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Aktuell sind sechs Parteien im Parlament vertreten. Die Regierung bilden die Zentrumspartei mit Premierminister Jüri Ratas, die mitte-links orientierten Sozialdemokraten (SDE) und die konservative Isamaa (IRL). Durch das Verlassen von mittlerweile fünf Abgeordneten aus den Reihen der Regierungsfraktionen, die nun als unabhängige Mitglieder des Parlaments geführt werden, ist seit Neustem eine Minderheitsregierung mit 50 von 101 Sitzen im Parlament in Kraft, deren Bündnis dennoch als stabil gilt. Von den Abgeordneten kommen zwei aus der Zentrumspartei, einer von den Sozialdemokraten und drei von der IRL. Bei der IRL haben mit dem früheren Parteivorsitzenden, Margus Tshakna, jetzt bei Eesti 200 und dem außenpolitischen Experten, Marko Mihkelson, der bei der kommenden Wahl für die Reformpartei antreten wird, Fraktion und Partei verlassen. Neben den Regierungsparteien musste auch die oppositionelle Freie Partei (Eesti Vabaerakond) den Abgang eines Abgeordneten verkraften.
Eine erste Belastungsprobe wird die Verabschiedung des neuen Haushaltes im Herbst, der mit einem Umfang von 11,3 Milliarden Euro der bislang größte der Geschichte Estlands ist. Keine Steuersenkungen, aber dafür höhere Ausgaben für Bildung und Verteidigung stehen auf der Agenda. Die Regierungspartner sind sich bewusst, dass besondere Umsicht in den Verhandlungen erforderlich ist, aber zeigen sich optimistisch. In der Opposition befinden sich derzeit die Reformpartei (Eesti Reformakond), die national-konservative Estnische Volkspartei (EKRE) und die ebenfalls konservative Freie Partei. Es ist derzeit wahrscheinlich, dass sich nach der Wahl die Verteilung im Parlament deutlich ändern wird. Um Wähler zu gewinnen, holen sich einige Parteien Unterstützung von bekannten Personen. So wird beispielsweise Indrek Tarand, bislang Mitglied des europäischen Parlamentes, sich für die Sozialdemokraten aufstellen lassen. Die Zentrumspartei holt sich sportliche Unterstützung mit dem ehemaligen Sumo-Wrestler ‚Baruto‘.
Bei den Spitzenparteien liegen Zentrum und Reformpartei nah beieinander. Umfragen zeigen zwar Jüri Ratas als bevorzugten Kandidaten für den Posten des Premierministers, allerdings liegt die Reformpartei mit der Spitzenkandidatin und bisherigen Europaabgeordneten , bei den Parteienwerten leicht vorne (27% zu 25%). 2016 hatte der damalige Ministerpräsident Taavi Rõivas ein gegen ihn gerichtetes Misstrauensvotum verloren, wodurch eine Regierungsumbildung möglich wurde, durch die die Reformpartei in die Opposition kam. Zuvor war sie 16 Jahre lang nicht mehr in der Opposition gewesen. Traditionell ist sie die stärkste Partei in Estland.
Ministerpräsident Juri Ratas hat es jedoch geschafft, neue Wählerschichten zu gewinnen. Die Loslösung von der traditionellen Stammwählerschaft der Zentrumspartei, die in der Regel von Pensionären und russisch-sprachigen Bürgern gebildet wird, eröffnete ihm neue Möglichkeiten in anderen gesellschaftlichen Gruppen. Der schwindende Rückhalt in der Stammwählerschaft wird so durch höhere Zustimmung in anderen Bevölkerungsschichten kompensiert. Hinzu kommt, dass Ratas es geschafft hat, das Bild der Zentrumspartei in der Öffentlichkeit nachhaltig zu verändern. Wurde die Zentrumspartei vor vier Jahren noch mit Edgar Savisaar, Korruption und die Verbindung der Partei nach Russland in Verbindung gebracht, so schaffte es der Ministerpräsident, seine Person und seine Agenda, d.h. auch Europa, in den Mittelpunkt zu stellen. Die Außenpolitik und die Positionierung gegenüber dem Nachbarn im Osten unterscheiden sich nicht. Es zeichnet sich bislang ein enges Rennen zwischen beiden Parteien ab.
