Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wird Integration im außenpolitischen Kapitel „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“ behandelt. Für neu angekommene Migrantinnen und Migranten soll es schnellere Zugänge zu Sprachkursen und Bildung geben. Dies soll künftig für alle, nicht mehr nur für diejenigen mit guter Bleibeperspektive gelten. Leistungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie für Geduldete sollen erweitert und Arbeitsverbote abgeschafft werden. Bleiberechte sollen für Schutzberechtigte sowie für abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerberinnen und Asylbewerber schneller und leichter erteilt werden. Die mit Integration verbundenen Fragen, die danach oder darüber hinaus erfolgen, werden im innen- bzw. gesellschaftspolitischen Kapitel „Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“ behandelt und nicht mehr unter dem Begriff Integration geführt. Stattdessen werden die Begriffe Teilhabe und Vielfalt verwendet. Herzstücke sind hier: (1) die Etablierung einer Antirassismus-und Antidiskriminierungspolitik, (2) das Verankern und Durchsetzen von Repräsentanz bzw. die Abbildung von Vielfalt durch Fördermaßnahmen und Zielvorgaben insbesondere in Bundesverwaltung und Unternehmen mit Bundesbeteiligung, aber auch in Wissenschaft und Medien und (3) das Erleichtern und Beschleunigen von Einbürgerungen.
Integration wird im Koalitionsvertrag somit als eine Art „Erstversorgung“ gefasst und auf einen ersten Zugang zu Sprache, Bildung und zum Arbeitsmarkt bezogen. Darüber hinausgehende Integrationspolitik wird weitgehend zur Antirassismus- und Antidiskriminierungspolitik umgewidmet. Ferner sollen Rechte beschleunigt gewährt und weniger an Forderungen geknüpft werden. Dies markiert eine Abkehr vom bisherigen Integrationsverständnis, die in Teilen der politisch-akademischen Debatte seit Längerem gefordert wurde.
In den vergangenen Legislaturperioden war Integrationspolitik vom Leitsatz „Fördern und Fordern“ geprägt. Sie beruhte auf der Idee von Anreizsystemen, die Migrantinnen und Migranten zu Integrationsbemühungen motivieren sollten. Rechte und Zugänge zum Sozialsystem wurden schrittweise gewährt, die Staatsbürgerschaft wurde erst am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses ermöglicht. Das Integrationsverständnis war ein eher umfassendes, das – zumindest idealtypisch neben den Bereichen Sprache, Bildung und Arbeit auch soziale Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft sowie ein mit ihr geteiltes Wertefundament umfasste.
In jüngerer Zeit wurden gegen dieses Verständnis folgende Kritikpunkte angeführt: (1) Die Verantwortung für eine erfolgreiche Integration würde zu stark auf Seiten der Migrantinnen und Migranten angesiedelt, stattdessen läge sie primär bei Staat und Mehrheitsgesellschaft. Tatsächlich seien tief in der Mitte der Gesellschaft verankerter struktureller Rassismus und Diskriminierung die Ursachen für Probleme der Integration, wie überproportionale Arbeitslosigkeit oder geringe Bildungserfolge unter bestimmten Migrantengruppen. (2) Das bisherige Integrationsverständnis wirke selbst diskriminierend und stelle Migrantinnen und Migranten und ihre Nachkommen als defizitär dar und konstruiere sie als „andere“. Das sei eine grundsätzliche Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. (3) Daher seien statt Integration Begriffe wie Vielfalt und Teilhabe zu verwenden. Vielfalt stehe nach dieser Lesart dafür, dass Aufnahmegesellschaft und Staat Toleranz und Wertschätzung für Kulturen von Minderheiten entwickeln und diesen eine von Einschränkungen freie Entfaltung sowie Schutz garantieren müssten. Eine weitere Hauptaufgabe sei die Sicherung von Teilhabe, beispielsweise durch verbindliche Zielvorgaben und Quotierungen. (4) Zugänge zu Rechten, zum Sozialsystem und zur Staatsbürgerschaft seien deshalb schneller zu eröffnen als bisher und sollten nicht oder weniger an Forderungen geknüpft sein.
Dieses neue Integrationsverständnis ist in Expertenkreisen nicht unumstritten und in einigen europäischen Nachbarländern wieder auf dem Prüfstand oder wird bereits revidiert. So kritisierte beispielsweise der Zeithistoriker Andreas Rödder, dass es Migrantinnen und Migranten erneut zu Objekten mache, wenn sie in erster Linie als Opfer von Diskriminierung adressiert würden. Im Rahmen der Fachkommission der Bundesregierung zur Integrationsfähigkeit wurde mehrfach bemängelt, dass in einem solchen Integrationsverständnis Integrationsprobleme, die sich nicht auf Diskriminierung oder Rassismus zurückführen ließen, nur unzureichend Platz fänden. Der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama argumentiert grundsätzlich. Wenn der Schutz der Kulturen von Minderheiten Primat über den Schutz der Autonomie von Individuen erhalte, insbesondere in Fällen, in denen „Minderheitenkulturen“ die Autonomie ihrer Mitglieder beschnitten, seien die Ideen des klassischen Liberalismus bedroht. Diese Warnung scheint auch immer dann durch, wenn über Quotenregelungen und Chancengerechtigkeit diskutiert wird. Die Debatte um Äußerungen des SPD-Politikers Wolfgang Thierse hat das Streitpotenzial dieser Themen deutlich gemacht. Solche gesellschaftlichen Debatten werden durch das neue Integrationsverständnis der Ampelkoalition, bei dem der Aspekt des Forderns in den Hintergrund rückt, weiter zunehmen. Auch ein Blick in europäische Nachbarländer könnte in diese Richtung weisen. Nach langer Erfahrung mit einer Politik, wie sie ähnlich jetzt auch in Deutschland der neue Koalitionsvertrag in Aussicht stellt, wurde u. a. in Belgien oder den Niederlanden aufgrund ausbleibender Erfolge diese Linie überdacht und nun mehr Fordern in der Integrationspolitik gewagt.
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