Der Aufstieg der okzidentalen Wirtschaften seit dem 18. Jahrhundert wird in den letzten Jahren weniger als eine Eigenleistung der dortigen Volkswirtschaften, sondern als das Ergebnis erzwungener Ungleichheit begriffen, von der die eine Seite, der „globale Norden“, ebenso profitierte, wie sie zum Elend des heute sogenannten globalen Südens beigetragen habe. Die Fakten sind wenig strittig. Die europäische Expansion seit dem 16. Jahrhundert führte zur Durchsetzung kolonialer Strukturen zunächst in den beiden neu entdeckten Teilen Amerikas, zur kolonialen Beherrschung des Handels im indischen Ozean, zur ungleichen Einbindung der asiatischen Territorien in eine zunehmend europäisch dominierte Weltwirtschaft, zur Entstehung und Etablierung von auf Sklavenarbeit beruhenden Plantagenwirtschaften in der Karibik und Teilen Mittelamerikas, schließlich zum von der Sklaverei erst ermöglichten Aufstieg der Baumwollproduktion im südlichen Nordamerika. Die koloniale „Erschließung“ Afrikas erfolgte zwar erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ergänzte aber die vorherigen Entwicklungen und radikalisierte sie.
Ökonomischer Aufstieg Westeuropas und Nordamerikas
Parallel zu dieser „kolonialen“ Durchdringung der Welt, die nicht selten gewaltsam verlief, änderten sich nach und nach die weltwirtschaftlichen Strukturen und Gewichte. Europa war lange Zeit zwar nicht unbedeutend, aber keineswegs dominant und die europäischen Siedlerkolonien in Amerika und Australien waren faktisch bedeutungslos; die Zentren der globalen gewerblichen und Agrarproduktion lagen vor allem in Süd- und Ostasien. Während sich in den indischen Territorien das Textilgewerbe entfaltet hatte, war China der Hauptproduzent zahlreicher gewerblicher Güter, die auch in Europa überaus beliebt waren, wie etwa Seide oder Porzellan. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Verhältnisse faktisch auf den Kopf gestellt. Indien und China waren wirtschaftlich weit abgeschlagen, faktisch bedeutungslos, während Westeuropa und Nordamerika einen fast unglaublichen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt hatten. Allein auf Großbritannien entfiel um 1850 etwa die Hälfte der globalen gewerblichen Produktion; andere Volkswirtschaften, wie die amerikanische und die deutsche standen in den Startlöchern, um die sich nach und nach abzeichnende große Kluft in der Entwicklung zwischen Nord und Süd unüberbrückbar werden zu lassen. In der wirtschaftshistorischen Forschung spricht man etwa seit der Jahrtausendwende von der Great Divergence, die die Weltwirtschaft schließlich für lange Zeit in den eher reichen Norden und den eher armen Süden nicht nur trennte, sondern in dieser Asymmetrie geradezu betonierte.
Regelmäßig erscheinen auf GESCHICHTSBEWUSST Essays zu historisch relevanten und aktuellen Themen: fachlich fundiert, verständlich formuliert. Sollen wir Sie über Neuerscheinungen per E-Mail informieren? Hier können Sie sich für unseren Verteiler anmelden.
So wenig strittig die Fakten nun sind, so schwer ist ihre Einordnung und Interpretation, denn hinter dem nach außen sehr homogen und eindeutig wirkenden ersten Eindruck verbirgt sich eine in zeitlicher und regionaler Hinsicht überaus heterogene Welt. Die Great Divergence war das Ende, das Ergebnis eines Strukturwandels, den sie naheliegenderweise nicht selbst erklären kann. Es waren auch keineswegs alle Staaten und Territorien, die sich kolonial betätigten, später wirtschaftlich erfolgreich. Die größte und – gemessen an den Silberimporten aus Bolivien – auch erfolgreichste Kolonialmacht, Spanien, versank schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in wirtschaftlicher Stagnation, aus der sie sich jahrhundertelang nicht befreien konnte. Die deutschen Territorien hatten an der Kolonialexpansion Europas lange keinen und erst spät, nach der Reichsgründung von 1871, einen relativ kleinen Anteil, wiesen in Europa aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die mit Abstand größte ökonomische Dynamik auf, derweil gemessen klassische Kolonialländer wie Großbritannien und die Niederlande sukzessive zurückfielen. Dass die arabischen Territorien von der überaus alten und umfassenden Nutzung afrikanischer Sklavenarbeit einen entscheidenden wirtschaftlichen Vorteil gehabt hätten, wird man ebenfalls kaum behaupten wollen. Die koloniale Vormacht des 17. Jahrhunderts, die Niederlande, zogen zweifellos erhebliche Gewinne aus der kolonialen Durchdringung Südostasiens und aus dem großen Anteil am atlantischen Sklavenhandel; ebenso profitierte das kleine Land von den wirtschaftlichen Erträgen eines Handels, der zumindest im Südostasien nur selten als gerecht und gleich zu bezeichnen ist. Aber vom gesamten Außenhandel der Niederlande waren das bestenfalls 20 Prozent; der Reichtum des Landes verdankte sich vor allem der starken Stellung der niederländischen Handelsflotte im Ost- und Nordseehandel, der sog. moedercommercie, deren Umfang alle anderen Handelsbeziehungen weit in den Schatten stellte.
