Issue: Sonderausgabe 2022/2022
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck spricht zu Recht davon, dass sich Deutschland von Moskau „abnabeln“ müsse. Die Abhängigkeiten von Russlands Energie und damit auch von seiner autoritären Regierung seien ein großer Fehler gewesen, der Deutschland in eine schwierige Lage manövriert habe. „Das Modell ist gescheitert“, so der Grünenpolitiker. Der Befund ist richtig und auch deshalb so bitter, weil das Regime mit den Brennstoffeinnahmen den Krieg in der Ukraine finanziert. Zwar sind die Gaslieferungen nach Europa gefallen, der starke Preisanstieg gleicht die Rückgänge aber aus. Der Kreml kann es sich erlauben, die Drosselung als politische Waffe einzusetzen, das nicht geflossene Gas zu verbrennen und trotzdem prächtig zu verdienen.
Russlands Aggressivität, seine hegemonialen Ambitionen und das Streben, dem westlichen Modell eine eigene Ordnung entgegenzusetzen, sind nicht zu übersehen. Moskau nutzt dazu eine alte machtpolitische Währung, die andere Staaten längst hinter sich geglaubt hatten und der sie jetzt ungläubig bis hilflos gegenüberstehen: das Militärische. Finnland und Schweden fliehen in die Arme der NATO, die Bundesrepublik rüstet auf, plötzlich sind Waffenlieferungen in Kriegsgebiete möglich. Die Regierungsparteien SPD und Grüne müssen lang gehegte Grundpositionen in der Friedens- und Energiepolitik räumen.
Falls das russische Vorgehen scheitert, dann scheitert es gründlich, militärisch auf dem Schlachtfeld und wirtschaftlich dadurch, dass man im Westen den wichtigsten Kunden für das einzige nennenswerte Exportgut verliert, die Energie. Politisch und geostrategisch dürfte Moskau weiter isoliert werden, NATO und EU rücken zusammen und entwickeln eine zunehmende Attraktivität auch für Drittstaaten. Statt zu spalten und sich den Westen vom Leib zu halten, wird dieser geeint und rückt näher. Wladimir Putins Wunsch, die Demütigung nach dem Untergang der Sowjetunion auszubügeln, würde durch eine weitere Demütigung konterkariert. Klar ist jedenfalls: Wenn der Kreml unterliegt, wird sich niemand seinem gescheiterten Entwicklungsmuster anschließen.
Im UN-Sicherheitsrat sitzt neben Russland eine weitere zweifelhafte Atommacht, die auf Rechtsstaat und Demokratie pfeift, die Volksrepublik China. Sie agiert viel geschickter, um ihre Interessen durchzusetzen – und sie ist viel stärker. Nach Truppen gerechnet, sind die chinesischen Streitkräfte doppelt so groß wie die russischen. Dass sie als Machtmittel infrage kommen, zeigen die Muskelspiele vor Taiwan sowie im Süd- und Ostchinesischen Meer. Gleichwohl ist die Armee nicht die erste Wahl, um Einfluss auszuüben, stattdessen bedienen sich die Chinesen subtilerer und erfolgreicherer Wege. Im Gegensatz zur russischen Hau-drauf-Politik folgt Peking ausgeklügelten Langfriststrategien, die vor allem wirtschaftlich unterlegt sind.
Die ökonomische Kraft einzusetzen ist deshalb so vielversprechend, weil in diesem Feld niemand den Chinesen das Wasser reichen kann und weil sie über die Globalisierung ihre Reichweite in jeden Winkel der Erde ausgedehnt haben, auch Richtung Westen. Kaufkraftbereinigt, ist China längst die größte Volkswirtschaft der Welt vor den USA und der EU. Mit einem Siebtel des Werts wirkt Russland dagegen wie ein Zwerg. Die Volksrepublik ist in der Corona-Krise zum wichtigsten Handelspartner der EU gewachsen, Russland rangiert nur auf Platz fünf. Für viele deutsche Unternehmen ist China der wichtigste Markt, Produktionsstandort, Umsatz- und Gewinnbringer.
Während die Warenströme mit Fernost diversifiziert sind, konzentrieren sie sich mit Russland auf die Energie. Sobald sich Europa davon emanzipiert hat, brechen die letzten Brücken ab. Mittelfristig können wir ohne Russland auskommen, nicht aber ohne China. Und wie sieht es mit den finanziellen Möglichkeiten der beiden Regime aus? Es stimmt: Russland hat einen langen Atem, böse gesprochen eine prall gefüllte Kriegskasse. Aber Pekings Devisenreserven sind fünfmal so hoch. Die Asiaten sitzen auf dem mit Abstand reichsten Fremdwährungsschatz der Welt, und sie sind die wichtigsten Auslandsgläubiger für amerikanische Staatsanleihen.
