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Herr Wörmer, die Ankündigung des US-Präsidenten Trump, seine Streitkräfte aus Nordost-Syrien zurückzuziehen, hat direkt zum Einmarsch türkischer Streitkräfte in das Bürgerkriegsland geführt. Viele Beobachter sprechen von einer weiteren Zäsur in dem seit 2011 andauernden Krieg und rechnen mit erheblichen Auswirkungen für die gesamte Region. Was hat die amerikanische Seite bewogen und wie erklärt sich die Politik des türkischen Präsidenten Erdogan?
Die Beendigung von Militäreinsätzen im Ausland, vor allem in Afghanistan und dem Nahen Osten, stellt ein Kernanliegen der Politik des US-Präsidenten und eines seiner zentralen Wahlversprechen dar. Bereits Ende 2018 hatte Präsident Trump einen Rückzug der US-Streitkräfte aus Syrien angekündigt, der dann jedoch von Teilen der Administration verzögert und im Umfang deutlich reduziert wurde. Inwieweit die Rückschläge für den US-Präsidenten in seiner Politik gegenüber Nordkorea, Iran und Afghanistan oder die innenpolitischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem drohenden Amtsenthebungsverfahren den Ausschlag dafür gegeben haben, dass Trump ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt der türkischen Seite den Abzug der US-Kräfte aus Nordost-Syrien signalisierte, lässt sich schwer beurteilen. Fakt ist, dass der Präsident offenkundig vor allem aus innenpolitischen Erwägungen heraus handelte, sein Vorgehen zudem nicht mit führenden Politikern seiner eigenen Partei abgestimmt hatte und die Nahostpolitik der USA kaum noch eine klare Linie erkennen lässt.
Der türkische Präsident Erdogan jedenfalls verstand den in einem Telefonat zwischen ihm und Trump signalisierten Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Nordostsyrien als „grünes Licht“ für seinen lange beabsichtigten Einmarsch in die unmittelbar an die Türkei angrenzenden Gebiete der syrischen Kurden. Auch er ist hierbei zumindest was den Zeitpunkt der Operation anbelangt offenbar von innenpolitischen Erwägungen getrieben. Angesichts der schmerzlichen Niederlage seiner Partei bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul, der schwächelnden türkischen Wirtschaft und einer zuletzt eher durchwachsenen außenpolitischen Bilanz benötigt Erdogan dringend einen politischen Erfolg. Diesen sucht er in der Beseitigung der aus türkischer Sicht drängendsten Sicherheitsbedrohung der vergangenen Jahre.
Worin besteht der Hauptgrund für die türkische Intervention?
Die türkische Regierung fürchtet die terroristische Bedrohung durch die kurdische Arbeiterpartei PKK mindestens genauso, wenn nicht noch mehr, wie die Terrororganisation IS. Dass ausgerechnet deren syrischer Ableger YPG zum wichtigsten Partner der Amerikaner und Europäer im Kampf gegen den IS in Syrien avancierte, war der türkischen Regierung von Beginn an ein Dorn im Auge. Das weitläufige Gebiet, das die syrischen Kurden im Verlauf der vergangenen Kriegsjahre unter Kontrolle bringen konnten und in dem sie eine de facto autonome Föderation ausriefen, erstreckt sich über eine Länge von 400 bis 500 Kilometern entlang der türkischen Südgrenze. Die nicht unberechtigte Befürchtung der türkischen Regierung besteht darin, dass die PKK dieses weitgehend von ihrem syrischen Arm, der YPG, kontrollierte Gebiet zu einem Rückzugsraum für Operationen in der Türkei ausbauen und hierdurch mit Blick auf eine mögliche neuerliche Konfrontation erheblich an Stärke gewinnen könnte.
Um diesem sicherheitspolitischen Anliegen der türkischen Seite zu entsprechen, schlug die US-Regierung im Januar 2019 die Einrichtung einer von amerikanischen und europäischen Soldaten zu überwachende Pufferzone auf syrischem Staatsgebiet vor. Angelehnt an die von West nach Ost verlaufende türkische Südgrenze sah der amerikanische Vorschlag, der letztendlich auch angesichts des Desinteresses der Europäer im Sande verlief, einen fünf Kilometer breiten Streifen vor. Die türkische Intervention der vergangenen Woche hat eine mindestens 30 Kilometer breite Sicherheitszone auf einer Länge von fast 500 Kilometern zum Ziel. Hier beabsichtigt die türkische Regierung offenbar auch die dauerhafte Ansiedlung eines Teils der drei bis vier Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge, die das Land derzeit beherbergt.
Wie hat sich die Lage im Nordosten Syriens seit dem Auftakt der türkischen Offensive vor einer Woche entwickelt?