Vorrangstellung des Britischen Empires
Bleiben noch die beiden europäischen Hauptkolonialmächte Großbritannien und Frankreich, von denen vor allem Großbritannien und sein wirtschaftlicher Aufstieg seit der Mitte des 18. Jahrhunderts heute im Zentrum des Interesses stehen. Denn anders als Frankreich – noch im 18. Jahrhundert die wirtschaftlich wohl bedeutendste Größe Westeuropas, danach allerdings ökonomisch für lange Zeit wenig dynamisch und daher kein Beleg für die These von den Erträgen der Kolonialwirtschaft – war Großbritannien wirtschaftlich überaus erfolgreich, ja das Britische Empire schien im 19. Jahrhundert den Fortschritt der menschlichen Zivilisation schlechthin zu verkörpern, etwas, das die Elite der britischen Weltmacht auch selbstbewusst für sich in Anspruch nahm. Großbritannien ist daher naheliegenderweise der scheinbar beste Beweis für die unterstellten Zusammenhänge, wohingegen Frankreich sich hier letztlich nicht eignet, weil es eben nicht belegt, was unterstellt wird. Nur: selbst wenn Großbritanniens wirtschaftlicher Aufschwung ursächlich an seiner kolonialen Dominanz lag, warum verlor das Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich nach und nach an Boden, und zwar an Mächte, die kolonial nicht sonderlich hervorgetreten waren? Und wie passt der Aufstieg Japans in dieses Bild, eine Macht, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vornehmlich aus eigener Kraft modernisierte, lange bevor das Land in China mit kolonialen Experimenten begann (und scheiterte!).
Die regionalen Entwicklungsunterschiede ergeben mithin keineswegs das klare Bild, das bei einer pauschalen Aufteilung in den „globalen Norden“ und den „globalen Süden“ noch plausibel erscheinen mag. Noch komplizierter wird es, wenn nach den faktischen Erträgen der Kolonialwirtschaft gefragt wird. Dass mit ihr der Aufbau von Vermögen verbunden war, ist ebenso unstrittig, wie die Bedeutung dieser Vermögen etwa für Repräsentation, Luxus und Statusbildung in den jeweiligen „Mutterländern“. Doch was für einzelne Kaufleute, Plantagenbesitzer oder Reeder vorteilhaft war, musste es für ganze Volkswirtschaften und die zugehörigen Staaten, die ja die materielle Last der Kolonisierung trugen, nicht unbedingt sein. Die Ergebnisse der wirtschaftshistorischen Forschung lassen insgesamt ein ambivalentes Bild entstehen. Während einzelne Akteure in der Kolonialwirtschaft durchaus „ihr Glück“ machen konnten, war der Kolonialismus aus Sicht der Staaten wohl vornehmlich ein teures Projekt, das im Ergebnis mehr Kosten als Ertrag generierte. Dass Interessenten stets von den großen Vorteilen für die Kolonialmächte sprachen und Kolonialprotagonisten sich erhebliche politische, militärische und auch wirtschaftliche Vorteile aus dem Zugriff auf Land und von der Entstehung von Siedlungskolonien versprachen, war von verbohrten Ideologen abgesehen vornehmlich interessiertes Reden, mit dem Staaten dazu gebracht werden sollten, Kolonialkosten auf sich zu nehmen, deren Nutzen dann vor allem private Taschen füllte; man denke nur an die Forderungen britischer Opiumhändler, die schließlich zu den Opiumkriegen in China maßgeblich beitrugen. Wenn überhaupt, dann scheint es so, dass Indien, das seit der Übertragung der Regierungsgewalt von der East India Company auf die Krone im Jahr 1858 auch förmlich kolonisiert wurde, den englischen Staatshaushalt entlastete. Das war freilich die große Ausnahme, die die Regel bestätigte.
