Beides – wachsendes energiepolitisches Gewicht und ihre steigende Finanzkraft – geben den Mitgliedsstaaten des Golfkooperationsrates (GCC) zweifelsfrei potente Machtinstrumente an die Hand, die sich politisch einsetzen lassen. Schon in der Vergangenheit, etwa während des Ölpreisbooms der 2000er Jahre, wussten die Golf-Staaten die genannten Instrumente geschickt anzuwenden und es überrascht wenig, dass dies seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges nicht anders ist. Und doch hat sich die Art und Weise, wie die GCC-Staaten ihren Einfluss geltend machen, gewandelt. Dieser veränderte Einsatz geopolitischer Machtinstrumente ist deshalb so signifikant, weil er symbolisch für größere geostrategische Verschiebungen steht, welche längst die Außenpolitik der Golf-Staaten prägen und ihre neue Rolle auf der Weltbühne kennzeichnen.
Rückkehr zur Rolle als Swing Producer
Zu den wichtigsten Folgen globaler Energieengpässe seit dem Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine gehört, dass die Golf-Staaten ihre angestammte Funktion als „Swing Producer“ zurückerlangt haben. Bis zu dem Verfall der Ölpreise von 2014-16 war dies immer ihre traditionelle Rolle gewesen, insbesondere die Saudi-Arabiens, das durch seine Fähigkeit, quasi nach Belieben Produktionskapazitäten auf- oder abzuschalten, den Ölpreis stabilisieren konnte. Mit der Schieferölrevolution in den USA seit 2014 und dem folgenden Verfall des Ölpreises von 120 auf 30 US-Dollar hatte der Golf diese Rolle jedoch verloren. Seitdem waren es bei Preisanstiegen US-Ölproduzenten, die Kapazitäten erhöhten und die Preise damit wieder drücken konnten – oder umgekehrt bei fallenden Kursen weniger Bohrungen durchführten.
Nachdem die zuvor signifikanten russischen Energieexporte von Teilen des Weltmarkts, insbesondere in Europa, weggefallen sind und nur noch zu Dumpingpreisen in Asien und Afrika verkauft werden können, hat der Golf nun die oben genannte traditionelle Funktion wieder zurückerlangt. Dies liegt daran, dass die Golf-Staaten, neben den USA, zu den wenigen Energielieferanten gehören, die über zusätzliche Kapazitäten verfügen, mit welchen sich das knappe Angebot auf dem Weltmarkt erhöhen ließe. So haben etwa Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) überschüssige Produktionskapazitäten von 1,8 Millionen Barrel pro Tag – und wollen ihre Kapazitäten mittelfristig sogar auf 3 Millionen Barrel pro Tag ausbauen. Gleichzeitig produzieren die Golf-Staaten so günstig, dass ein Aufschalten von Kapazitäten auch bei niedrigen Ölpreisen noch ökonomisch sinnvoll ist. Durch ihre besondere Kosteneffizienz könnten Saudi-Arabien und die VAE selbst bei einem fünfzigprozentigen Preisverfall noch profitabel Öl fördern.
Ihre wiedergewonnene Rolle als Swing Producer nutzen die GCC-Mitglieder aber anders, als während der letzten Ölpreis-Hausse von 2002 bis 2008. Weit entfernt davon, westlichen Interessen blind zu folgen, behaupten die Golf-Staaten ihre eigene Unabhängigkeit und verfolgen mit ihrer Ölpolitik selbstbewusster eigene Interessen. Dies schlägt sich vor allem darin nieder, dass Saudi-Arabien und andere Golf-Staaten gemeinsam mit anderen Energielieferanten vehement versuchen, den Ölpreis durch Förderkürzungen hochzuhalten.
So hatte das Kartell ölproduzierender Staaten OPEC+ am 5. Oktober 2022 entschieden, ihre Ölförderung um 2 Millionen Barrel pro Tag zu kürzen – dies entspricht etwa 2% der gesamten weltweiten Ölproduktionsmenge. Mitten im Wahlkampf vor den US-Midterms wurde Saudi-Arabien, treibende Kraft hinter der OPEC-Entscheidung, von amerikanischer Seite vorgeworfen, mit dem Schritt in die Wahlen eingreifen und dem demokratischen Präsidenten Joe Biden mit hohen Energiepreisen schaden zu wollen. Doch auch am 2. April 2023 traf die OPEC+ erneut eine ähnliche Entscheidung und drosselte die Ölförderung noch deutlicher: um 4 Millionen Barrel pro Tag, ganze 4% der weltweiten Produktion. Für Juli und August dieses Jahres senkte Saudi-Arabien sogar erneut unilateral seine tägliche Förderung um immerhin weitere 1 Millionen Barrel.
