Issue: Sonderausgabe 2020/2020
Es war 2002, da warb der damalige Verteidigungsminister Struck für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit dem Satz, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Der Sozialdemokrat Struck musste sich dafür viel Spott und Kritik anhören, auch aus der eigenen Partei. Achtzehn Jahre später sagt Außenminister Maas, die deutsche Sicherheit werde nicht nur in Vorderasien, sondern auch im Irak, in Libyen und im Sahel verteidigt (und am Verhandlungstisch in New York, Genf oder Brüssel). Recht hatte Struck damals, recht hat der Sozialdemokrat Maas heute. Die Frage stellt sich also: Tut Deutschland für die Verteidigung seiner Sicherheit genug? Ist sein Engagement groß genug? Die kurze Antwort: Es tut einiges, weit mehr, als man sich das vor der Jahrtausendwende hätte vorstellen können; aber angesichts der Bedrohungen, Konflikte und der großen Unruhe in der Nachbarschaft Europas genügt das nicht. Das zu bestreiten ist kurzsichtig und gefährlich.
Doch nun schlägt die Stunde der Wahrheit. Die gewaltigen Veränderungen in der Welt, die Verschiebungen der politischen und wirtschaftlichen Gewichte, der (partielle) Rückzug der Vereinigten Staaten aus Teilen des Nahen und Mittleren Ostens sowie aus Afrika unter Präsident Trump konfrontieren die Deutschen mit einer Realität, die für sie unbequem und ungemütlich ist, und zwar eben auch deshalb, weil die Schutzmacht der Nachkriegszeit ihren Kompass an „America first“ ausrichtet. Auf einen kurzen Nenner gebracht, werden sie künftig mehr tun müssen für ihre Sicherheit und für die Stabilität ihrer Nachbarschaft; nicht allein, sondern mit europäischen Partnern, politisch, diplomatisch, wirtschaftlich – und militärisch. Nicht zuletzt wegen der militärischen Komponente ist der Zustand der Bundeswehr, trotz wachsender Verteidigungsausgaben, ein Ärgernis, für das man sich schämen muss. Es wird noch zu klären sein, wer dafür die Verantwortung trägt. Die Hoffnung auf eine Friedensdividende nach dem Kalten Krieg ist vor langer Zeit schon verflogen.
Deswegen kann man auch nicht alles, was im transatlantischen Verhältnis unrund läuft, der Regierung Trump anlasten. Auch dessen Vorgänger hatte die Trittbrettfahrer-Mentalität der Europäer gerügt und sie ermahnt, mehr für ihre Vereidigung zu tun, er war aber auf taube Ohren gestoßen. Seit Trump andere Saiten aufgezogen hat, werden Nato-Ausgabenziele viel ernster genommen. Es ist auch nicht so, dass die Amerikaner Europa links liegenlassen. An der Münchner Sicherheitskonferenz nahmen so viele Kongressmitglieder teil wie nie zuvor. Die Bekenntnisse zur atlantischen Allianz waren nicht weniger nachdrücklich. Was sich allerdings geändert hat, sind Ton, Stil und Methoden, mit denen die Regierung Trump ihre Ansichten durchzusetzen sucht. Der alte Sicherheitspatron kennt keine Nachsicht mehr. Deshalb werden Deutschland und seine europäischen Partner, ob in der Nato oder in der EU, künftig viel mehr Gewicht in die Waagschale werfen müssen, nicht um einem unberechenbaren Präsidenten zu gefallen, sondern um das transatlantische Verhältnis auf stabilem Grund zu halten.
Es ist ja keine neue Erkenntnis: Alles, was „Europa“ militärisch stärkt, dient der Verbindung über den Atlantik. Viel zu lange hatte die Erkenntnis keine politischen und somit auch finanziellen Konsequenzen. Das muss anders werden. Es muss auch deshalb anders werden, weil davon die Relevanz des „Westens“ wesentlich abhängt. Der Aufstieg autoritärer Mächte und das forsche Auftreten illiberaler Regime legen den Schluss nahe, dass die Welt weniger westlich geworden ist. Dass der Westen selbst weniger westlich wird (und für autoritäre Tendenzen empfänglicher), liegt nicht unbedingt am wirtschaftlichen Erfolg des kommunistischen Chinas. Wenn Länder, die sich dem Westen zugehörig fühlen und sich zur Idee des Westens bekennen, ihre Kräfte bündeln, wenn sie Selbstbehauptungswillen, Handlungsfähigkeit und Innovationskraft ins Spiel bringen, dann muss sie das Gerede vom Niedergang nicht schrecken.
Doch jeder muss dazu seinen Beitrag leisten, auch Deutschland. Bundespräsident Steinmeier hat in München emphatisch dazu aufgerufen, dass Deutschland sich viel stärker in und für „Europa“ engagiert. Wie oft haben die Leute schon den Refrain gehört, Deutschland müsse/wolle/werde mehr Verantwortung übernehmen? Vermutlich bis zum Überdruss. Frankreichs Präsident Macron ist nicht der Einzige, der ungeduldig wird; seine Vorschläge und Vorstöße sind viel zu oft in Berlin ins Leere gelaufen. Auch das muss sich ändern, einfach deshalb, weil Europa nicht durch schöne Worte und großes Pathos im Wettbewerb der großen Mächte bestehen wird.
Die Deutschen sollten sich nicht überschätzen, aber schon erkennen: Zusammenhalt und Stärke der EU, Robustheit der transatlantischen Beziehung und damit Resilienz des „Westens“ hängen zu einem guten Stück auch von ihnen ab. In der Mitte Europas darf kein ängstliches Herz schlagen.
Klaus-Dieter Frankenberger ist Mitglied der politischen Redaktion der F.A.Z. und verantwortlich für Außenpolitik.
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