Die Philosophen, so Karl Marx, hätten bislang die Welt nur interpretiert. Es komme aber darauf an, sie zu verändern. Ein Anspruch, der in und an der Wirklichkeit des entwickelten Kapitalismus gescheitert ist, im real existierenden Sozialismus aber die Philosophie zur Hure der Mächtigen gemacht hat. Und schon stockt der Autor. Darf man „Hure“ noch sagen? Vor allem abwertend? Ist das nicht eine Beleidigung der Sexarbeiter:innen, Ausdruck einer männlich-chauvinistischen, christlich-bigotten Sexualmoral?
Dieses Stocken ist einerseits Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zu größerer Liberalität; andererseits des Siegeszugs poststrukturaler Positionen. Denn auf das Scheitern der 68er beim Versuch, mit Marx die Strukturen der Gesellschaft zu verändern, folgte der lange Marsch der Theorien Michel Foucaults und seiner Adepten durch die Institutionen. Es komme nicht darauf an, die Welt zu verändern, so der Poststrukturalismus, sondern darauf, sie anders zu interpretieren. Erst wenn man anders über die Welt spreche, sie gar nicht anders denken könne, denn als unendliche Verschachtelung von Diskursen, die Herrschaft zementieren und alle Äußerungen der Kultur durchdringen, könne sie sich vielleicht verändern.
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Was bei Foucault ein Programm unabschließbarer Selbstkritik war, wird in der Verflachung der postkolonialen Theorie – einer vom Poststrukturalismus abgeleiteten Ideologie – selbstgerecht als Waffe gegen die vermeintliche Allgegenwart kolonialer Denk-, Fühl-, Ausdrucks- und Verschweigensweisen in der westlichen Welt eingesetzt. In dieser Lesart ist alles, was der Westen hervorgebracht hat, von der Erbsünde des Kolonialismus und Rassismus affiziert. Auch und gerade jene Bewegungen, die sich universalistisch gerierten und gerieren, von der Aufklärung und den amerikanischen und französischen Revolutionen über den Liberalismus und die Arbeiteremanzipation bis hin zum Feminismus und den LGBTQ+-Aktivisten, sofern sie sich nicht dem antikolonialen Imperativ unterordnen.
Weißsein: Eine Daseinsform a priori?
Jemand wie der Autor, Kind eines jüdisch-deutschen Vaters und einer englischen Mutter, aufgewachsen in der damaligen britischen Kolonie Malaya (später Malaysia), privilegiert, weiß und inzwischen alt – so jemand könne schlechterdings nicht empfinden, was es heißt, kolonisiert aufzuwachsen und auf Schritt und Tritt mit kolonialem Denken konfrontiert, ständig gemessen zu werden an Kriterien, die weiße Männer wie der Autor über Generationen als selbstverständlich tradiert haben. Er müsste das Weißsein verlernen, und auch das kann ihm nie vollständig gelingen.
Das stimmt. Und es hilft wenig, wenn der Autor vorbringt, die Argumentation erinnere ihn an seine Studentenzeit in den 1970er Jahren, als er Mitglied einer radikalen maoistischen Sekte war und sich als „kleinbürgerlicher Intellektueller“ ritueller Reinigung durch Kritik und Selbstkritik unterziehen musste. Dadurch ist er ja auch nicht Proletarier geworden.
Auf die Beziehungen und Parallelen zwischen der heute an Universitäten und in Kultureinrichtungen modischen postkolonialen Theorie und dem in den 1970ern in den gleichen Institutionen modischen Marxismus kommen wir noch zurück. Vorweg aber gilt es festzuhalten: Selbstverständlich gibt es Klassen, Klassenunterschiede und Klassenkampf. Selbstverständlich gibt es Rassismus, der sich täglich in Diskriminierungen aller Art und zuweilen in mörderischen Angriffen äußert. Selbstverständlich kann jemand, der sich einbildet, für die Arbeiter zu sein, durch eine Ideologie – wie den Marxismus – verführt werden, die den Arbeitern schadet. Selbstverständlich kann jemand, der glaubt, von Rassismus frei zu sein, einem rassistischen Vorurteil unterliegen oder einer Ideologie – wie dem Postkolonialismus – verfallen, die den „persons of color“ und den Völkern des „globalen Südens“ schadet.