Dies legt nahe, dass die Golf-Staaten ihre Macht am Ölmarkt weniger nutzen, um US-Innenpolitik zu beeinflussen. Vielmehr führen sie „Preisstabilisierungen“ nun unabhängig von westlichen Interessen und rein nach eigenen strategischen Zielen durch. Hierbei liegt der Fokus der GCC-Staaten – neben der Sanierung klammer Staatshaushalte – darauf, Kapital für ihre Wirtschaftsreformprogramme, die sogenannten „Visions“, zu generieren. Deren Finanzierungsbedarf ist enorm; alleine das NEOM-Projekt in Saudi-Arabien benötigt mindestens Investitionen von 500 Milliarden US-Dollar. Schätzungsweise braucht Riad zur Finanzierung seiner ambitionierten ökonomischen Diversifizierung daher auch einen Ölpreis von 80 US-Dollar und mehr. Um diesen zu erzielen, wird die gestiegene Macht auf den globalen Energiemärkten mit Nachdruck eingesetzt.
Zwar gelingt es den Golf-Staaten nicht immer, ihren Einfluss als Swing Producer vollständig geltend zu machen; so dauert es angesichts weltweiter Konjunktursorgen lange bis Saudi-Arabiens Kalkül aufging und der Ölpreis auf 80 US-Dollar pro Barrel (Brent) anstieg. Insgesamt zeigt aber die Art und Weise, wie sich die Golf-Staaten als Swing Producer positionieren, dass man sich in den Hauptstädten am Golf inzwischen weniger an den strategischen Prioritäten Washingtons oder Brüssels orientiert, sondern stärker den eigenen Wirtschaftsinteressen Rechnung trägt und auch bereit ist, die eigenen Machtinstrumente am Ölmarkt dafür einzusetzen – selbst wenn dies in den USA auf Kritik stößt.
Geopolitische Emanzipation
Eine weitere Konsequenz aus der Energiekrise des vergangenen Jahres ist der gewaltige Gewinnsprung, der den Golf-Staaten durch gestiegene Ölpreise zugutekommt – hier handelt es sich um eine der größten Wohlstandsverlagerungen der letzten Jahre. Öl-Exporteure im Nahen und Mittleren Osten haben ca. 7% ihres BIPs an zusätzlichen Einnahmen generiert. Die Golf-Staaten alleine konnten durch den Höhenflug der Energiepreise Schätzungen zufolge im Jahr 2022 600 Milliarden US-Dollar einnehmen (zum Vergleich: Norwegen erwirtschaftete 2022 161 Milliarden US-Dollar zusätzlich, Russland 210 Milliarden US-Dollar). Ein Großteil davon konzentrierte sich auf Katar, Kuwait, Saudi-Arabien und die VAE, die in den nächsten fünf Jahren weitere beachtliche zusätzliche Einnahmen erwirtschaften dürften – auch wenn die Ölpreise kurzfristig wohl nicht zu ihrem Hoch des vergangenen Jahres zurückkehren werden.
Dieses Geld fließt nicht mehr vorrangig nur in die Zentralbanken der Golf-Staaten, wo es früher vor allem in Staatsanleihen im Westen investiert wurde, weil die Golf-Währungen an den Dollar gekoppelt sind und daher Devisenreserven aufgebaut werden mussten. Stattdessen fließen die „Übergewinne“ der Golf-Staaten zunehmend in ihre Staatsfonds, die schon heute ein kombiniertes Anlagevolumen von 3,5 Billionen US-Dollar verwalten. Auch wenn diese Staatsfonds grundsätzlich zurückhaltend auftreten, sind ihre Anlagen ein potentielles Machtinstrument mit weitreichendem Einfluss, wie die von ihren saudischen Investoren ausgelöste Krise der Credit Suisse Anfang des Jahres zeigt.
Auch hier spiegeln sich grundlegende internationale Machtverschiebungen wieder: Die Staatsfonds vom Golf treten heute anders auf, als beim letzten Öl-Boom in den 2000er Jahren. Während früher Staatsfonds der Golf-Staaten fast ausschließlich in Nordamerika und Europa investierten, wurden jetzt etwa 40% der Einnahmen außerhalb dieser Region investiert. Petro-Investitionen vom Golf verlagern sich zunehmend vom Westen in den Osten, vor allem nach Asien aber auch in arabische Länder – so hat der saudische Public Investment Fund (PIF) beispielsweise im arabischen Raum etwa 24 Milliarden US-Dollar angelegt und soll künftig 40 Milliarden US-Dollar jährlich in Saudi-Arabien selbst investieren. So wie sich die generelle strategische Ausrichtung der Golf-Staaten inzwischen weniger an den USA und Europa, sondern stärker an Asien, vor allem China, orientiert, folgen auch die Gelder dieser geostrategischen Schwerpunktverlagerung.