China hat lange Finger, die es Richtung Westen ausstreckt. Längst herrscht keine Planwirtschaft mehr, wohl aber eine gesteuerte Marktwirtschaft, in der sich privates Unternehmertum so weit entfalten darf, wie es der Kommunistischen Partei nicht in die Quere kommt und solange es deren Entwicklungsdoktrinen folgt. Das gilt auch für die zwei wichtigsten Langfristpläne zur wirtschaftlichen, technologischen und infrastrukturellen Expansion, die Initiative „Made in China 2025“ von 2015 und die neue Seidenstraße von 2013, auch „Belt and Road“ (BRI) genannt. Beide haben zum Ziel, bis zum hundertsten Geburtstag der Volksrepublik im Jahr 2049 deren internationalen Einfluss zu maximieren. So definiert „Made in China“ zehn Kernbranchen, in denen man Autarkie und Technologieführerschaft anstrebt, darunter Informationstechnik, Robotik, Schiffs-, Luft- und Schienenverkehr, Elektromobilität, erneuerbare Energien, neue Werkstoffe, Biomedizin und Gesundheit. Etappenweise will sich China bis 2049 zur „Führungsnation unter den Industriemächten“ aufschwingen.
Das soll nicht zuletzt über gezielte Unternehmenskäufe im Ausland erfolgen, das sogenannte „Going Out“. Dieser Weg ist älter als die jüngsten Masterpläne, wurde von diesen aber beschleunigt. Wie die Statistiken zeigen, konzentrieren sich die chinesischen Fusionen und Übernahmen tatsächlich auf die priorisierten Branchen, und das vor allem in mittelständisch geprägten Zielländern mit innovativen Unternehmen wie Deutschland.
Schon vor der Pandemie schwächte sich der Drang ins Ausland ab. Geschuldet war das zum einen der europäischen Abwehr gegen den Ausverkauf von Schlüsselindustrien. Die EU hat eine entsprechende Screening-Verordnung erlassen, Deutschland und andere Mitglieder haben ihre Außenwirtschaftsregeln verschärft. Viele chinesischen Investoren wurden aber auch von den eigenen Behörden zurückgepfiffen. Diese machten Bedenken gegen Überschuldung, Kapitalabfluss und Verzettelung geltend und untersagten Übernahmen in nichterwünschten Wirtschaftszweigen, darunter Immobilien, Hotellerie und Sportvereinen. Dennoch: Mit gebremstem Schaum geht die Einkaufstour weiter, an den Zielen zur internationalen Vormachtstellung hat sich nichts geändert.
Die Stärke der Expansion hat ihren Grund einerseits in dem riesigen Heimatmarkt, der die nötigen Ressourcen an Geld, Menschen und Material bereitstellt. Zum anderen in der gewieften Doppelstrategie aus „Made in China 2025“ und der neuen Seidenstraße, des größten Infrastrukturvorhabens, das die Welt je gesehen hat. Es stellt sicher, dass sich Chinas Handel weiter ausdehnt, dass das Land Zugang zu Rohstoffen erhält, dass es seine Überkapazitäten abbaut und insgesamt seine Verbindungen in die Welt steigert und diversifiziert. Kritiker werfen Peking vor, über die Initiative in Afrika und anderswo Schuldabhängigkeiten zu schaffen.
Es ist unübersehbar, dass die Führung auch politische Zwecke verfolgt, geopolitische wie sicherheitspolitische. Diese Absichten ordnen sich ein in die Visionen des „Chinesischen Traums“ von Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping zur „großen Wiedergeburt der chinesischen Nation“. Xi will seinem Land zu alter Bedeutung zurückverhelfen und es nicht nur wirtschaftlich, sondern eben auch machtpolitisch an die Weltspitze setzen.
