Mit den flämischen Nationalisten der N-VA verlässt die größte Partei die belgische Föderalregierung, da sie nicht mit einer Unterzeichnung des UN-Migrationspakts durch Belgien einverstanden ist. Während die Opposition eine Vertrauensfrage im Parlament einfordert, möchte Premierminister Charles Michel (Mouvement Réformateur) die bisherige Koalition ohne die N-VA als Minderheitsregierung bis zum regulären Wahltermin im Mai 2019 fortsetzen. Die migrationskritische N-VA konkurriert seit ihrer Regierungsbeteiligung wieder stärker mit dem rechtsextremen Vlaams Belang, der zuletzt bei den Kommunalwahlen Erfolge erzielte.
Erste Regierungsbeteiligung der N-VA
Der Rückzug der N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie) aus der belgischen Föderalregierung beendet nach etwas mehr als vier Jahren eine für Belgien hochgradig ungewöhnliche Regierungskonstellation. Stark geprägt durch den Konflikt zwischen dem niederländischsprachigen Flandern und der französischsprachigen Wallonie sowie der daraus resultierende Abwesenheit von landesweit aktiven Parteien, ist für die belgische Regierungsbildung die regionale Herkunft der Parteien von ebenso großer Bedeutung wie ihre politische Ausrichtung. Die Verfassung sieht vor, dass die Minister der belgischen Regierung zu gleichen Teilen aus Flandern und aus Wallonien kommen
müssen.
Aus den Parlamentswahlen im Mai 2014 ging die flämische N-VA als deutlich größte Partei hervor, scheiterte aber zunächst mit der Bildung einer mitte-rechts Regierung. Erst unter der Verhandlungsführung von Charles Michel, Spitzenkandidat des wallonisch-liberalen Mouvement Réformateur (MR), gelang es, eine Koalition aus NVA, MR, CD&V (flämische Christdemokraten) und Open VLD (flämische Konservative) zu bilden. Erstmals seit 25 Jahren waren die wallonischen Sozialdemokraten der Parti Socialiste nicht Teil der belgischen Föderalregierung. Zugleich ist stellte dies die erste Regierungsbeteiligung der N-VA auf
nationaler Ebene dar.
Der neuen sogenannten „Schweden-Koalition“ unter Premierminister Michel wurde nur eine kurze Überlebenszeit vorhergesagt, wobei manche sogar von einer „Kamikaze-Koalition“ sprachen. Als besonders problematisch bewertet wurdedie Beteiligung der flämischen Nationalisten der N-VA bei gleichzeitig geringer Einbeziehung von wallonischen Parteien. Trotz derart negativer Prognosen erwies sich die Regierung als weitgehend stabil. Für regelmäßigen Ärger sorgte vor allem die N-VA, die mit der allenthalben provokant vorgetragenen Forderung nach der Unabhängigkeit Flanderns ihre Beteiligung an der Föderalregierung nur schwer in Einklang bringen konnte.
Rezeption des UN-Migrationspakts in Belgien und Europa
Die durch die Regierungsbeteiligung in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen einge-schränkte N-VA konzentrierte sich in der Folge zusehends auf das Thema Migration. Immer wieder kam es zu Verwicklungen, häufig um den für Migrationsfragen zuständigen und um-strittenen Staatssekretär Theo Francken (N-VA). Dass der von mehr als 190 Staaten ausverhandelte Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration („Migrationspakt“) letztlich zu einem Austreten der N-VA aus der Regierung führen würde, kam für viele Beobachter trotzdem überraschend.