Wirtschaftlicher Nutzen der Kolonien
Fraglich ist überdies, ob hinter der zeitlichen Parallele von kolonialer Expansion und wirtschaftlichem Aufstieg des Westens so etwas wie ein erklärender Zusammenhang steckt: Sind die einen reich, weil die anderen arm sind? Ist die Great Divergence im Kern eine große Umverteilung, ja eine Art historische Schuld, die wiedergutzumachen der Westen moralisch geradezu verpflichtet ist? War der Preis für den Aufschwung des Westens und seiner kapitalistischen Wirtschaft die Ausbeutung und Unterdrückung weiter Teile der Welt, die zu einer Art Rohstoff- und Ersatzteillager herabgewürdigt wurden, an dem und dessen Menschen der Westen sich skrupellos zum eigenen Vorteil bediente, dabei Armut und Elend durchaus bewusst in Kauf nehmend, was mit rassistischen Phrasen bestenfalls oberflächlich kaschiert wurde? Diese Frage hat zwei Facetten. Zunächst geht es um den Beitrag der kolonisierten Territorien zur wirtschaftlichen Entwicklung der westlichen Staaten, sodann um die Frage, ob die Kolonisierung in den betroffenen Territorien deren Entwicklung behinderte oder gar erstickte. Die Forschung hierzu ist mittlerweile kaum mehr zu überschauen und kann auch hier nur schlaglichtartig zusammengefasst werden.
Der materielle Beitrag der asiatischen Gebiete zur europäischen wirtschaftlichen Entwicklung war vor allem im Bereich der Güter des gehobenen Bedarfs von Bedeutung. Rein quantitativ sollte man den Handel mit Gewürzen, Tee, Seide oder Porzellan hingegen nicht überschätzen. Nennenswerte Rohstoffimporte aus Asien fallen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, namentlich Kautschuk aus Malakka (Malaysia) und Niederländisch-Indien (Indonesien), das dort auf von internationalen Konsortien betriebenen Plantagen gewonnen wurde. Die zumeist hochpreisigen asiatischen Importgüter spielten zuvor für den Oberschichtenkonsum eine gewisse Rolle; der Tee sickerte schließlich als Konsumgut in die gesamte Gesellschaft durch und dürfte das Konsumverhalte auch der einfachen Menschen verändert haben, zumal es den Bereich der nur gegen Geld verfügbaren Güter deutlich ausweitete und damit Erwerbsarbeit aufwertete. Der Import von Textilien (v.a. Baumwollstoffe) aus den indischen Territorien traf in Europa auf wachsende Nachfrage; seine Bedeutung für das Konsumverhalten war ähnlich wie beim Tee, doch setzten hier frühzeitig Importsubstitutionsprozesse ein, zumal Großbritannien den Textilimport strikt regulierte. Die Bedeutung asiatischer Importgüter wird man mithin relativieren müssen, so hoch ihre symbolische Bedeutung im Einzelnen gewesen sein mag.
Die europäischen Importe aus Amerika waren da von anderem Gewicht. Von den umfangreichen Edelmetallimporten Spaniens war bereits die Rede; sie nutzten freilich der spanischen Wirtschaft wenig, ja schadeten dem dortigen Gewerbe, da sie halfen, entsprechende Gewerbeimporte aus anderen europäischen Gegenden zu finanzieren, die das heimische Gewerbe schädigten bzw. verdrängten. Spanien selbst profitierte hiervon daher nur sehr eingeschränkt; Nutznießer waren zweifellos andere europäische Gewerberegionen, die ihre Ausfuhren nach Spanien entsprechend steigern konnten. Mit dem Aufkommen der Plantagenwirtschaft seit dem 18. Jahrhundert nahm auch die koloniale Güterproduktion und deren Export nach Europa deutlich zu, doch ist es hier wesentlich, die Chronologie genau im Auge zu behalten. Es war zunächst vor allem der Zucker, der in großen Mengen aus den karibischen und mittelamerikanischen Plantagen nach Europa strömte und hier das Konsumverhalten deutlich veränderte. In der englischen Importstatistik nahm der Zuckerimport, vom Volumen her sehr viel wichtiger als der gleichzeitig steigende Teeimport, bereits seit den 1720er Jahren kontinuierlich zu, während die Bedeutung anderer Güter erst seit den 1780er Jahren in nennenswertem Ausmaß wuchs. Vor allem massenhafte Importe von Rohbaumwolle insbesondere aus den Südstaaten der USA sind ein Phänomen des 19. Jahrhunderts; seit den 1820er Jahren explodierten sie regelrecht und übertrafen seit dieser Zeit auch die Werte der Zuckerlieferungen.
