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Michele Tantussi, Reuters.

International Reports

Wie nachhaltig sind Schockmomente?

by Frank Priess

Was sich aus dem Krieg in der Ukraine lernen lässt

„Zeitenwende“, das Kanzlerwort aus dem Februar dieses Jahres bleibt das Wort der Stunde, vieles mag speziell den etwas Älteren auch als ein „Zurück in die Zukunft“ vorkommen. In jedem Fall ist es bemerkenswert, in welch kurzer Zeit sich Beurteilungsparameter ändern können, an deren Grundlagen gleichwohl schon länger gezweifelt werden konnte. Warum nur braucht es immer Schockerlebnisse für den Abschied von Illusionen? Es ist ja keineswegs so, wie jetzt gern überall behauptet wird, dass „wir alle uns geirrt haben“ – es gab sie, die Warner und klugen Analysten, nur Gehör wollte man ihnen nicht schenken, wollte sich die eingeübten Denkroutinen nicht kaputtmachen lassen, wollte einmal mehr nicht glauben, was ein autoritärer Führer sagte und schrieb, nicht einmal dann, als er begann, es zu tun.

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Russlands erneuter und diesmal offener Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar hat mit brutaler Deutlichkeit klargemacht, dass klassische Machtpolitik – in Putins Fall mit langem Vorlauf und garniert mit nostalgischer Großreich-Rhetorik – mit militärischen Mitteln gerade für autoritäre Systeme zum Instrumentenkasten gehört, den man diesbezüglich in Deutschland schon weitgehend entleert hatte.

In der Ukraine jedenfalls wird gerade, das ist eindeutig, mehr verteidigt als die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes selbst. Russland ist in Europa im Gegensatz zur Sowjetunion im Kalten Krieg keine Status-quo-Macht, sondern eine, die aktiv und notfalls mit Gewalt Grenzen verschieben will und sich in einem Systemkonflikt mit dem „Westen“ sieht, dessen „Dekadenz“ gerade Putin mehr als einmal als Feindbild projiziert hat. In jedem Fall testet er die Resilienz und die Wehrhaftigkeit dieses Westens und hoffte, dass diese so gering ausgeprägt sein würden, wie es seiner Perzeption entsprach. Anhaltspunkte dafür, dass es um jene Wehrhaftigkeit nicht allzu gut bestellt sein könnte und man nach erster Aufregung und Schockstarre schnell wieder zur Tagesordnung übergehen würde, hatte er leider genug.

Deutschland dürfte er dabei durchaus als besonderen Schwachpunkt im westlichen Mauerwerk identifiziert haben: kein Bedrohungsgefühl bei der Bevölkerung, entsprechend vernachlässigte Streitkräfte, durch Umfragen bestätigte „Zurückhaltung“ bei der Erfüllung von NATO-Beistandsverpflichtungen, der vielfache Wunsch nach „Sonderbeziehungen aus historischer Verantwortung“ gegenüber Russland – und sei es über die Köpfe der mitteleuropäischen Nachbarn hinweg –, wirtschaftsgetriebene Vernachlässigung von geo- und sicherheitspolitischem Denken, eine fehlende strategische Kultur, ein latenter Anti-Amerikanismus, gefüttert durch die traumatischen Jahre der Trump-Erfahrungen –die Liste ließe sich fortsetzen. Nun allerdings hat Putin selbst den Auslöser dafür geliefert, dass sich das ändern könnte. Unbeantwortet allerdings ist nach wie vor, wie nachhaltig die Erkenntnisse aus dem „Ukraine-Schock“ wirken werden.

So wissen Deutschland und Europa einmal mehr, was sie eigentlich tun müssten. Doch was folgt daraus? Erstaunlich, wie gut man in der Krise zusammenhält und schmerzhafte Sanktionen weiterhin gemeinsam trägt, ausreichend aber ist das nicht. Es braucht klarere Schritte für eine Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit in Ergänzung zur NATO und zur Unterlegung der Beistandsverpflichtungen nach Artikel 42 des EU-Vertrags. Mehr Effizienz und Kooperation statt Klein-Klein, abgestimmte Rüstungsvorhaben, pooling und sharing, wirklich einsetzbare Battlegroups – der Elemente gibt es viele und sie setzen voraus, dass nationale Egoismen und Befindlichkeiten sich dem gemeinsamen Ziel unterordnen, auch und gerade in Deutschland. Es braucht zudem ein glaubwürdiges strategisches Konzept für die dauerhafte Bindung der Länder des westlichen Balkans und der östlichen Partnerschaft, aber auch für den Schulterschluss mit den Ländern im Süden und dem Partner Türkei.

