Issue: Sonderausgabe 2020/2020
In der vergangenen Woche haben Äußerungen des französischen Präsidenten Macron ziemlich viel Wirbel gemacht. Die Nato sei „hirntot“, war seine deftigste Formulierung. Es gebe – Stichwort Syrien – keine strategische Koordination zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten. Macrons Kritik und seine Sorgen galten vor allem der „Verwundbarkeit Europas“ und der Gefahr, dass es in dem politisch-ökonomischen Großkonflikt zwischen Amerika und China unter die Räder kommen könne, mehr noch: dass Europa politisch von der Bildfläche verschwinde, wenn es nicht endlich ein Selbstverständnis als globale Macht entwickle. Diese Kritik war ungeschminkt, aus ihr sprach Verärgerung (über Trump?, Berlin?). Das Bild, das gezeichnet wurde, war alles andere als schmeichelhaft. Aber war es deshalb falsch, sieht man vielleicht von Wortwahl und Zeitpunkt der Äußerungen ab?
Es ist nicht zu bestreiten, dass die Vereinigten Staaten vom Virus des Protektionismus befallen sind und sie sich unter Präsident Trump auf dem Rückzug befinden. Es ist nicht zu bestreiten, dass China seinen Aufstieg zur Supermacht wirtschaftlich, politisch, militärisch und technologisch forciert. Und es ist auch wahr, dass Europa weder beherzt auf die Unruhe und das Chaos an seinen Rändern reagiert noch im Umgang mit dem neuen Autoritarismus die richtige Mischung aus Robustheit und Geschmeidigkeit gefunden hat. Der Glaube an ewige Stabilität, der nach der europäischen Zeitenwende vor dreißig Jahren so viele Anhänger gefunden hatte, erwies sich als Illusion: Dem alten europäischen Geschäftsmodell, das aus wirtschaftlichem Fortkommen und amerikanischer Sicherheitsgarantie bestand, ist die Grundlage entzogen, auch weil der amerikanische Versicherer die Intensität und den Fokus seines weltpolitischen Engagements überprüft. Das ist alles keine Erfindung eines royal ambitionierten französischen Präsidenten.
Wie der Zufall es wollte, waren es ausgerechnet zwei deutsche Politikerinnen, die in zeitlicher Nähe Überlegungen vortrugen, die nicht inkompatibel mit denen Macrons waren und bei denen es auch um das Schicksal Europas, die Zukunft der Nato und die Rolle Deutschlands ging. So plädierte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer dafür, dass Deutschland sich im Zuge internationaler Konflikte und Bedrohungen deutlich stärker, mutiger und führend engagieren müsse – nicht nur und nicht einmal in erster Linie militärisch, aber auch militärisch. Kramp-Karrenbauer, die übrigens ebenfalls für eine stärkere Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum eintrat, verlangte deswegen auch, das Nato-Ziel zu erfüllen, wonach zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben seien. Das ist in unserem Interesse.
Diejenigen, die plötzlich so rührende Liebeserklärungen an die Nato abgeben, sind bislang nicht dadurch aufgefallen, dass sie das konsequente Einhalten von Verabredungen und die Korrektur einer großen Unwucht in der Allianz anmahnten. Jetzt warnen diese Leute vor einer Entkopplung amerikanischer und europäischer Sicherheit. Richtig! Aber sind sie wirklich bereit, ihren Teil der Last zu tragen? Da hapert es gewaltig.
Defizite hatte auch die gewählte Kommissionspräsidentin von der Leyen erkannt und der EU deshalb schon von Berlin aus ein Lernprogramm verordnet: Europa müsse die Sprache der Macht lernen, müsse Muskeln aufbauen und kräftigen, in der Sicherheits- und in der Handelspolitik. Von der Leyen hatte schon vorher angekündigt, eine „geopolitische Kommission“ führen zu wollen. Das kann nur so verstanden werden, dass Europa die heraufziehende amerikanisch-chinesische Bipolarität nicht kleinmütig verfolgt oder gar erleidet, sondern dass es seine eigenen Interessen auf den Schauplätzen des Weltgeschehens mit strategischer Bedeutung geltend macht. Wie halten wir es also mit chinesischen Anbietern für den Aufbau des G5-Netzwerks?
2017 hatte Bundeskanzlerin Merkel die Europäer dazu aufgerufen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, also mehr für ihre eigene Sicherheit zu tun. Schon zwei Jahre alt ist also die „Mutter aller Schlussfolgerungen“ aus den Veränderungen im transatlantischen Verhältnis und in der Welt. Halten die Europäer sich daran – oder schlafwandeln sie dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit entgegen, wie Macron düster prophezeit?
Die geopolitische Lage ist noch unübersichtlicher und komplizierter geworden. Es gibt nicht viele europäische Regierungen, die auf breiten Mehrheiten ruhen und deswegen mutig nach vorne blicken können. Manche Hoffnungen aus der Wendezeit haben sich nicht erfüllt. Europa steht nicht mehr im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Aber das darf nicht heißen, dass man aufgibt, Subjekt sein zu wollen. „Europäische Souveränität“ klingt in den Ohren vieler übertrieben, präpotent, unrealistisch. Aber mehr zutrauen kann sich Europa schon. Das muss es. Und gegen eine Nato, die kollektive Sicherheit mit strategischer Koordination verbindet, ist nichts einzuwenden. Letzteres schien vor Jahren schon Kanzler Schröder geboten.
Klaus-Dieter Frankenberger ist Mitglied der politischen Redaktion der F.A.Z. und verantwortlich für Außenpolitik.
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de