Eigenentwicklung des Kapitalismus in Nordwesteuropa
Überhaupt änderte sich die Importstruktur der englischen Wirtschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, folgte also der dortigen Industrialisierung eher, als dass sie sie verursachte. Das wird auch durch die Struktur des englischen Exports belegt, der noch im 18. Jahrhundert vor allem von Wolle und Wollprodukten beherrscht war, bevor mit dem 19. Jahrhundert der Siegeszug des Exports von Baumwollprodukten einsetzte. Die auf eigenen Quellen beruhende wirtschaftliche Dynamik Großbritanniens war so gesehen die Ursache und nicht die Folge von (billigen) Rohstoffimporten, wobei außer Frage steht, dass die aufstrebende englische Baumwollindustrie von der Möglichkeit profitierte, ihren wachsenden Rohstoffbedarf aus den USA kostengünstig befriedigen zu können. Die europäischen Wirtschaften insgesamt waren zweifelsfrei Nutznießer der auf Sklavenarbeit beruhenden amerikanischen Plantagenwirtschaft, aber es war ihre eigene Dynamik, die den Rohstoffhunger auslöste, der so befriedigt wurde – nicht umgekehrt. Dass Industrialisierung und koloniale Plantagenwirtschaft sich schließlich ergänzten, ja gegenseitig verstärkten, ist dadurch nicht in Frage gestellt, aber eben auch nicht als Ursache-Wirkungs-Beziehung bestätigt. Bis heute ist der Nachweis nicht erbracht, dass Gewinne aus der kolonialen Expansion gezielt in den Aufbau der modernen Industrie geflossen sind, sie diese also erst ermöglichten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen verdankten sich die frühen industriellen Investitionen etwa in Großbritannien einer Art autochthonen Crowd-Fundings, zumal der Aufwand der frühen Fabriken nicht so hoch war, dass große Kapitalbeträge mobilisiert werden mussten. Der moderne Kapitalismus ist jedenfalls vielmehr eine Art Eigenentwicklung bestimmter nordwesteuropäischer Gebiete als Folge ihrer kolonialen Expansion. Der entstehende Kapitalismus steigerte zugleich die Wettbewerbsfähigkeit etwa der niederländischen oder britischen Wirtschaft, sodass sich diese in der Konkurrenz fast durchweg als überlegen erwiesen. Es ist diese sich seit dem 17. Jahrhundert sukzessiv durchsetzende Überlegenheit, die schließlich in die Great Divergence mündete.
Denn, und damit zum zweiten Aspekt, der Niedergang namentlich der asiatischen Gewerbegebiete war keineswegs nur oder vor allem eine Folge der kolonialen Diskriminierung der dortigen ökonomischen Strukturen und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten. China war zu keiner Zeit kolonisiert; die Debatte um den langsamen Niedergang seiner Volkswirtschaft ist alt und wird auf interne Faktoren zurückgeführt, an denen die europäische Expansion zumeist überhaupt nicht beteiligt war. Dass China den Schritt in die Industrialisierung trotz des Vorhandenseins von Wissen, Technologie und zumindest punktuell etablierten Marktstrukturen nicht ging, hing an internen Blockaden, wenn auch die Integration in die internationale Arbeitsteilung durch die erzwungene Öffnung im 19. Jahrhundert durch ungleiche Verträge das Land tendenziell benachteiligte. Da war es aber längst zu spät. Eher noch mag man für das indische Baumwollgewerbe davon ausgehen, dass dessen Diskriminierung durch die englischen Navigationsakten sowie durch die Beschränkung der Exportmöglichkeiten fertiger Baumwollprodukte zu dessen Niedergang maßgeblich beitrug. Doch ist auch hier die Forschung skeptisch. Denn der Niedergang des Baumwollgewerbes setzte lange vor einer effektiven britischen Kolonisierung ein, und die sukzessive Verdrängung indischer Baumwollprodukte von den internationalen, ja selbst den eigenen Märkten im 19. Jahrhundert war nicht vorrangig die Folge von Zwangsmaßnahmen, sondern das Ergebnis der umfangreichen britischen Exporte von industriell hergestellten Baumwollwaren, die der Konkurrenz sowohl vom Preis wie der Qualität her überlegen waren und entsprechende Markterfolge erzielten. Während die jeweiligen Produktivitäten in den indischen und chinesischen Gewerben stagnierten bzw. nur mäßig zunahmen, explodierte die Produktivität in den sich entfaltenden westeuropäischen kapitalistischen Unternehmen regelrecht. Es war der Wettbewerb, dem die alte gewerbliche Dominanz Asiens zum Opfer fiel, weniger die Gewalt.