Der juristisch nicht bindende Migrationspakt erfuhr lange Zeit nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Nach dem frühen Rückzug der USA war es die ungarische Regierung unter Viktor Orbán, die das Thema im März 2018 für ihren Wahlkampf instrumentalisierte und somit in Europa erstmals sichtbar machte. In der Folge entdeckten immer mehr europäische Rechtspopulisten das Thema für sich, darunter die deutsche AfD und die österreichische FPÖ. Wie Analysen der sozialen Netzwerke zeigen, spielte der Migrationspakt spielte der Migrationspakt jedoch nach wie vor keine große Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Dies änderte sich schlagartig mit der österreichischen Erklärung vom 10. Oktober, man werde dem Abkommen nicht beitreten. Daraufhin erklärten auch Polen, Bulgarien, die Slowakei, die Tschechische Republik und Lettland, sich nicht zu beteiligen. In den sozialen Netzwerken dominierten parallel zu diesen Entwicklungen diverse irreführende Berichte und Falschmeldungen zum Migrationspakt, unter anderem von der als rechtsextrem eingestuften Identitären Bewegung und dem von Russland finanzierten Nachrichtenportal RT.
Für die flämische N-VA war der Migrationspakt ebenfalls lange Zeit kein Anlass zur Aufregung. Koalitionsintern hatte die N-VA bereits ihre Zustimmung gegeben, woraufhin Premierminister Michel im September bei der UN die Zustimmung seines Landes andeutete. Erst Anfang November erfolgte der Kurswechsel der N-VA. Der Migrationspakt wurde anschließend als „Problem“ deklariert, eine belgische Beteiligung sei nicht möglich, so die N-VA.
Ohne Konsens innerhalb seiner Regierung entschied sich Michel dafür, die belgische Haltung durch eine Abstimmung im Parlament bestimmen zu lassen. Am 06. Dezember wurde der Migrationspakt dort mit den Stimmen der Oppositionsparteien mit großer Mehrheit angenommen. Die Minister und Staatssekretäre der N-VA blieben der Sitzung demonstrativ fern, und erst nach Protest erschien zumindest Innenminister Jan Jambon von der N-VA zur Sitzung. Doch auch nach der Abstimmung war zunächst unklar, ob der belgische Premierminister ohne Einstimmigkeit innerhalb seiner Regierung dazu befugt ist, den Migrationspakt zu unterzeichnen. Auch die N-VA pochte darauf, dass der Entschluss des Parlaments nicht bindend sei, weshalb man sich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht aus der Regierung zurückziehen werde.
Rückzug der N-VA aus der Regierung
Erst als sich im Verlauf des darauffolgenden Wochenendes immer deutlicher abzeichnete, dass Michel in der Tat am 10. Dezember den Migrationspakt unter-schreiben würde, spitzte sich die Regierungskrise zu. Nach einer Krisensitzung am Samstag-Abend entschloss sich die N-VA zum Rückzug aus der Regierung, woraufhin der belgische König am Sonntag die Rücktrittsgesuche der der vier N-VA-Kabinettsmitglieder annahm.
Michel gab an, die Koalition zwischen MR, CD&V und Open VLD bis zum regulären Wahltermin im Mai 2019 als Minderheitsregierung fortführen zu wollen. Der belgische König ernannte daraufhin als Innenminister Pieter De Crem (CD&V, Nachfolger von Jan Jambon), als Finanzminister Alexander De Croo (Open VLD, Nachfolger von Johan Van Overtveldt), als Verteidigungsminister Denis Ducarme (MR, Nachfolger von Sander Loones ) , als Asyl- und Migrationsministerin Maggie De Block (Open VLD, Nachfolgerin von Theo Francken) (übernimmt die) und als Minister für Telekommunikation und Verwaltungs-vereinfachung Philippe De Backer (Open VLD, Nachfolger von Alexander De Croo).
Nach der Ankündigung Michels entbrannte eine bis dato nicht vollständig aufgeklärte Kontroverse, ob es sich beim neuen Kabinett verfassungsrechtlich um eine Fortführung der bisherigen Regierung handelt, oder ob das Kabinett als neue Regierung angesehen werden müsse, was die Notwendigkeit einer Mandatierung durch das Parlament nach sich ziehen würde. Die herrschende Meinung scheint eher in die erste Richtung zu gehen. Unabhängig davon steht es der Opposition offen, die Regierung im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvotums zu stürzen. Das würde jedoch voraussetzen, dass sich die Oppositionsparteien auf einen neuen Premierminister einigen können – ein sehr unwahrscheinliches Szenario an-gesichts der großen inhaltlichen und sprachlichen Differenzen.