In der neuen Seidenstraße liegen Chinas Erfolge vor allem in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Die Strategie erweist sich immer dann als besonders zugkräftig, wenn die Empfänger durch schwierige Zeiten gehen, was in der Finanzkrise der Fall war, jüngst während der Pandemie. Das prominenteste Beispiel in der EU ist die Übernahme des Hafens von Piräus. Es gibt durchaus auch Enttäuschungen, etwa im Baltikum oder in Tschechien. Dennoch hat die Volksrepublik in der Region erfolgreich einen Fuß in die Tür gesetzt. Über den sogenannten 16+1-Zusammenschluss erhält sie nicht nur Zugang zum Westbalkan, der unter der Zurückweisung durch die EU leidet und deshalb anfällig ist für die Minnegesänge aus Peking. Das Treffen der siebzehn Regierungschefs ermöglicht den Asiaten auch einen direkten Zugang zur Europäischen Union.
Dabei stellt das Format nur einen Teil des Seidenstraßen-Einflusses dar, inzwischen gehören mehr Länder Europas und der EU der BRI an, als außerhalb stehen. Wie weit Chinas politische Einflussnahme über diese Seitendiplomatie geht, ist nicht eindeutig. Auffällig ist jedoch, dass Staaten wie Griechenland, Ungarn oder Kroatien in strittigen Fragen zu China von der europäischen Mehrheitsmeinung abweichen, zu Beispiel was die Menschenrechte angeht, die Territorialkonflikte im Meer, die Rückschläge in Hongkong oder die Unterdrückung in Xinjiang.
Im Schatten des chinesischen Riesen hat Europa zu lange geschlafen. Im Westen herrschte Gleichgültigkeit, die sich einerseits aus Hybris gegenüber den vermeintlichen Nachzüglern und Kopierern speiste, andererseits aus Naivität, was die Schlagkraft und den Aufstiegswillen des stolzen Volkes anging. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks konnte man sich nicht vorstellen, dass aus einem kommunistisch genannten Regime ein ebenbürtiger Partner oder gar überlegener Rivale erwachsen könnte. Genau das ist aber geschehen. China ist mit unvorstellbarem Tempo nachgezogen, hat mitunter gleichgezogen, ist im Begriff, den Westen zu überholen.
Mit dieser ökonomischen Potenz geht wachsender weltpolitischer Gestaltungswille einher. Dieser trat offen zutage, als US-Präsident Donald Trump sein Land isolierte und damit Raum für Peking öffnete. Die USA nahmen Abstand von den Transatlantischen und Transpazifischen Handelsabkommen TTIP und TPP, während China immer mehr Vereinbarungen einging, darunter als Führungsmacht in der weltgrößten Freihandelszone RCEP. Die fernöstliche Großmacht hat sich auch bei der neuen Partnerschaft CPTPP beworben, dem Nachfolger der TPP. Letztere wollte Trumps Vorgänger Barack Obama für seinen „Schwenk nach Asien“ nutzen, um China Paroli zu bieten. Nach Washingtons Austritt ist das Gegenteil passiert, Peking ist im Pazifik nun noch mächtiger.
Indem sich Trump von seinen Verbündeten distanzierte, egal ob in der Handels-, Klima- oder Iranpolitik, schuf er ein Vakuum, das China gern ausfüllte. So konnte sich ausgerechnet diese Autokratie ohne Rechtssicherheit, dieses gelenkte Wirtschaftssystem mit seinen Regierungskonzernen, mit den verschlossenen Branchen und abgeschotteten Finanzmärkten, dieser Staat, der seine Bürger in Dauerlockdowns einsperrt, dieser größte Treibhausgasemittent als neuer Anwalt für offenen Welthandel und Klimaschutz stilisieren. Nie gab es einen größeren Bock, der zum Gärtner wurde.
Doch in Ermangelung anderer Führungsmächte akzeptierten Teile der Welt die Chinesen in dieser Rolle, gerade für ärmere oder instabile Länder entwickelte der Wachwechsel von Washington zu Peking Anziehungskraft. Zu keiner anderen Zeit traten so viele Staaten der Seidenstraßen-Initiative bei wie während Trumps Regierung. Besonders groß war der Andrang 2017 nach Xi Jinpings Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, wo er indirekt den Isolationismus Amerikas geißelte und China als weltoffene Alternative empfahl.
Ein in den Industriestaaten erst spät wahrgenommener Versuch Chinas, seine Ordnungsvorstellung in der Welt zu etablieren, liegt im Setzen eigener technischer Standards. Die vielen Vorhaben und Beziehungen entlang der Seidenstraße eignen sich hervorragend, um diese neuen Maßstäbe unters Volk zu bringen – und sie konzentrieren sich nicht zufällig auf die Zielbranchen der Made-in-China-Initiative. Wie die Europäische Handelskammer in Peking analysiert, strebt China danach, eine eigene Internationale Standardisierungsorganisation ins Leben zu rufen, um mit den bisher verbindlichen Instituten in Genf zu konkurrieren.