Kritik der postkolonialen Vernunft
Und ebenso stimmt es, dass auch diejenige, die sich sicher vor antisemitischen Ressentiments wähnt, ja gerade sie, einer antisemitischen Trope verfallen kann; und dass niemand, der nicht „als Jude gelesen“ wird, wirklich wissen kann, was es bedeutet, auf Schritt und Tritt dem Antisemitismus und Antijudaismus zu begegnen, der – wie der Historiker David Nirenberg nachgewiesen hat – alle Äußerungen der westlichen Kultur durchdrungen hat: auch und gerade die postkoloniale Theorie.
Denn das gehört ja zu den Widersprüchen dieser Theorie: Sie ist durch und durch westlich, auch in ihrer Kritik am westlichen Denken. Ihre Säulenheiligen, von Frantz Fanon über Edward Said bis hin zu Achille Mbembe und Judith Butler, sind Produkte der westlichen akademischen Tradition; ihre Kritik des westlichen Universalismus ist westlich und universalistisch; sie können sich gar nicht anders verstehen als mit Begriffen, die von westlichen Köpfen entwickelt wurden, und selbst in ihrer Verneinung, das wissen wir seit Hegel, sind diese Begriffe „aufgehoben“.
Es gibt eben keinen archimedischen Punkt außerhalb des europäisch-westlichen Denkens, von dem aus man dieses Denken aus den Angeln heben könnte. Denn der Synkretismus gehört zu seinen Besonderheiten seit den Tagen des frühen Christentums, das alle Einflüsse der damaligen Welt, jüdische Heilserwartung, hellenistische Philosophie, römisch-imperialen Universalismus, mediterrane Mysterienkulte und Heldensagen und kleinasiatische Muttergottheiten in sich aufnahm.
Der Wille zum Antiimperialismus
Wenn im Zuge der kolonialen Expansion der Globus europäisiert wurde, so wurde doch auch der Westen globalisiert; eine Tendenz, die sich heute vor allem durch Immigration verstärkt. Schon vor Jahrzehnten vermerkte der britische Autor Anthony Burgess, Autor einer bitterbösen Romantrilogie über das kulturelle Scheitern der Briten in Malaya, dass die früheren Kolonialbeamten kein Heimweh mehr haben müssten nach dem verlorenen Paradies in Afrika oder Asien, da es nun zu ihnen nach Hause komme.
Die Postkolonialen aber erkennen diese Wechselwirkung nicht; erkennen weder, wie flexibel das westliche Denken ist, noch wie sehr ihr eigenes Denken westlich geprägt ist. So ist gerade die Vorstellung eines „globalen Südens“, der im Kampf gegen den Imperialismus vereint ist, eine Erfindung des europäischen Revolutionärs Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Da die von Marx vorausgesagte internationale proletarische Revolution ausblieb, brauchte die Sowjetunion Verbündete. 1920 riefen die Bolschewisten auf dem „Kongress der Völker des Ostens“ in Baku die kolonisierten Völker zum „Heiligen Krieg“ gegen Großbritannien und Frankreich auf.
In den 1960er Jahren erklärte sich das kommunistische China Mao Zedongs zum Führer der „unterdrückten Völker und Nationen“. Bis heute kleidet Peking seine imperialen Ambitionen in das Gewand einer antiimperialistischen Front, wie es übrigens auch die japanischen Imperialisten im Zweiten Weltkrieg taten.
In West-Berlin, Paris und New York begeisterten sich die „68er“ für China und den „Kampf der Dritten Welt“, nicht zuletzt, weil sie – zuhause eine isolierte Minderheit – sich dadurch als Teil einer mächtigen weltweiten Bewegung empfinden konnten. Dabei hätte man sie wegen ihrer antiautoritären Ansichten und libertären Lebensweise in Peking, Hanoi oder Havanna ins Gefängnis gesteckt oder liquidiert.
