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Country reports

Erdrutschsieg bei vorgezogenen Neuwahlen in Armenien

Nikol Pashinians Höhenflug scheint acht Monate nach den Protesten in Armenien vom Frühjahr 2018 anzuhalten. Das belegt zumindest das Wahlergebnis, welches sein Parteienbündnis nun bei den Parlamentswahlen erreichte und die Mehrheitsverhältnisse in der armenischen Nationalversammlung auf den Kopf stellt. Eine vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung und ein von persönlichen Attacken geprägter Wahlkampf schmälern jedoch die Bilanz des Sieges und sorgen für Ernüchterung.

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Nikol Pashinian, Vorsitzender einer Partei, die bis zu den vorgezogenen Neuwahlen am 9. Dezember mit lediglich drei von 105 Mandaten im Parlament vertreten war, erreichte mit seinem Wahlbündnis „Mein Schritt“ eine Mehrheit von 71 Prozent. Die bisher mit absoluter Mehrheit agierende Regierungspartei „Republikaner“ verfehlte hingegen die Fünfprozenthürde und wird im neuen Parlament nicht mehr vertreten sein. Die Partei „Blühendes Armenien“ des Ge-schäftsmannes Gagik Tsarukyan hat es mit 8,3 Prozent ebenso ins Parlament geschafft, wie „Helles Armenien“ (Edmon Marukyan) mit rund 6,4 Prozent. Nach der Verfassung müssen diesen beiden Parteien durch Überhangmandate so viele zusätzliche Mandate zugewiesen werden, dass sie zusammen auf 30 Prozent der Sitze im Parlament kommen. Insgesamt waren elf Parteien oder Wahlbündnisse angetreten, von denen nunmehr drei ins Parlament gewählt wurden.[1]

Damit sind die bisherigen Kräfteverhältnisse im armenischen Parlament faktisch auf den Kopf gestellt. Zwar waren enorme Volatilitäten bei Wählervoten binnen kürzester Zeit im Südkaukasus auch schon in der Vergangenheit nichts Ungewöhnliches. Aber eine solche „Umkehrung“ der parteipolitischen Machtverhältnisse innerhalb von eineinhalb Jahren – die letzten regulären Parlamentswahlen fanden Anfang April 2017 statt – sind doch ungewöhnlich und bemerkenswert. Neben dem radikalen Einbruch der bisherigen Regierungspartei „Republikaner“, den man ohne Übertreibung als ein parteipolitisches Erdbeben bezeichnen könnte, ist zumindest überraschend, dass auch die Partei „Armenische Revolutionäre Föderation“, auch als „Dashnakzutyun“ bekannt, die Fünfprozenthürde ebenfalls nicht erreichen konnte. Auch wegen der Verfassungsklausel zum 30-prozentigen Anteil der Sitze für die Opposition ist die Zahl der Mandate von bisher 105 auf nun 132 gestiegen.

Ein Land zwischen „revolutionärem“ Schwung und realpolitischer Ernüchterung

Erste Einschätzungen internationaler Wahlbeobachter im Auftrag der OSZE gehen davon aus, dass die Wahlen korrekt verlaufen seien und kommen zu einer prinzipiell positiven Einschätzung. Sieht man auf die Ergebnisse, so scheint die Begeisterung vieler Armenierinnen und Armenier für Nikol Pashinian anzuhalten. Gleichzeitig kann das Wahlergebnis als Indikator dafür gewertet werden, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung in Armenien offenkundig andere Personen als politisch Verantwortliche wünscht.

Gleichwohl bleibt weiterhin die Frage offen, ob sich diese Begeisterung auch als nachhaltig erweist. Vor dem Hintergrund der Ereignisse vom April und Mai dieses Jahres, als Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße gingen und den Eindruck erweckten, fast alle Armenierinnen und Armenier stünden hinter Nikol Pashinian, ist die 48-Prozent-Wahlbeteiligung vom Sonntag ernüchternd. Mehr als die Hälfte aller Wahlberechtigten verzichtete demnach auf die Stimmabgabe. Zum Vergleich: an der letzten Parlamentswahl im April 2017 beteiligten sich immerhin 61 Prozent.

Diese Situation zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Hauptstadt der Spitak-Region, Gyumri. Hier begann Nikol Pashinians Bewegung im Frühjahr 2018 und hier war der Zuspruch für ihn besonders groß: An mehreren Tagen demonstrierten jeweils Zehntausende für ihn – bei einer Einwohnerzahl von lediglich 80.000 Menschen. Trotzdem betrug die Wahlbeteiligung in Gyumri bei der Parlamentswahl am Sonntag nur 39 Prozent. Ist die landesweite Begeisterung des Frühlings also einer spätherbstlichen Ernüchterung gewichen?

Nicht nur Pashinian-Kritiker vermuten, dass der Grund für den kurzfristig angesetzten Wahltermin in der Befürchtung des Pashinian-Lagers zu sehen sei, der Schwung der Begeisterung des Frühjahrs würde immer stärkerer Ernüchterung weichen. Ursprünglich hatte man sich auf einen Wahltermin Anfang April 2019 verständigt. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass der kurze Wahlkampf kaum durch inhaltliche Auseinandersetzungen geprägt war. Abgesehen vom Thema „Korruptionsbekämpfung“, das schon im Frühjahr die meisten Armenierinnen und Armenier elektrisierte – dies war und ist angesichts der Evidenz dieses Problems auch sehr gut nachvollziehbar – war es ein ausgesprochen personalisierter Wahlkampf. Persönliche Angriffe überschritten sehr häufig die in Wahlkämpfen ohnehin schon sehr großzügig ausgelegten Grenzen des politischen Anstands.

