das nationale Einkommen um 3,5 Prozent gesteigert“. Das ist nicht wenig, aber solche Zahlen rechtfertigen kaum die Behauptung des Londoner Bürgermeisters Khan, „dass unsere Nation und unsere Stadt einen großen Teil ihres Reichtums der Rolle im Sklavenhandel verdankt“.

Für andere europäische Kolonialmächte sieht die Kosten-Nutzen-Rechnung ihrer Kolonialreiche sehr durchwachsen aus. Das französische Kolonialreich, das im 19. Jahrhundert in Nord- und Westafrika expandierte, warf überwiegend kaum fiskalischen Gewinn ab. Ein Extrembeispiel für hohe Gewinne war der Kongo mit seinem gewaltigen Rohstoffreichtum (Kautschuk), den der belgische König Leopold II. als Privatkolonie mit ungeheurer Brutalität ausbeutete. Aber Belgisch-Kongo war die Ausnahme.

Die Kolonien des Deutschen Reiches waren dagegen klare Verlustbringer. Deutschland hatte – auch auf Drängen ambitionierter Kaufleute und Reeder aus Hamburg – erst spät einige der letzten verfügbaren Kolonialgebiete erworben: In den Jahren 1884 bis 1885 nahm es Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika (das heutige Namibia), Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi) und weitere kleine „Schutzgebiete“ in Besitz. Diese waren aber wirtschaftlich wenig ergiebig; die Kosten überstiegen klar die Einnahmen.

Reichskanzler Bismarck war Kolonialskeptiker. So hatte er 1868 gewarnt: „Einerseits beruhen die Vorteile, welche man sich von Kolonien für den Handel und die Industrie des Mutterlandes verspricht, zum größten Teil auf Illusionen. Denn die Kosten, welche die Gründung, Unterstützung und namentlich die Behauptung der Kolonien veranlasst, übersteigen … sehr oft den Nutzen, den das Mutterland daraus zieht.“ Es sei auch nur schwer „zu rechtfertigen, die ganze Nation zum Vorteile einzelner Handels- und Gewerbszweige zu erheblichen Steuerlasten heranzuziehen“. Im Prinzip entsprach dies den Argumenten, mit denen Adam Smith und Richard Cobden ihre Ablehnung von Kolonien begründeten. Bismarck sah auch korrekt voraus, dass die Konkurrenz der Kolonialmächte zu politischen Spannungen bis hin zu kriegerischen Konflikten führen könne.

Die meisten Kolonien brachten unterm Strich wenig. Dass Kolonialbesitzungen eine Voraussetzung für die Industrialisierung waren, ist, darin kann man Plumpe nur zustimmen, höchst zweifelhaft. Einige Länder (wie Deutschland oder Belgien) industrialisierten sich, bevor sie Kolonien erwarben; anderen Ländern (wie Spanien und Portugal) nützten ihre frühen Kolonialreiche nichts, um Industrien aufzubauen. Die „große (ökonomische) Divergenz“ zwischen dem Westen und dem Rest der Welt im Zuge der Industrialisierung hat andere Gründe. Weniger Ideologie und mehr empirische Nüchternheit würden der Debatte über Kolonialismus und Imperialismus guttun.

 

Dr. Philip Plickert ist Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in London.


Werner Plumpe: Kapitalismus und Koloniale Expansion. Die Ursachen der Great Divergence aus wirtschaftshistorischer Sicht, September 2024.

 

Literatur:

  • Bismarck, Otto von, zit. n. Zimmerer, Jürgen: Bismarck und der Kolonialismus, 2015.
    ​​​www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/202989/bismarck-und-der-kolonialismus/#footnote-target-2 (letzter Abruf: 08.11.2024)
  • Heblich, Stephan / Redding, Stephen J. / Voth, Hans-Joachim: Slavery and the British Industrial Revolution. CEP Discussion Paper 2023.
  • Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. Hamburg 1867.
  • O’Brien, Patrick: European economic development: the contribution of the periphery. In: Economic History Review 35 (1), 1982, S. 1-18.
  • O’Brien, Patrick: The costs and benefits of British imperialism 1846-1914. In: Past & Present (120), 1988, S. 163-200.
  • Niemietz, Kristian : Imperial Measurement. A cost-benefic analysis of Western colonialism. IEA London 2024.
  • Williams, Eric: Capitalism and Slavery. Chapel Hill 1944.

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