Will die neue Regierung weiterhin gesetzgebend tätig werden, so ist sie fortan in jedem Fall auf die Opposition angewiesen. Die Regierungsparteien selbst kommen im Parlament nur auf 52 von 150 Sitzen. Konkret möchte sich die neue Koalition vor allem auf die Bereiche Kaufkraft, innere Sicherheit und Klimaschutz konzentrieren. Die N-VA machte bereits deutlich, dass ihre Unterstützung von der kommenden Migrationspolitik abhängt. Man wolle jedoch nicht Projekte blockieren, die man in der Regierung selbst erarbeitet hat. Im Bereich Klimaschutz kommen die Grünen als möglicher Partner in Betracht. Eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten wird jedoch als weniger wahrscheinlich eingestuft.
Hat der belgische Wahlkampf begonnen?
Der Rückzug der N-VA ist auch im Kontext mit dem jüngsten Wiedererstarken des Vlaams Belang, einer rechtsextremen, separatistischen Partei aus Flandern, zu sehen. Sowohl auf föderaler als auch auf regionaler Ebene verlor Vlaams Belang in den letzten zehn Jahren einen Großteil seiner Wähler an die N-VA. Bei den belgischen Kommunalwahlen im Oktober 2018, der ersten Wahl in Belgien seit vier Jahren, kehrte sich dieser Trend jedoch um.
Vlaams Belang konzentrierte sich zuletzt stark auf das Thema Migration und versuchte dabei, auch die N-VA vor sich herzutreiben. Anschaulich wurde dies im Einsatz des Vlaams Belang gegen den Migrationspakt. Früh forderte die Partei den Rückzug aus dem Pakt und sammelte in einer gegen die Unterzeichnung gerichteten Petition über 70.000 Unterschriften. Am 08. Dezember, dem Tag des Rückzugs der N-VA aus der Regierung, organisierte Vlaams Belang im flämischen Parlament eine Veranstaltung, auf der auch Marine Le Pen und Steve Bannon sprachen. Le Pen ist Präsidentin des französischen Rassemblement National (ehemaliger Front National), der größten Partei innerhalb der europaweiten Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit (MENL), zu der auch Vlaams Belang gehört. Steve Bannon ist ehemaliger Chefstratege Donald Trumps und versucht aktuell, europäische Rechtspopulisten im Wahlkampf für die
Europawahl 2019 zu unterstützen.
In Belgien wird der Wahltermin im Mai 2019 ein Schlüsselmoment, da gleichzeitig auf europäischer, föderaler und regionaler Ebene gewählt werden wird. Der Vorsitzende des Vlaams Belang, Tom Van Grieken, rief die Wahlen bereits zu „einem Referendum über die Masseneinwanderung“ aus, bei dem mit den „Eliten abgerechnet werde“.
Die gerade aus der Regierung ausgetretene N-VA wird durch solche Äußerungen stark unter Druck gesetzt. Einerseits erwarten ihre
bürgerlichen Anhänger, dass sie sich in den verbleibenden Monaten der Legislaturperiode konstruktiv im politischen Prozess einbringt. Je mehr jedoch das Thema Migration dominiert, desto stärker konkurriert die N-VA mit dem Vlaams
Belang.
Premierminister Michel dürfte durch die Ereignisse an Profil gewonnen haben, da ihm viele anrechnen, Kurs gehalten haben. Bei der Unterzeichnung des Migrationspaktes in Marrakesch erhielt er besonderen Beifall. Innenpolitisch ist jedoch unklar, ob die nächsten Monate noch Gesetzgebung hervorbringen. In der Berichterstattung überwog der Eindruck, in Belgien habe nun der Wahlkampf begonnen.