Gleichzeitig zeigt sich die Priorität der Wirtschaftsförderung zuhause auch an den Aktivitäten der Staatsfonds aus den Golf-Staaten – so investiert der saudi-arabische PIF im globalen Spitzensport, um dem Königreich internationale Reputation zu verschaffen und es als Investitionsstandort attraktiv zu machen. Beteiligungen des größten Staatsfonds aus Saudi-Arabien an Unternehmen, die Zukunftstechnologien wie Elektromobilität entwickeln, sollen gleichzeitig internationale Direktinvestitionen im Königreich nach sich ziehen, wie der Bau einer Fabrik in Dschiddah für Elektrofahrzeuge des mehrheitlich in PIF-Eigentum befindlichen US-Automobilherstellers Lucid zeigen.
Zudem verwenden die Golf-Staaten ihre zusätzlichen Staatseinnahmen zunehmend auch um sich durch Staatshilfen in Schwellen- und Entwicklungsländern in der eigenen Nachbarschaft Einfluss zu sichern – eine sogenannte „Bailout Diplomacy“. Mit diesen politisch motivierten Finanzhilfen – etwa eine Geldspritze von 22 Milliarden US-Dollar für die ägyptische Zentralbank, 24 Milliarden US-Dollar in Currency Swaps und Zentralbankeinlagen in der Türkei oder die Verlängerung einer Einlage von 3 Milliarden US-Dollar bei der Zentralbank Pakistans – werden in finanzielle Schieflage geratene Nachbarländer von den GCC-Staaten gerettet, die sich damit als Finanzgarant für Andere in der Region positionieren.
Doch auch hier ändert sich die Herangehensweise der Geldgeber vom Golf. Galt früher oft das Motto „no strings attached“, ist die jetzige Erwartung der Königshäuser am Golf, dass sich ihre Finanzhilfen auszahlen – insbesondere durch eine entsprechende Rendite. Sollte diese ausbleiben, liegt es aber nahe, dass dann möglicherweise auch politischer Einfluss geltend gemacht wird – ähnlich wie von Peking im Falle chinesischer Investitionen in Entwicklungsländern, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen können. Damit zeichnet sich insgesamt ab, dass Finanzhilfen, Investitionen und Bailouts zunehmend auch ein strategisches Instrument der Regional- und Außenpolitik der Golf-Staaten werden, die Zugänge und Einfluss im Wettbewerb mit anderen regionalen Akteuren sichern und politische Allianzen oder Abhängigkeiten festigen.
Ein strategischer Wandel am Golf
Die gegenwärtigen globalen Energieengpässe haben den Golf erneut in den globalen Mittelpunkt gerückt. Die zusätzlichen Staatseinahmen und gestiegene Relevanz als Energielieferanten werden folglich von den GCC-Mitgliedstaaten auch verstärkt als internationales Machtinstrument genutzt. Im Gegensatz zu früher jedoch haben sich die Länder am Golf von Washington und dem Westen emanzipiert und setzen ihre neugewonnene Macht anders ein. Dabei sind sie bereit, den Ölmarkt nach ihren nationalen Interessen zu gestalten und den vielleicht letzten Ölpreisboom des fossilen Zeitalters auszunutzen, um dringend benötigte Liquidität für ihre Wirtschaftsreformen zu generieren.
Zudem hat das vergangene Jahr noch einmal verdeutlicht, dass die Golf-Staaten längst ihren geopolitischen Fokus von West nach Ost verschoben haben und dieser neuen strategischen Schwerpunktsetzung auch mit ihren Investitionen folgen. Statt ihre Petro-Dollar ausschließlich in Europa und Nordamerika anzulegen, stärken die GCC-Länder ihre Investments in Asien sowie zuhause – und mittels Finanzhilfen in der eigenen Nachbarschaft auch ihren Einfluss von Südasien bis Ostafrika. Der Umgang der Golf-Staaten mit der Energiekrise nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hat noch einmal verdeutlicht, dass sich die Außenpolitik der Golf-Staaten und ihre Rolle auf der Weltbühne wandeln.