Kampf im rechten Spektrum
Die sich seit dem letzten Parteitag im Juni diesen Jahres wieder nur Isamaa (IRL) nennende konservative Partei, auf europäischer Ebene Mitglied der EVP, ist seit 2007 in jeder Regierungskoalition vertreten. Nach der kommenden Wahl könnte diese Zeit jedoch vorbei sein. Die Partei um den Vorsitzenden Helir-Valdor Seeder steckt in einer Krise und liegt in den Umfragen bei knapp 5%. Dazu haben nicht nur innerparteiliche Konflikte und der Abgang einiger Politiker beigetragen, sondern auch fehlende innovative Gestaltungskonzepte für die zukünftige Politik, wie einige Wähler beklagen. Jedoch hat die Kommunalwahl im vergangenen Herbst gezeigt, dass die IRL trotz schwacher Umfragewerte im Vorfeld, stärkere Ergebnisse erzielen kann, insofern mit Medien und anderen Parteien kooperiert wird.
Mart Helme wird mit seiner populistischen Partei EKRE auf jeden Fall erneut im Riigikogu vertreten sein. Bei der vergangenen Wahl war sie zum ersten Mal mit knapp 8% ins Parlament eingezogen. Mittlerweile ist die Zustimmung zu EKRE deutlich angestiegen. Als einzige Partei hat sie es in den vergangenen Monaten geschafft, sowohl bei Mitgliederzahlen als auch Umfragewerten stark zuzulegen. Aktuell werden ihr 18% prognostiziert und somit würde sie die drittstärkste Kraft im Parlament stellen. Damit dominiert sie im politisch rechten Spektrum und mindert die Stimmenanteile anderer konservativer Parteien. Der Erfolg von EKRE zeigt, dass der allgemeine Trend in Europa, die Zunahme von Rechtspopulismus in Politik und Gesellschaft, auch an Estland nicht vorbeigeht.
Die Fünf-Prozent-Hürde und die Bildung neuer Parteien
Um in Estland den Parteienstatus zu erhalten, werden mindestens 500 Mitglieder benötigt. Die Hürde um ins Parlament zu ziehen, liegt, wie in Deutschland, bei 5%. Während manche bereits im Parlament vertretene Parteien befürchten, an diesen Anforderungen zu scheitern, entstehen gerade auch neue Parteien, die erstmalig diese Hürden überwinden möchten. So ist für die seit 2015 im Parlament vertretende Freie Partei die anstehende Wahl eine große Herausforderung, da ihre Umfragewerte aktuell bei 2% liegen und sich ihre Mitgliederzahl von knapp 630 dem Existenzminimum nähert. Die Partei hatte sich vor der letzten Parlamentswahl neu gegründet und 8% erzielen können, aber innerparteiliche Konflikte haben in den letzten Monaten und Jahren stark zu ihrem Fall beigetragen.
Schon fast traditionell bilden sich in Estland vor einer Wahl neue Parteien. Am meisten Aufmerksamkeit erhalten dabei aktuell Estland 200 (Eesti 200) und die Biodiversitätspartei (Elurikkuse Erakond). Insofern diese den Parteienstatus erhalten, werden sie bei der kommenden Wahl antreten.
Die Biodiversitätspartei und ihr Fokus auf grüne Politik und digitalen Lösungen ist vor allem durch ihren Gründer, Artur Talvik, bekannt, der vormals Parteivorsitzender der Freien Partei war und zuletzt als fraktionsloser im Parlament saß. Mit den Grünen war zuletzt 2011 eine Partei im Riigikogu vertreten, die ihren Schwerpunkt auf Umweltschutz setzte. Mittlerweile erreichen diese nur noch Werte von 1% und es ist davon auszugehen, dass es auch Talviks Partei bei der Wahl schwer haben wird.
