Country reports
Seit dem 27. Februar kommt Venezuela nicht mehr zur Ruhe. Der Bürgerprotest richtet sich gegen die mögliche Verhinderung des Abberufungsreferendums gegen Präsident Chávez. Die Opposition ist sich sicher, weit mehr als die für das Referendum notwendigen 2,4 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben.
Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Marsches der Opposition vom vergangenen Freitag verstärkte sich der Protest. Die „Coordinadora Democrática“ hat die Menschen zum friedlichen Widerstand auf die Straßen gerufen. Tagsüber, und verstärkt in den Nachmittagsstunden, sammeln sich Bürgerinnen und Bürger an wichtigen Straßenkreuzungen. Sie errichten Sperren aus Müll, brennenden Autoreifen, Bäumen und Bauschutt. Gleichzeitig fordern sie, daß die Oberste Wahlbehörde ihre Unterschriften anerkennt und sie nicht „raubt“. Gleichzeitig wird der Rücktritt von Präsident Chávez gefordert sowie das Ende der „Bolivarianischen Revolution“ und die Rückkehr zu einer modernen Demokratie.
Die Proteste beschränken sich nicht auf Caracas. In allen Landesteilen finden sie statt. Besonders leidenschaftlich werden sie in der Ölprovinz „Zulia“ und seiner Hauptstadt Maracaibo ausgetragen.
Die Ordnungskräfte - gebildet aus Militärpolizei, Armee, „Guardia Nacional“ (Berufssoldaten mit dem BGS vergleichbaren Aufgaben) und der politischen Geheimpolizei – versuchen, in einer Mischung von Druck und Ermüdungstaktik den Protest zu beenden. Die Aufgabe der Streitkräfte beschreibt der Befehlshaber des Gemeinsamen Kommandos der Streitkräfte (CUFAN), Divisionsgeneral Julio Quintero so: „Herstellen von Ruhe und Ordnung im ganzen Land sowie Hilfe für die Bürger bei den Aufräumarbeiten“. Die Streitkräfte werden so lange in den Straßen bleiben, bis die Ruhe hergestellt ist und Gouverneure und Bürgermeister ihre Aufgaben erfüllen.
Angesichts des öffentlichen Aufrufs der „Coordinadora Democrática“, im Protest auf den Straßen zu bleiben, wird der Einsatz noch länger notwendig sein. Der Verteidigungsminister, Drei-Sterne-General Garneiro, läßt keinen Zweifel daran, daß das Militär die Lage in den Griff bekommen will. Zum angeblich harten Vorgehen der „Guardia Nacional“ von Reportern des Canal 8 befragt, stellt er klar:„Wenn eine Teilstreitkraft zu beglückwünschen ist, dann die „Guardia Nacional“. In der Opposition sieht er die Schuldigen für die Ausschreitungen und für den Versuch, die Streitkräfte zu desprestigieren.
Abgeordnete der Regierungsmehrheit rufen die Polizei der Bezirke der Opposition dazu auf, sich nicht weiter in den Dienst des Imperialismus stellen zu lassen. „Denkt darüber nach, daß ihr mißbraucht werdet. Sehr bald werdet ihr neue Polizeichefs haben“. Eine klare Ankündigung der nächsten Intervention der Polizeikräfte der Bundesstaaten und Kommunen, die der Opposition zugerechnet werden. Die Begründung ist absehbar. Einerseits die Beteiligung an gewaltsamen Demonstrationen und Ausschreitungen, andererseits die Unfähigkeit bzw. der fehlende Wille, Ruhe und Ordnung herzustellen.
Protest und Gegenmaßnahmen nehmen ab den Nachmittagsstunden deutlich zu. Die Auseinandersetzung wird von beiden Seiten entschlossener und härter geführt.
Wechselseitige Beschuldigungen der Sabotage
Über die privaten Medien sowie den öffentlich-rechtlichen TV-Sender wird eine „Medienschlacht“ ausgetragen. Dabei ist Canal 8 (ÖR) ein parteiisches Instrument für Regierung und Revolution, während die privaten Medien in ihrem Überlebenskampf (Präsident Chávez: „Wie lassen euch keinen Moment aus den Augen“) die Opposition unterstützen. Jede Seite zeigt „Videobeweise“ über Gewaltstrategien, Sabotageakte. Im „Canal 8“ werden wieder abgehörte Telefongespräche von Chávez-Gegnern ausgestrahlt.