Ökonomische Überlegenheit des kapitalistischen Modells
Was heute leichthin unterstellt wird, nämlich dass der Kapitalismus und die mit ihm verbundene ökonomische Dynamik zugleich Produkt wie Triebkraft des Kolonialismus waren (und noch immer sind), ist historisch und logisch nicht plausibel. Entweder es gab den Kapitalismus bereits, als der Kolonialismus entstand, dann ist letzterer jedenfalls nicht seine Ursache. Oder der Kolonialismus machte diese Art des Wirtschaftens überhaupt erst profitabel, dann kann er selbst freilich mit dem Kapitalismus, dem er zeitlich vorhergeht, nicht erklärt werden. Dann müssen die historischen Ursachen für den Aufstieg der westlichen Volkswirtschaften, also des Kapitalismus anderswo liegen, wie es schon die ältere wirtschaftshistorische Forschung, die den modernen Kapitalismus und die damit zusammenhängende Steigerung der Wirtschaftsleistung auf die gesonderten kulturellen Momente der okzidentalen Zivilisation zurückführte, stets behauptet hat. In der postkolonialen Debatte wird diese „Zivilisation“ nicht mehr bewundert, sondern kritisiert, ihre Bedeutung aber freilich nicht bestritten. Die Tatsache, dass sich westliche ökonomische Strukturen in der internationalen Konkurrenz durchsetzen und hier schließlich für lange Zeit dominant wurden, war anfangs eine Folge der Besonderheiten der westlichen Wirtschaft, ihrer kapitalistischen Organisationsformen und der damit verbundenen hohen Wettbewerbsfähigkeit. Wie man das bewerten mag, ist eine andere Frage.
Es war auch diese überlegene Wettbewerbsfähigkeit und die von ihr ermöglichten materiellen Gewinne und die damit gegebene Erweiterung der politischen Handlungsspielräume, die das kapitalistische Wirtschaften so attraktiv erscheinen ließen, dass es sich sukzessiv global ausbreitete. Der Aufstieg Chinas nach den Reformen des Deng Xiaoping hin zu basalen kapitalistischen Organisationsformen ist das beste Beispiel hierfür; China wurde vom Spielball der internationalen Arbeitsteilung zu ihrem mächtigen Akteur, ganz ähnlich wie es der Aufstieg einzelner westlicher Volkswirtschaften seit dem 17. Jahrhundert vorgemacht hatte. Und ebenso, wie sich seinerzeit viele von diesem Aufstieg bedroht sahen, geht es heute den Wirtschaften, die unter der erstarkenden chinesischen Konkurrenz leiden: sie unterstellen unfaire Praktiken, wo andere schlicht wettbewerbsfähiger sind. Helfen wird das wenig: Man kann sich mit Gewalt zeitweilig Vorteile verschaffen. Dauerhafte Leistung aber hängt an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit, die noch am ehesten unter marktwirtschaftlich-kapitalistischen Bedingungen sich entfalten kann; stehlen kann man sie nicht.
Werner Plumpe war von 1999 bis 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) und ist u.a. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG), Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied der Frankfurter Historischen Kommission.
Literatur:
- Robert C. Allen: The British Industrial Revolution in Global Perspective. Cambridge 2009.
- Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München 2014.
- Maxine Berg (Hg.): Goods from the East 1600-1800: Trading Eurasia. London 2014.
- Eric Lionel Jones: Das Wunder Europa. Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens. Tübingen 1991 (zuerst engl. 1981).
- David Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Berlin 1999.
- Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München 2003.
- Joel Mokyr: The Enlightened Economy. An Economic History of Britain 1700-1850. New Haven 2009.
- Prasannan Pathasarathi: Why Europe grew rich and Asia did not. Cambridge/Mass. 2011.
- Werner Plumpe: Das Kalte Herz. Kapitalismus: Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin 2019.
- Kenneth Pomeranz: The Great Divergence. China, Europe and the Making of the Modern World Economy. Princeton 2000.
- Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015. München 2017.
- Peer Vries: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums: England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2013.
- E. A. Wriley: Energy and the English Industrial Revolution. Cambridge 2010.