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Zwischenruf

Postkolonialer Antisemitismus: Edward Saids intellektuelle Brandstiftung

von Marcel Matthies

Anmerkungen zum Beitrag „Postkoloniales Denken“ von Alan Posener

Edward W. Said, bis 2003 Professor für Englische Literatur und Komparatistik an der Columbia University in New York, gilt als einflussreichster Wegbereiter des Postkolonialismus. Weil er die Existenz des Judenstaats für illegitim erklärt und weil seine Werke die Grundlage für den Israelhass linker Aktivisten bilden, soll hier die Frage nach dem Zusammenhang von Saids Denkschule und der antizionistischen Agitation an Universitäten diskutiert werden.

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Die erste Solidaritätserklärung mit dem Blutrausch der Hamas am 7. Oktober 2023 wurde an der Columbia University in New York verfasst. Dort ist das Zentrum der antiisraelischen Proteste. Schließlich ist die Elite-Universität die Geburtsstätte des Postkolonialismus. Wegbereiter dieser Lehre ist Edward W. Said. Er war hier von 1963 bis 2003 als Professor tätig, um eine Denkschule zu begründen, die sich in diesen Tagen vielfach als akademische Grundlage des Israelhasses erweist. Mit seinem Hauptwerk „Orientalism“ hat er 1978 das Gründungsdokument der postkolonialen Studien veröffentlicht. Ein Jahr später veröffentlicht er „The Question of Palestine“, das zur Kampfschrift eines dezidiert antizionistisch motivierten Aktivismus geworden ist. Bereits 1989 wurde Said in der Zeitschrift Commentary daher als „Professor of Terror“ bezeichnet und vor seiner Lehre gewarnt: Ob die Bezeichnung Said treffend charakterisiert, ist bis heute umstritten. Doch die bekannte Fotografie, die Said dabei zeigt, wie er im Jahr 2000 an der Grenze von Libanon zu Israel einen Stein auf einen israelischen Kontrollposten wirft, macht deutlich, dass er seine Tätigkeit als Professor untrennbar mit der Rolle eines antizionistischen Aktivisten verknüpft.

 

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Diesem Zwischenruf liegt die These zugrunde, dass Saids auf einer beachtlichen Komplexitätsreduktion basierende intellektuelle Brandstiftung dazu beiträgt, dass sich heute eine zum Selbstzweck gewordene jihadistische Gewalt als legitime Form der Dekolonisierung inszenieren lässt. Der Text knüpft thematisch an Alan Poseners Beitrag „Postkoloniales Denken – Eine Genealogie“ an. Posener gibt darin einen Überblick über viele fragwürdige Aspekte des Postkolonialismus, ohne aber danach zu fragen, ob eine „Denkschule“ akzeptabel ist, die auf Aktivismus hinausläuft und eine Anleitung für ein Denken in Schablonen darstellt. Was es heißt, wenn Said als deren Begründer davon ausgeht, dass Wahrheit, Wissen und Erkenntnis vor allem Ausdrucksformen von Macht seien, soll hier an seiner Weltanschauungsfolie vorgeführt werden.
 

Schlussstrich unter die Gedächtniszeit des Holocaust?

Der Israelhass vieler Linker wird in der Gegenwart durch einen von den Critical Whiteness Studies inspirierten Antirassismus begründet. Dieser teilt die Welt in Schwarz und Weiß auf und spricht dem Judenstaat trotz einer äußerst heterogen zusammengesetzten Gesellschaft das Existenzrecht ab, eben weil er als „weiß“, kolonialistisch und rassistisch gilt. Darüber hinaus wird Juden das Privileg einer negativen Erwählung aufgebürdet, die sich, wie der deutsch-israelische Historiker Dan Diner zeigt, für den Postkolonialismus aus dem Glauben an ein Aufmerksamkeitsprivileg – einem jüdischen Exzeptionalismus – speist: Weil der Holocaust in der Gedächtnisgeschichte prioritär behandelt werde, würde kolonialen Verbrechen angeblich zu wenig Bedeutung beigemessen werden, wodurch Juden aufs Neue zum Hassobjekt der Völker gemacht werden.

So verurteilt schon Said in seinem Palästina-Buch das Gros der Intellektuellen und die gesamte [!] Medienindustrie in den USA dafür, dass die Bedeutung von Israel und dessen ideengeschichtlichen Umfelds mit keinem anderen Anliegen verglichen werden könne. Auch die erstmals 1978 ausgestrahlte TV-Serie „Holocaust“ wird von Said abgelehnt, weil sie zumindest teilweise eine Rechtfertigung des Zionismus intendiere.