Wie schon früher, informieren MVR-Abgeordnete und nicht die zuständigen Justizbehörden, die den Eingriff in das Fernmeldegeheimnis autorisieren müßten. Mitgeschnittene Telefonate sollen beweisen, daß die Opposition die gewaltsame Reaktion der Sicherheitskräfte mit Bedacht geplant hat und weiter an dieser Strategie festhält. Ein über die Provokationen „schwadronierender“ Rechtsanwalt Koesling - im Gespräch mit einem Führer der AD (Sozialdemokraten) - ist der „Kronzeuge“.
Die Opposition vermutet, daß externe Sicherheitskräfte und Reservisten in Uniform der „Guardia Nacional“ agieren und sich daher die besondere Brutalität des Einsatzes erklärt. Der Bezirksbürgermeister von Caracas, Fredy Bernal, kündigt eine Anzeige beim Generalstaatsanwalt gegen den Gouverneur von Miranda und Führungspersonen der Partei „Primero Justicia“ an, weil diese die Verantwortung für die Attacke auf das Büro des „Comando Ayacucho“ (Führungsgremium der „Bolivarianischen Revolution“) tragen würden und beweist seine Vorwürfe mit TV-Bildern des „Canal 8“.
Die Lage droht zunehmend auszuufern. Parteizentralen in den Regionen von AD (Sozialdemokraten), COPEI (Christdemokraten) und „Primero Justicia“ werden gestürmt und durchsucht. Die Opposition klagt den zunehmenden Einsatz von Feuerwaffen seitens der Ordnungskräfte der Regierung an.
Trotz aller Provokation: Die Opposition übernimmt eine große Verantwortung, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger zu einem auch eventuell langanhaltendem Protest aufruft. Leidenschaften kochen hoch. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte steigert die Verbitterung der Opposition und provoziert sie „bis zur Weißglut“. Zu einer friedlichen Strategie der Opposition gehört besonders die Kontrolle besonders kritischer Punkte. Nur mit einer wirklichen Strategie des gewaltlosen Wiederstandes und mit dafür ausreichend geschulten Kräften wird die Opposition ihre Ziele erreichen können.
Die Strategie der Regierung scheint es zu sein, knapp unterhalb des Ausnahmezustandes zu operieren und die Schuld an der unsicheren Lage mehr und mehr der Opposition zuzuschieben und damit von ihrem eigenen, überharten und nicht den Regeln der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Vorgehen abzulenken. Der politische Erfolg der Opposition während des G-15 Gipfels, als sie von Präsident Kirchner empfangen wurde, soll ins Gegenteil verkehrt werden. Die Regierung unterstellt der Opposition exakt die „gleiche terroristische Strategie, wie im April 2002“, so Vizepräsident Rangel. Die Regierung aber verfolgt durch eine in-und ausländische Medien- und Diplomatieoffensive ebenfalls den gleichen Plan wie seinerzeit: die Untergrabung der internationalen Glaubwürdigkeit, die die Opposition nicht zuletzt durch das Abkommen vom 29.Mai 2003 erzielt hat. Weil dieses allein nicht auszureichen scheint, wird die Opposition verschärft beschuldigt, Handlanger der USA, der CIA und von Präsident Bush zu sein.
Präsident Chávez fordert die USA heraus
Der 29.Februar 2004 markiert einen offensichtlichen Richtungswechsel der Politik von Präsident Chávez gegenüber den USA. Seine Anhänger waren aufgerufen, in Caracas für die Souveränität Venezuelas zu demonstrieren. Mit Mobilisierung der Regionen schaffte man, etwa gleichviel Menschen auf die Straßen zu bringen, wie am 14. Februar die Opposition. Der Verlauf der Demonstration war friedlich. Vereinzelt versuchten Chávez-Anhänger Oppositionsanhänger tätlich anzugreifen, wurden aber von eigenen Demonstrationsteilnehmern abgedrängt und zurecht gewiesen.
In der Abschlußkundgebung waren Vizepräsident Rangel („die Geduld des Volkes ist begrenzt“) und Präsident Chávez mehr als deutlich. Von der Konfiszierung des US-Eigentums in Venezuela bis hin zur Einstellung der Öllieferungen reicht das Instrumentarium. „Bush, ich fordere dich zu einer Wette heraus, wer länger im Amt ist, Du im Weißen Haus oder ich in Miraflores“ (Präsidentenpalast in Caracas). Die USA sind schuld an Ungerechtigkeit und Terror.