Chinas Vorstoß in der Normung ist alles andere als selbstlos, denn natürlich hat eine Volkswirtschaft, die Standards setzt, Wettbewerbsvorteile: in den Ländern, die ihr nacheifern, und gegenüber Konkurrenten, die den Anforderungen nicht entsprechen und denen deshalb Märkte verschlossen bleiben. „Das Setzen technischer Standards ist das Schlachtfeld, auf dem Staaten darum kämpfen, die Hoheit über strategische Technologien zu erlangen, etwa beim Mobilfunkstandard 5 G, bei Künstlicher Intelligenz oder bei neuen Elektroautos“, heißt es in dem Kammer-Papier.
Chinas Ansatz ist deshalb so herausfordernd, weil er die Normenfindung auf den Kopf stellt. Bisher gingen die technischen Maßstäbe aus Innovationen hervor, getrieben von der Privatwirtschaft. Standards setzten sich am Markt durch und wurden dann festgeschrieben, so in der Wifi-Technik. Peking hingegen wähle einen staatlich zentrierten Weg, der die Orientierungsregeln von oben vorgebe, moniert die Kammer. Man erarbeite sich Vorsprünge, um in strategischen Technologien führend zu werden, und schließe zugleich jene aus, die sie nicht befolgten. Das Reich der Mitte greift auf vielerlei Weise über seine Grenzen hinaus, in systemischer Rivalität zum Westen, aber – ganz anders als Russland – ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Erst langsam finden Europa und die USA Antworten auf diesen Vorstoß. Die EU bemüht sich darum, in China vertraglich mehr Offenheit durchzusetzen, namentlich mit dem neuen Investitionsabkommen. Solange die Bedingungen aber nicht fair sind, zieht Brüssel seinerseits die Zugbrücken höher, durch schärfer Investitionskontrollen oder strengere Bestimmungen für öffentliche Ausschreibungen. Dieser Verlust an Freiheit zeigt, wie China die internationalen Ordnungsregeln beeinflusst: Weil die EU mit ihrem marktliberalen Modell in Peking nicht durchdringt, macht sie sich Teile der chinesischen Abschottungspolitik zu eigen.
Allerdings gibt es auch gegenläufige Entwicklungen. China schadet sich wirtschaftlich durch seine massive Lockdown-Politik derzeit selbst – wie dauerhaft der Schaden ist, wird sich zeigen. Die ersten Länder in Osteuropa haben sich zudem wieder aus der 16+1-Initiative verabschiedet. Inzwischen gibt es sogar eine „Anti-Seidenstraße“. In Amerika heißt sie „Bring Back Better World“, in der EU „Global Gateway“. Beide Programme zielen auf die in der Pandemie noch gewachsene Lücke in der Infrastruktur von Schwellen- und Entwicklungsländern. Beide streichen in Abgrenzung zu Peking die Werteanbindung an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung, Transparenz und Verantwortlichkeit heraus. Auf dem G-7-Gipfel in Elmau wurden die Programme zu einer „Partnerschaft für Globale Infrastruktur“ im Volumen von 600 Milliarden Euro zusammengeführt. Das ist sogar im Vergleich zu Peking viel Geld.
Der offene Konflikt mit Russland stellt die Systemkonkurrenz zu China derzeit in den Schatten. Langfristig aber bildet die Auseinandersetzung mit Peking die schwierigere Aufgabe. Die, um mit Habeck zu sprechen, „Abnabelung“ von ihrem wichtigsten Handelspartner wird der EU nur gelingen, wenn sie rechtzeitig umsteuert. Gerade die deutsche Politik und Wirtschaft haben in Peking statt „Wandel durch Annäherung“ eher einen „Wandel durch Anbiederung“ versucht. Erst dieser Weg hat China so stark gemacht, wie es heute ist, und er ist auf ähnlich tragische Weise gescheitert wie in Moskau. Wer das Regime nicht ändern kann, sollte es meiden, auch wenn das zu Wohlstandsverlusten führt. Nicht nur für den bevorstehenden Winter gilt: In der veränderten Weltordnung muss sich Deutschland warm anziehen.
Christian Geinitz ist Wirtschaftskorrespondent der F.A.Z. in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Peking. Der Text basiert auf seinem Buch „Chinas Griff nach dem Westen. Wie sich Peking in unsere Wirtschaft einkauft“, Verlag C.H. Beck, 2022.
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