Dass die britische Kolonialmacht während des Zweiten Weltkriegs eine Einreise von Juden in das Mandatsgebiet Palästina ermöglicht habe, stellt für Said bereits ein irreversibles Unrecht dar: „Ich denke, europäische Juden hätten in anderen Ländern untergebracht werden können, etwa in den USA, Kanada und England. Ich gebe den Briten immer noch die Schuld daran, dass sie Juden nach Palästina kommen ließen, anstatt sie woanders unterzubringen.“ Neben einer absoluten Ignoranz gegenüber dem Projekt der Kibbuzim zeigt sich hier Saids unerbittliche Einstellung gegenüber der ausweglosen Situation von Juden während des Zweiten Weltkriegs. Er verkennt zudem, dass die britische Mandatsmacht damals aus Rücksichtnahme auf die arabische Bevölkerung sehr rigide Einreisebeschränkungen über das Mandatsgebiet Palästina verhängte, was die Rettung von unzähligen Juden auch hier unmöglich gemacht hat.
 

Saids Dämonisierung des Zionismus

Said sieht Israel von einer „kolonialen Apartheid-Politik“ durchdrungen. Doch er meint im Zionismus nicht „nur“ eine schlichte Reproduktion des europäischen Kolonialismus nach Art des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Der Zionismus sei viel mehr als ein ungerechtes koloniales Herrschaftssystem, denn mithilfe der zionistischen Organisationen werde das Territorium auch heute noch illegal betreten, besiedelt und vereinnahmt, so Said. Denn der Zionismus habe sich selbst niemals eindeutig nur als jüdische Befreiungsbewegung verstanden; vielmehr hätten die kolonialen Siedlungsprojekte im Orient Priorität gehabt. Das heißt, Said sieht in der Nationalbewegung der Juden primär ein parasitäres Projekt.

Saids antiisraelische Rhetorik zeichnet sich durch geschichtsrevisionistische Verzerrungen aus. In einem 2004 veröffentlichten Essayband schreibt er, dass Palästinenser unter israelischer Besatzung genauso machtlos seien wie Juden in den 1940er Jahren. Studenten an der Columbia University stigmatisieren Israel daher nicht zufällig etwa als „das neue Nazi-Deutschland“. Die Gleichsetzung von Zionismus und Nationalsozialismus hat bei Said Methode. Beide will er als gleichermaßen kolonialrassistisch verstanden wissen. Paradigmatisch ist eine Aussage in einem Interview, das der jüdische Israeli Ari Shavit im Jahr 2000 mit ihm geführt hat: Said antwortet auf dessen Frage, ob es aus seiner Sicht nicht unvermeidbar sei, Israelis zu hassen, mit der vielsagenden Gegenfrage, ob dieser denn die deutschen Nazis hasse. Von einer ähnlich absurden Verharmlosung der NS-Barbarei zeugt auch Saids Reaktion auf die zurückgezogene Einladung der Sigmund-Freud-Gesellschaft im Jahr 2001: Wie Freud aus Wien verjagt worden sei, weil er Jude war, sei jetzt er verjagt worden, weil er Palästinenser ist.

In einigen Passagen in „The Question of Palestine“ wird Israel als satanischer Terrorstaat mit genozidaler Absicht dargestellt, etwa wenn Said über die „Entmenschlichung des Arabers“ durch die Zionisten schreibt. Er unterstellt „den Zionisten“, dass sie „nach 1948 die größten Anstrengungen unternahmen, um die arabischen Palästinenser tatsächlich zu eliminieren“. Indem er die NS-Analogie terminologisch fortsetzt, inszeniert er die früheren Opfer der Nazis als Wiedergänger der einstigen Massenmörder: „Nothing was spared the Arabs, from torture to concentration camps [!], deportation, razed villages, defoliated fields [...], destroyed houses, confiscated lands, ‚transferred‘ populations numbering well into the thousands.“ Das kollektive Leid von Juden in den 1940er Jahren setze sich laut Said in den Leiden des palästinensischen Volkes fort. Angesichts dieser Gleichsetzung von Leiden ist es nur konsequent, dass Said Entschädigungen für die sogenannte Nakba fordert und ausgerechnet in den israelischen Forderungen gegenüber Deutschland den unmittelbaren Präzedenzfall dafür vorliegen sieht, wie er in seinem Buch „Frieden in Nahost?“ ausführt. Dass die Flucht und Vertreibung der Palästinenser eine Folge des Angriffs fünf arabischer Armeen auf den neu ausgerufenen Judenstaat war, blendet Said aus.