Seine besondere Solidarität galt dem irakischen Volk in seinem Kampf gegen die Besetzung und Chávez wandte sich wiederum wortgewaltig gegen die „Satanisierung von Saddam Hussein“, wobei er süffisant und energisch auch die Komplizenschaft der USA mit dem Irak verwies, um das Regime der Ayatollahs im Iran zu schwächen. Sie mischen sich in Venezuela ein und wollen die Ablösung von Chávez. Als Mittel zum Zweck dienen die Opposition und ihre Helfershelfer, eine Blockade oder auch eine Invasion des Landes. Präsident Bush soll sich nicht verrechnen: „Venezuela ist nicht Haiti und Aristide ist nicht Chávez
“.
Die US-Korrespondenten berichten, daß der venezolanische Botschafter in den USA versuchte, den Diskurs von Präsident Chávez abzuschwächen. Chávez habe nicht für die USA, sondern für das venezolanische Volk gesprochen, so die Korrespondenten. Nicht nur Sprüche, sondern auch Spruchbänder und Schilder waren überdeutlich. „Bush – Sohn einer Hure“ mag noch „selfmade“ sein. „Bush Terrorist“, „Bush Tyrann“, „Nein zur Invasion“, „Venezuela respektiert man“ , waren Sprüche, auf zahlreichen mehrfarbig gedruckten Spruchbändern des „Comando Ayacucho“ zu lesen.
Da die Parteien des „Polo Patriótico“ den Missbrauch staatlicher Gelder für Parteiinteressen durch die Altparteien der „IV. Republik“ immer kritisiert hatten, werden diese Ausgaben sowie die Nutzung der zahlreichen offiziellen Fahrzeuge („solo uso oficial“) sicherlich nicht auf Staatskosten erfolgt sein. Präsident Chávez richtete seine Angriffe gegen die Regierung. Das Volk wollte er ausnehmen, obwohl er ihnen indirekt mit kalten Wohnungen und leeren Tankstellen drohte, weil 18.000 Tankstellen Venezuela gehörten und 1,5 Millionen Barrel venezolanisches Öl pro Tag in die USA gehen.
Bislang hatte Präsident Chávez bei aller Polemik gegen die USA immer quasi die Ölinteressen der USA respektiert. Die unverhohlene Drohung mit der „Ölwaffe“ gegen die USA ist ein neuer Zug seiner Politik. Zugleich „umwarb“ er wieder besonders die Karibik. Ein Ölpreis von mindestens 30 US$ pro Barrel sei heute mindestens gerecht (aktuell ca. 27$). Für die ärmeren Staaten, z.B. Kuba und die Karibik, aber sei ein Preis unter Marktniveau gerechtfertigt. Im Falle, daß der Konflikt Venezuelas wieder auf die Tagesordnung der OAS kommt, braucht Präsident Chávez die Stimmen der Karibik – „ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt“.
Oberste Wahlbehörde im Kreuzfeuer, aber mit Höchstmaß an Verantwortung
Die Oberste Wahlbehörde ist Schauplatz eines offenen Machtkampfes. Mit einer 3:2 Mehrheit haben die Anhänger der Regierung bislang die umstrittenen Entscheidungen zur Überprüfung und Bestätigung von ca. 1,5 Millionen Unterschriften durch die Unterschriftleistenden selbst entschieden. Dies ist nach Meinung der beiden der Opposition zugerechneten Direktoriumsmitglieder nicht nur unnötig, sondern durch die bestehenden Vorschriften zu Referenden nicht gedeckt.
OAS und Carter-Zentrum vermitteln einerseits. Andererseits werden sie im Machtkampf instrumentalisiert. Der Präsident der Obersten Wahlbehörde kündigte an, daß das Carter-Zentrum Venezuela verlassen wird, weil sie sich durch die Minderheit mißbraucht fühlen. Unter großem Beifall der anwesenden Journalisten bekräftigte die Leitung des Carter-Zentrums ihr Verbleiben im Land. „Eine Konfusion“, stellte sie geschickt fest, um ihre Vermittlung zusammen mit der OAS weiterführen zu können.
Das Land wartet auf eine Entscheidung zur Gültigkeit der Unterschriften. Für die Opposition ist klar, wer allein noch etwas zur Befriedung der Situation tun kann. Die Oberste Wahlbehörde durch eine Entscheidung zu Gunsten des Abberufungsreferendums gegen Präsident Chávez.