Erfolgsversprechender rechnen sich derzeit die Gründer von Estland 200 ihre Chancen aus. Anlässlich des 100. Jahrestags zum Erlangen der Unabhängigkeit, sieht die Partei die Gestaltung der nächsten 100 Jahre in ihrer Verantwortung. Sie lässt sich bislang eher konservativ-liberal einordnen und verschärft somit den Kampf um Wählerstimmen im konservativen Spektrum. Estland 200 fordert einen substantiellen Wandel in der Politik und anstelle klassischer Politiker sollen sich Unternehmer, Wissenschaftler und andere Experten in die Parteiarbeit miteinbringen. Anhand dieser Forderungen lässt sich auch feststellen, dass in der Partei zumindest teilweise populistische Elemente mitschwingen.
Themen in der Diskussion sind Steuern, Schulen und Pensionen
Die innenpolitische Debatte wird bislang von der Steuer-, Schul- und Rentenpolitik bestimmt. So soll es zwar 2019 keine neuen Steuererhöhungen geben, allerdings sind die steigenden Verbrauchersteuern der letzten Jahre auf viel Unmut gestoßen. Insbesondere die hohe Alkoholsteuer steht in der Kritik, da sich wirtschaftliche Verluste von ihr abzeichnen. So fahren immer mehr Esten, aber auch vormals nach Estland reisende Finnen, über die Grenze nach Lettland, um günstigeren Alkohol zu kaufen. Somit fallen weitaus mehr Steuereinnahmen weg, als durch die Erhöhung eingenommen werden.
Wie auch in vergangenen Wahlkämpfen ist der Umgang mit der russisch-sprachigen Minderheit des Landes ein Thema. Im Fokus stehen diesmal Kindergärten und Schulen in Estland. Insbesondere Isamaa und RE unterstützen die Einführung von Strukturen, die Estnisch als einzige Unterrichtssprache manifestieren. In einigen russisch-sprachig dominierten Gegenden des Landes wird häufig nur auf Russisch oder zu 50% auf Russisch unterrichtet. Um zu einer stärkeren Integration beizutragen und Differenzen zu überwinden, soll bereits vom Kindergarten aus den Kindern die estnische Sprache beigebracht und ein einheitliches Estnisches-Schulsystem geschaffen werden. Mangelnde Lehrkräfte erschweren jedoch die angestrebten Transformationspläne.
In der zukünftigen Rentenpolitik herrscht Uneinigkeit in der aktuellen Regierung. Isamaa-Vorsitzender Seeder hat als eines der großen Wahlversprechen angekündigt, das Rentensystem stark zu verändern. Das estnische Drei-Säulen-Rentensystem besteht aus einer staatlichen Rente als erste Säule, obligatorischen Zahlungen in einen Rentenfond als zweite und freiwillige Rentenzahlungen als dritte Säule. Die zweite Säule soll laut Isamaa zuerst nur noch als freiwillige Zahlung fungieren und schließlich gänzlich abgeschafft werden. Dieser Vorschlag trifft auf Kritik von Premierminister Ratas, der von der Unverzichtbarkeit der 2. Säule überzeugt ist. Inwiefern diese Diskussion den Wahlkampf prägen wird, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
Ausblick
Abseits dieser innerpolitischen Diskussionen, neigen sich die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Geburtstag der Republik für dieses Jahr dem Ende zu. Mit Papst Franziskus hat zum ersten Mal seit Johannes Paul II. vor 25 Jahren ein Oberhaupt der katholischen Kirche das Land besucht. Neben den Parlamentswahlen im März 2019, stehen bereits zwei Monate später erneut Wahlen an und zwar die zum Europäischen Parlament. Somit sind die estnischen Wahlen auch ein Stimmungstest für Europa. Zudem steht nicht nur die Entscheidung an, welche estnische Stadt europäische Kulturhauptstadt 2024 wird, sondern auch die Bewerbung um einen nicht-permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat 2020/21 geht in die entscheidende Phase. Die politische Lage in Estland bleibt spannend.