Antisemitismus als postkoloniales Dispositiv
Die heutige postkoloniale Bewegung im Westen hat ähnliche psychische Ursachen und erfordert ein ähnliches Aushalten kognitiver Dissonanz: Rassismus ist abzulehnen, aber der Hass auf Menschen, die als Weiße gelesen werden, wie etwa Juden, ist nicht Rassismus, sondern Ausdruck der Emanzipation der „people of color“. Der ethnisch begründete Nationalismus ist in Europa rückschrittlich, aber im globalen Süden antikolonial, also fortschrittlich. Religion ist Opium fürs Volk und Aberglaube im Dienst der Herrschenden, außer wenn es sich um Schamanen oder andere kulturelle Äußerungen angeblich „indigener“ Völker handelt; der Islam ist zu respektieren, auch wo er intolerant ist, die Unterordnung der Frau und die Unterdrückung von Schwulen propagiert, weil Muslime zu den rassistisch unterdrückten Gruppen zählen. Frauen sollen sexuell und beruflich emanzipiert sein, aber etwa in Palästina im Interesse der Einheit im Kampf gegen Israel Kopftuch tragen und Kinder großziehen. Denn darauf hinzuweisen, dass im jüdischen Staat Frauen und LGBTQ+-Personen mehr Freiheiten genießen als in jedem muslimisch geprägten Staat, wäre „Pinkwashing“ des „Siedler-Kolonialismus“. Der Antisemitismus ist nämlich als Rassismus abzulehnen, aber das Ansinnen, den Nahen Osten „from the River to the Sea“ judenrein zu machen, ist Kernpunkt des postkolonialen Bekenntnisses.
Um den eigenen Antisemitismus vor sich selbst zu maskieren, greift der Postkolonialismus zu einer Reihe ideologischer Täuschungsmanöver. Sie dienen allesamt der Delegitimierung des jüdischen Staates.
Da unterstellt wird, es gäbe diesen Staat nicht ohne den Holocaust, muss zunächst die „Singularität“ der Schoah bezweifelt werden. So wird der Antisemitismus als eine Form des Rassismus charakterisiert, der wiederum als pseudowissenschaftliche Rechtfertigung der kolonialen Unterdrückung, Versklavung und Ausrottung nichtweißer Menschen entwickelt wurde. Die Ursünde ist in diesem Narrativ der Kolonialismus. Der deutsche Theoretiker des Postkolonialismus Jürgen Zimmerer brachte das in seinem vielzitierten Essay „From Windhoek to Auschwitz?“ zum Ausdruck, wobei das Fragezeichen lediglich davon ablenken soll, dass er die damalige Kolonie „Deutsch-Südwest“ als Modell und Vorgänger für Auschwitz sieht.
Das erinnert an den nach rechts gedrifteten Historiker Ernst Nolte, der 1986 ebenfalls die Singularität des Holocausts anzweifelte und das Primat des Gulags als Modell betonte. Während Nolte die Fokussierung auf den „Zivilisationsbruch“ des Judenmords als Ausdruck einer linken Strategie kritisierte, die vom Kampf gegen den Kommunismus ablenkte, wird diese Fokussierung von postkolonialen Denkern – etwa vom Deutsch-Australier Dirk Moses – als „deutscher Katechismus“ verspottet, der als Teil einer rechten Strategie die deutschen kolonialen Verbrechen verschleiern und die deutsche Unterstützung des angeblichen israelischen Genozids an den Palästinensern rechtfertigen soll.
Divergenz von Rassismus und Antisemitismus
Dabei übersehen die Postkolonialen erstens, dass sich zwar der Antisemitismus im 19. Jahrhundert des Vokabulars und der Methoden des Rassismus bediente, aber als Antijudaismus in die christliche Kultur des Abendlands eingeschrieben ist. Das rassistische Konzept der Verschiedenheit des „Bluts“ findet sich bereits im frühneuzeitlichen Antisemitismus, etwa bei der Spanischen Inquisition, die nach der Vertreibung der Juden und Muslime von der iberischen Halbinsel die verbliebenen Conversos wegen fehlender limpieza de sangre unter Generalverdacht stellte.
Zweitens aber behauptet der gewöhnliche Rassismus – übrigens auch jener der Araber etwa im Sudan gegenüber der schwarzen Bevölkerung oder der Türken und Perser gegenüber Arabern und Kurden – eine Überlegenheit der eigenen Ethnie. Sie rechtfertige die Unterdrückung „minderwertiger Rassen“. Der Antisemitismus aber schreibt „dem Juden“ geradezu übermenschliche, ja diabolische Kräfte zu, die es ihm ermöglichen, die anderen Völker zu unterjochen oder gar, wie die Nazis behaupteten, auszurotten. Deshalb erscheint der Judenmord im Narrativ der Nationalsozialisten – wie bei den periodischen christlichen Massenmorden an den Juden im Mittelalter – als putative Notwehr und als Erlösungstat. Ein solches Narrativ findet sich nirgends sonst in den langen und blutigen Annalen rassistischer Untaten. Das – und nicht die absolute Zahl der Opfer oder die angeblich „industrielle“ Durchführung des Massenmords – ist das „Singuläre“ am Holocaust.