Die türkischen Streitkräfte haben ihre Offensive zunächst nur an einigen Abschnitten entlang der Grenze eröffnet und konzentrieren sich auf wichtige urbane Zentren in Grenznähe. Hierbei kam es zu einem umfassenden Einsatz von mit der Türkei verbündeten syrisch-oppositionellen Milizen, was darauf hindeutet, dass das türkische Militär eigene Kräfte soweit als möglich schonen will. Nach anfänglich begrenzten Gefechten und einigen Geländegewinnen der türkischen Seite haben die Kampfhandlungen zuletzt deutlich an Intensität zugenommen. Die Vereinten Nationen geben die Zahl der vor der türkischen Militäroffensive geflohenen Menschen bereits mit fast 200.000 an. Derweil hat die politische Führung der syrischen Kurden, nach mehrtägigen Verhandlungen, die anscheinend unter russischer Beteiligung stattfanden, eine Einigung mit dem einstmals verfeindeten Regime in Damaskus erzielt. Erste Einheiten der Streitkräfte Assads sind bereits im Norden des Landes eingetroffen und schicken sich an, einige der Städte oder Gebiete, die sie einst kampflos räumten, wieder zu übernehmen. Inwieweit die Türkei bereit ist, ihre Offensive auch angesichts des massiven internationalen politischen Drucks auszuweiten, ist schwer abzusehen. Die syrischen Kurden verfügen zwar, auch im Verbund mit der PKK, über verschiedene Möglichkeiten der Eskalation, könnten aber auch an einem politischen Deal interessiert sein, der ihnen wenigstens einen Teil der in den vergangenen Jahren gewonnenen Autonomie erhält.
Was bedeutet der türkische Einmarsch für die sicherheitspolitische Lage in der Region? Wer profitiert von der neuen Lage?
Wie bereits gesagt, profitierte bereits das syrische Regime von der Tatsache, dass die syrischen Kurden quasi über Nacht einen neuen politischen Verbündeten brauchten. Für den im Irak ohnehin schon wiedererstarkenden IS ergeben sich durch das drohende Machtvakuum in Nordost-Syrien neue Handlungsmöglichkeiten, zumal der Fokus etlicher Akteure angesichts der neuen Realitäten nicht mehr auf dem Kampf gegen die Terrororganisation liegen dürfte. Inwieweit Russland und die Türkei sich eventuell, auch mit Blick auf die ebenfalls vertrackte Lage in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens, auf einen Interessenausgleich verständigen können oder – wie teilweise kolportiert – dies bereits im Vorfeld der Militäroperation getan haben, ist schwer einzuschätzen. Zunächst jedenfalls haben sowohl Russland und Iran, als auch die amerikanische und die europäischen Regierungen die türkische Intervention scharf verurteilt. Die Tatsache, dass die USA kaum noch über Handlungsmöglichkeiten in Syrien verfügen, der regionale Rivale Türkei derzeit ein erhebliches politisches Risiko eingeht während das verbündete syrische Regime wieder im Aufwind ist, stärkt die ohnehin komfortable Situation Russlands in der Region noch weiter. Sollte es, wie vereinzelt berichtet, zu einem vollumfänglichen Abzug der US-Kräfte aus Syrien, einschließlich der von der Basis bei at-Tanf im Südosten aus operierenden Einheiten kommen, so würde dies vor allem die Position Irans in dem Land weiter festigen. Den in diesem Landesteil eingesetzten US-Kräften kommt sowohl eine Rolle im Kampf gegen den IS zu als auch eine Funktion in dem Bestreben, den Aktionsradius irannaher militärischer Kräfte einzugrenzen.
Was bedeuten die jüngsten Entwicklungen in Syrien für die deutsche und europäische Politik?
Die Tatsache, dass ein Mitgliedsland der Nato den wichtigsten Verbündeten der Amerikaner und Europäer im Kampf gegen den IS angreift und diese nicht im Stande waren, das sich abzeichnende Debakel zu verhindern, muss auch als Versagen europäischer Nahostpolitik gewertet werden. Problematisch in diesem Kontext ist zudem, wie sich die Türkei angesichts zunehmender diplomatischer Spannungen mit den europäischen Staaten in der Flüchtlingsfrage verhalten wird und inwieweit die türkische Regierung tatsächlich beabsichtigt, syrische Kriegsflüchtlinge in ihrer ‚Sicherheitszone‘ anzusiedeln. Abgesehen davon, dass die syrischen Kurden als Garant dafür, den IS auf syrischem Staatsgebiet klein zu halten, nun möglicherweise wegfallen, stellt sich auch die Frage nach der Zukunft der in syrisch-kurdischen Lagern inhaftierten IS-Mitglieder. Schätzungen gehen von bis zu 10.000 ehemaligen Kämpfern, darunter auch europäische Staatsbürger, und etwa 70.000 Angehörigen aus, vornehmlich Frauen und Kinder, die sich derzeit in der Obhut syrisch-kurdischer Sicherheitskräfte befinden. Sollte auch nur einem Teil dieses Personenkreises der Wiederanschluss an den IS gelingen, so würde dies die Fähigkeiten der Organisation, Angriffe oder Anschläge in der Region und in Europa vorzubereiten erheblich steigern.
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