Die transatlantischen Beziehungen und die enge Verbindung mit den USA sind dabei das unverzichtbare Herzstück europäischer Sicherheit, auch das hat der Krieg in der Ukraine verdeutlicht. Dass Europa dabei auch militärisch in der eigenen Nachbarschaft mehr Verantwortung übernehmen muss, ist ein wichtiger Aspekt, aber keineswegs der einzige. Für die USA spielen der Indopazifik und die Rivalität mit China für die Zukunft die zentrale Rolle, was sich auch durch die eher kurzfristige neue Konzentration auf den Konflikt mit Russland in Europa nicht ändern wird – schon gar nicht, wenn eine chinesisch-russische Achse erkennbar wird und sich diese Staaten gegenseitig stützen. Der Wert, den die USA den europäischen Verbündeten beimessen, definiert sich nicht zuletzt aus ihrer erwarteten Nützlichkeit im Konflikt mit der Volksrepublik. Und die Trump-Jahre haben mehr als deutlich gemacht, wie schnell sich auch alles ändern kann.

Das lenkt den Blick darauf, dass schon ohne den Krieg in der Ukraine Defizite in Sachen Resilienz deutlich geworden sind. Im Vertrauen auf das Funktionieren globaler Märkte – Deutschland war hier über die Jahrzehnte sicher einer der größten Profiteure – konnte es preisbedingt zu Abhängigkeiten kommen, wie wir sie jetzt schmerzlich nicht nur in der Energiefrage mit Russland beobachten. Gleichzeitig ist es nur noch Europas wirtschaftliche Stärke, wegen der es international ernstgenommen wird und sanktionsfähig ist. Aber wie lange noch? Europa ist gut beraten, sich auf die eigene Stärke zu besinnen, wie immer man das auch etikettiert – militärisch, wirtschaftlich, technologisch, finanzpolitisch.

Das Abstimmungsverhalten in den UN hat deutlich gemacht, dass es weltweit wichtige Staaten gibt, die bei aller Kritik an der russischen Kriegspolitik nicht bereit sind, sich in ein weltpolitisches Freund-Feind-Schema – hier die (westlichen) Demokratien, dort die chinesischen und russischen Diktaturen – einordnen zu lassen und eindeutig Partei zu ergreifen. Viel ist in diesem Westen – schon die Begriffsdefinition erscheint „reformbedürftig“ – daher jetzt von „Augenhöhe“ zu hören, nicht zuletzt in entwicklungspolitischen Kreisen, zu praktischen Konsequenzen allerdings führt dies nicht immer. Man steckt auch hier in einem Dilemma: Einerseits sind da die eigenen Werte, die man nicht aus rein „realpolitischen“ Gründen aufgeben kann, will und darf. Andererseits ist die Zahl derer, die „so sind wie wir“, weltweit gerade eher rückläufig, wie man einschlägigen Indizes entnehmen kann.

Es gibt keinen Anlass, sich international zu verstecken und „in Sack und Asche“ zu gehen. Die Systemkonkurrenz zwischen Freiheit und Autoritarismus lässt sich selbstbewusst annehmen. Die Demokratien dies- und jenseits des Atlantiks, aber auch im indopazifischen Raum und in Afrika, haben viel vorzuweisen und sind attraktiv. Wache Zivilgesellschaften weltweit orientieren sich an ihnen, profitieren von den Kooperationen, inspirieren wiederum auch die hiesige Diskussion. Zudem sind diese Länder Anziehungspunkte sowohl für Verfolgte als auch Talente. Die derzeitige Lage und das, was mindestens auf mittlere Sicht zu tun ist, bieten auch Chancen, sich als glaubwürdiger Zukunftspartner weltweit zu beweisen.

 


 

Frank Priess ist stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

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