Schon gar nicht ist mit der Singularität gemeint, wie einer der Urväter des Postkolonialismus, Frantz Fanon, behauptete, dass erstmalig „Weiße“ von jenen Methoden betroffen worden seien, die sonst den Kolonialvölkern galten. Denn erstens galten die Juden den Antisemiten nicht als Weiße, sondern eben als „Semiten“. Wobei den anderen Semiten – den Arabern etwa – keine Vernichtung angedroht wurde. Zweitens aber hatten Lenin und Stalin schon – worauf Nolte hinwies – Millionen Weiße auf dem Gewissen, von den Millionen Opfern des Ersten Weltkriegs abgesehen.
Tatsächlich hatten die Nazis den unterworfenen slawischen Völkern das gleiche Los zugedacht wie den kolonialen Völkern, nein eigentlich ein schlimmeres, denn die Vorstellungen der Nazis vom Kolonialismus waren eine überzeichnete Karikatur der wirklichen Verhältnisse. Doch dieser innereuropäische Kolonialismus erregte und erregt, anders als Fanon meinte, bis heute außerhalb Osteuropas viel weniger Abscheu als der außereuropäische Kolonialismus; schon gar nicht bei den Postkolonialen.
Jedoch hatte das Ansinnen, die genetische Spur der Juden aus dem Buch der Geschichte zu tilgen, keinen kolonialen Vorgänger, weil er weder ökonomisch noch machtpolitisch motiviert war; der Holocaust war ein Verbrechen sui generis.
Holocaust und postkolonialer Kitsch: Kontinuitäten
Wenn aber die Postkolonialen einerseits den Antisemitismus als gewöhnlichen Rassismus und den Holocaust als quasi-koloniales Verbrechen relativieren, so schreiben sie das antisemitische Narrativ der Nationalsozialisten fort, wenn sie den jüdischen Staat als ein „weißes Siedler- und Apartheidsregime“ analog den früheren Regimes in Rhodesien oder Südafrika bezeichnen. Hier erscheinen die Juden als fremde Invasoren und Unterdrücker; die Araber jedoch, zu „Palästinensern“ verklärt, den angeblich autochthonen oder indigenen Bewohnern Palästinas, vereidigen den Zusammenhang von „Blut und Boden“. Völkischer Kitsch in Gestalt knorriger Bauern mit Eselskarren, die der von Israel repräsentierten „Zivilisation“ die Stirn bieten, trifft auf die Mär von der Allmacht der Juden, die dank ihrer Beherrschung der Medien und ihrer Ausschlachtung des schlechten Gewissens der Europäer ihr Projekt der ethnischen Säuberung Palästinas betreiben.
Dass der im globalen Süden und besonders unter Muslimen grassierende Antisemitismus ein europäischer – nicht nur deutscher – Exportschlager war; dass mithin jene, die vom Verschwinden Israels und einem Palästina träumen, in dem die Juden bestenfalls „Dhimmis“ wären, abhängig vom Wohlwollen der arabischen und muslimischen Mehrheit, realistisch gesehen aber zu Millionen fliehen würden, um der Endlösung der Judenfrage im Nahen Osten zu entgehen, lediglich jene Träume recyceln, die schon die Nazi-Strategen hegten und mit Hilfe des Großmufti von Jerusalem verwirklichen wollten – für diese Zusammenhänge sind die Postkolonialen willentlich blind.
Israel ist aber kein Vorposten des Imperialismus, keine Nachhut des Kolonialismus. Der Zionismus war eine antiimperialistische, antikoloniale nationale Befreiungsbewegung, und ist eine der wenigen, vielleicht die einzige, der es gelungen ist, ein demokratisches, liberales, ökonomisch erfolgreiches, wissenschaftlich, technisch und sozial fortschrittliches Gemeinwesen zu errichten. Vielleicht ist es diese ungeheure narzisstische Kränkung, die den maßlosen Hass auf Israel provoziert. Schon beim alten Judenhass spielte der Neid auf den Erfolg der Juden eine wesentliche Rolle. „Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“ So Martin Luther in seiner genozidalen Hetzschrift wider die Juden. Das klingt wie so manches postkoloniale Pamphlet gegen die Zionisten.
Alan Posener ist ein britisch-deutscher Journalist und Autor.
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