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Gewerkschaften und Unternehmer rufen den unbefristeten Generalstreik ab und suchen die Entscheidung in der venezolanischen Krise. Dies bedeutet entweder den Rücktritt des Präsidenten oder die Verhängung des Ausnahmezustandes durch ihn. General Nestor Gónzales bezichtigt öffentlich und in Uniform Präsident Chávez der Lüge in der Frage seiner Kontakte zur kolumbianischen Guerrilla.
Unbefristeten Generalstreik ausgerufen
Der nationale, unabhängige Gewerkschaftsdachverband (Confederación de Trabajadores de Venezuela, CTV) und der Unternehmerverband FEDECAMERAS haben am 10. April den unbefristeten Generalstreik für Venezuela ausgerufen. Sie verschärften damit innerhalb weniger Stunden ihre vorherige Entscheidung, den laufenden Streik lediglich um 24 Stunden zu verlängern.
Offensichtliches Ziel ist es, eine Entscheidung in der politischen Krise herbeizuführen. Erstes Ziel ist es, Präsident Chávez zum Rücktritt zu zwingen und seine "Bolivarianische Revolution" zu beenden und zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zurückzukehren. Es wird aber auch in Kauf genommen, dass der Präsident den Ausnahmezustand erklärt. Dieser Möglichkeit wird angstfrei entgegengesehen, "no tenemos miedo" - "wir haben keine Angst" skandieren die friedlichen Demonstranten während des gesamten Tages.
Für den 11. April ist ein Demonstrationszug geplant, an dem Gewerkschaften, Unternehmer, Zivilgesellschaft und Parteien teilnehmen werden.
Im Gebäude von FEDECAMERAS berieten zum ersten Mal alle diese Gruppen Ziele und Strategie der nächsten Tage. Es war die erste formale Beratung aller politischen Akteure der Opposition. Angesichts der Krise beginnt sie ihre gegenseitigen Reserven aufzugeben und einen neuen politischen Konsens für das Land zu suchen.
Entsprechend sprachen bei den beiden Großdemonstrationen in Caracas, vor dem Gewerkschaftsgebäude und vor der PDVSA-Zentrale (staatliche Ölholding) auch alle Vertreter der oben genannten Gruppen. "Primera Justicia" stellte dabei eine institutionelle Lösung des Konfliktes vor. Rücktritt, erzwungen oder freiwillig, aller Institutionen und alsbaldige Neuwahl nach demokratischen Verfahren.
Präsident Chávez der Lüge bezichtigt
General Nestor Gónzales hat - in Uniform - in einer öffentlichen Pressekonferenz Präsident Chávez der Lüge bezichtigt. Die Aussage des Präsidenten, dass die kolumbianische Guerrilla nicht von venezolanischem Territorium operiert, sei unwahr. Im vereinigten Oberkommando der Streitkräfte liegen die Beweise vor, dass die Guerrilla Venezuela als Operationsbasis nutzt. Der General bekräftigte zudem, dass die Armee keinesfalls gegen die Bevölkerung vorgehen wird, dass das Militär nicht die politische Lösung der Krise sucht, sondern dass diese Lösung ausschließlich bei der Zivilgesellschaft liegt.
Nachdem am Vortag bereits der oberste Heereschef erklärt hatte, dass die Sicherheit des Landes Aufgabe der Guardia Nacional (GN) und nicht die des Heeres sei, hatte am 10. April ein weiterer General der Guardia Nacional öffentlich festgestellt, dass die GN nicht gegen die Bevölkerung operieren werde.
Am Nachmittag des 10. April soll das Kommando der Streitkräfte seine Teilnahme am Ausnahmezustand abgelehnt haben, den der Vizepräsident im Auftrag von Präsident Chávez forderte.
Chávez hält sich, wie oft in Krisenzeiten (Krise der Putsche vom 4. Februar und 27. November 1992, Erdrutschkatastrophe vom 15. Dezember 1999) zurück; "er hat Angst" kommentieren Analysten und rufen die Demonstranten.
In jedem Fall ist es fraglich, inwieweit Chávez noch die tatsächliche Befehlsgewalt über alle Teile der Streitkräfte ausüben kann.
Medien - zwischen Information und Manipulation
Die Radio- und TV - Szene gleicht dem Vortag. Der Regierungskanal 8 steht ganz im Dienst der Regierungspropaganda. "Alles normal", "Mehrheit der Venezolaner arbeitet" sind einige der Falschmeldungen, die als Eigenberichte verbreitet, aber auch von Regierungsseite unkritisch übernommen werden. Die übrigen Medien berichten rund um die Uhr und live. In den Sendungen finden auch Vertreter des Oficialismo Zeit, um ihre Sicht der Streiktage zu verbreiten. Ähnliche Offenheit und wenigstens der Versuch der Objektivität, ist im Regierungskanal nicht zu verzeichnen.
Gewalt in den Regionen
Gewaltsame Auseinandersetzungen haben auf fast alle Regionen des Landes übergegriffen. Angriffe auf Kritiker der Regierung, auf Demonstranten und Sympathisanten "pro Generalstreik" sind deutlich zahlreicher als am ersten Streiktag; mehr als 30 Verletzte hat der zweite Tag gefordert. Unter dem Vorwand, Waffen zu suchen, wird eine AD-Geschäftsstelle (Sozialdemokratische Partei) von der politischen Polizei gestürmt, durchsucht und nach AD-Angaben verwüstet. Ein weiteres AD-Büro wird im Bundesstaat Zulia angegriffen.
Stellungnahme der Regierung
Angesichts der Regierungskrise behauptet die Regierung "völlige Normalität" im Lande und keine Unterbrechung der Ölproduktion und Energieversorgung. Der Verteidigungsminister erklärt in einer "cadena" (landesweite Zwangsschaltung der Medien für eine Information der Regierung), dass Präsident Chávez der dialogbereiteste Präsident der Welt sei. Die Opposition habe aber den Dialog verweigert und trage die Schuld an der augenblicklichen Krise, vor allem weil sie verhindere, dass Präsident Chávez seine Reformpläne realisieren und die Situation des Landes verbessern könne.
Wie "Dialogbereit" der Präsident ist, verrät seine Sprache, z.B. vor den geplanten Gesprächen mit der Bischofskonferenz im Februar, als er den Kardinal von Caracas als "Krebsgeschwür" bezeichnetr und auch in politischen Sachfragen erklärte, dass am Ende eines Dialogs keinesfalls seine Politik verändert werden dürfe( und auch nicht verändert werde).
Während Präsident Chávez weiter "auf Tauchstation" zu sein scheint, übernehmen der Verteidigungsminister, der Innen- und Justizminister sowie der Bürgermeister des Stadtbezirks "Libertador" von Caracas die Information des Landes, in einer Mischung zwischen Drohung, Versprechen und merkwürdigen Gegensätzen von "Normalität" und der Feststellung des Innenministers, dass alle Pläne zur Reaktion auf die Landessituation fertig sind. Warum, so fragt der erstaunte Caraceño, ist bei "Normalzustand" ein "Reaktionsplan" notwendig?
Fazit:
Die Krise Venezuelas verschärft sich, weil die Ziele des Generalstreiks längst den Ölkonflikt übertreffen und das Land offensichtlich eine Entscheidung zwischen Revolution und Demokratie sucht.