 

Die Wiederkehr der Judenfrage in der Chiffre Dekolonisierung

Das zweifelhafte Verdienst von Saids Schrift „The Question of Palestine“ besteht darin, ein Modell im Akademiker-Milieu salonfähig gemacht zu haben, das die Faktizität jüdischer Staatlichkeit nicht anerkennt. Die „lustvolle Selbstbarbarisierung“ (Jan Philipp Reemtsma), mit der an Universitäten zur Abschaffung Israels aufgerufen wird, macht deutlich, dass Dekolonisierung im Kontext des Nahost-Konflikts eine wissenschaftsförmige Chiffre für den Drang ist, die Judenfrage neu zu stellen. Insbesondere im Postkolonialismus wird bis heute ignoriert, dass das Vorgehen antizionistischer Terror-Organisationen außerhalb einer zweckrationalen Logik steht: Um Israel in einen möglichst langen Krieg zu verwickeln, hat die Hamas am 7. Oktober 2023 239 Geiseln nach Gaza verschleppt. Wer die sogenannte Gewaltspirale im Nahen und Mittleren Osten zu begreifen sucht, ohne dabei zu reflektieren, dass die Zerstörung Israels über dem Selbsterhaltungsprinzip transnational agierender Mörderbanden steht, verfehlt die Dynamik dieses Kriegs. Demgemäß wird dabei das Leid der ins Kriegsgeschehen verwickelten Bevölkerung von der Hamas und der Hisbollah einkalkuliert.

Said ist Stichwortgeber eines Geschichtsrevisionismus, der dadurch gekennzeichnet ist, erstens die Existenz des Judenstaats für illegitim zu erklären, zweitens den Hass auf Israel im Westen zu einem wichtigen Anliegen des Aktivismus zu machen, drittens historisch blind für die Auschwitz zugrundeliegenden Besonderheiten zu sein und viertens diese Blindheit zum Zweck der Hetze gegen Israel zu wenden. Damit dichtet Said den Postkolonialismus systematisch gegen die Erfahrung ab, dass die zentrale Ursache des arabisch-palästinensisch-israelischen Konflikts die vollständige Negation des Zionismus auf der arabischen Seite war und bis heute ist. Derweil wird in Columbia, Harvard und andernorts geerntet, was Edward Said gesät hat.

 

Marcel Matthies ist Literaturwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie Ideologiekritiker. Er wurde 2023 mit seiner Dissertationsschrift „Literarische Gestaltung jüdischer Identität bei Maxim Biller und Doron Rabinovici. Vier Romane im Schatten der Shoah und im Widerschein Israels“ promoviert.
 

Literatur:

  • Diner, Dan: Geschichte des Antisemitismus: Er ist wieder da. In: F.A.Z. Online, 16.01.2024, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/geschichte-des-antisemitismus-laengst-ueberwunden-geglaubte-judenfragen-19450273.html, (zuletzt abgerufen: 19.11.2024)
  • Elbe, Ingo: Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung. Berlin 2024.
  • Forstenhäusler, Robin / Henkelmann, Katrin et al. (Hg.): Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. Berlin 2022.
  • Friedländer, Saul: Ein Genozid wie jeder andere? In: Ders., Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner, Jürgen Habermas (Hg.): Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. München 2022, S. 15-31.
  • Grigat, Stephan: Zweierlei Vertreibungen, zweierlei Integration. Die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Staaten, ihre Bedeutung für Israel und der arabisch-islamische Antisemitismus. In: Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage. Leipzig 2019, S. 9-27.
  • Reemtsma, Jan Philipp: Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären? Essay. In: Ders.: „Sagt, hab ich recht?“ Drei Reden zur Gegenwart alter Probleme. Hamburg 2024, S. 33-64.
  • Rensmann, Jörg: Der Mythos Nakba. Fakten zur israelischen Gründungsgeschichte (Herausgegeben von den Arbeitsgemeinschaften der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V.), Mai 2019, https://www.mideastfreedomforum.org/fileadmin/editors_de/Broschueren/Der_Mythos_Nakba.pdf (zuletzt abgerufen am 19.11.2024)

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23. Juli 2024
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