„Sersch muss weg!“ - Sersch war weg

In diesem exzessiv personalisierten Wahlkampf war auch die Abwesenheit des langjährigen Staatspräsidenten Sersch Sarksyan bemerkenswert. Zu Anfang von Nikol Pashinians Bewegung im Frühjahr hatten sich die Menschen in Armenien noch unter der Überschrift „Sersch muss weg!“ versammelt. Sarksyan war damals mittels einer Machtrochade vom Präsidenten- ins Premierministeramt gewechselt und hielt damit weiter alle Fäden in der Hand. Dieses Manöver wird gemeinhin als einer der Auslöser für die Proteste im Frühling gewertet.

Im jetzigen Wahlkampf spielte Sersch Sarksyan jedoch überhaupt keine Rolle. War er noch im Frühjahr Anlass der Proteste, so blieb es in den wenigen Wochen des Wahlkampfes sehr ruhig um ihn. Wohl um die Chancen für die „Republikaner“ zu erhöhen, hatte er darauf verzichtet, sich auf deren Liste platzieren zu lassen. Darüber hinaus beteiligte er sich nicht proaktiv am Wahlkampf und verzichtete auf jegliche mediale Präsenz – und das als Parteivorsitzender. Die Angriffe des Pashinian-Lagers richteten sich somit insbesondere gegen die Erstplatzierten der Liste der „Republikaner“, den ehemaligen Verteidigungsminister Vigen Sarsyan, die Vizeparlamentspräsidentin Arpine Howhannisyan, den ehemaligen Geheimdienstchef Davit Shahnazaryan sowie Fraktionschef Baghdasaryan Vahram. Die scharfen Angriffe auf die bekanntesten Repräsentantinnen und Repräsentanten der „Republikaner“ und vielleicht auch deren eigener Entschluss, einen Wahlkampf ganz ohne öffentliche Veranstaltungen, sondern nur über die sozialen Medien zu führen, könnten dazu beigetragen haben, dass keiner von ihnen im neuen Parlament vertreten sein wird. Der politische Aderlass für die langjährige Regierungspartei ist enorm und die Folgen für die Zukunft der Partei derzeit noch nicht absehbar.

„Dashnaken“ und die Rolle der Diaspora

Neben dem desaströsen Ergebnis für die „Republikaner“ überraschte das schlechte Abschneiden der Partei „Armenische Revolutionäre Föderation“ („Dashnakzutyun“ oder kurz: Dashnaken). In der sogenannten „Dritten Armenischen Republik“ seit der Unabhängigkeit 1991 war diese älteste, schon 1890 gegründete armenische Partei in fünf von sechs Parlamenten vertreten, zieht nun jedoch nicht mehr in die Nationalversammlung ein. Traditionell war die Partei stets eng mit einflussreichen Diaspora-Armeniern verbunden und gilt als die Partei der „Nationalen Bewegung“. Bei der Nationalbewegung wiederum spielt der Bergkarabach-Konflikt eine besonders wichtige Rolle. Die „Nationale Bewegung“ und mithin einflussreiche Diaspora-Armenier nahmen bisher eine besonders konsequente Haltung im Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach ein.

Die Frage, warum diese Partei bei den Wahlen am 9. Dezember ein so niederschmetterndes Ergebnis erzielte, bietet viel Raum für Spekulationen. Neben den Repräsentantinnen und Repräsentanten der „Republikaner“ spielte bei den massiven persönlichen Angriffen – auch schon während der Frühjahrsereignisse – der ehemalige Staatspräsident Robert Kocharyan eine wesentliche Rolle. Auch er war Zielscheibe der Proteste und blieb es im Wahlkampf, obwohl er selbst gar nicht zur Wahl stand. Robert Kocharyan, der zweite Präsident (1998 – 2008) der dritten Republik wurde als Hauptschuldiger für die Opfer während der gewaltsamen Unruhen im Jahre 2008 ausgemacht, was von den Demonstranten des Frühjahrs 2018 immer wieder thematisiert wurde. Als offenes Geheimnis gilt in Armenien, dass er eine Art „graue Eminenz“ hinter der Dashnaken-Partei sei. Und dessen schlechtes Image sei eine der Ursachen für den Niedergang der Dashnaken-Partei.

Es gilt weiter zu beobachten, ob durch diesen massiven Einschnitt für die künftige Bedeutung dieser wichtigsten Interessenspartei der Diaspora-Armenier außenpolitische Folgen resultieren.

Außenpolitische Auswirkungen

Auch außenpolitische Themen spielten kaum eine Rolle im Wahlkampf, eher Mutmaßungen in den sozialen Medien. Aber in einem Land wie Armenien, das sich in einer prekären geostrategischen Situation befindet, müssen derartige innenpolitische Veränderungen auch immer unter außenpolitischen Aspekten gesehen werden. Die wichtigsten Fragen sind dabei: das Verhältnis zur Schutzmacht Russland, der Konflikt mit dem Nachbarland Aserbaidschan um Bergkarabach und die Beziehungen zur Europäischen Union (EU), mit der im Oktober 2017 ein spezieller Vertrag über die bilateralen Beziehungen abgeschlossen wurde. Wenn überhaupt entsprechende Äußerungen gemacht wurden, dann ließen diese eher Kontinuität in der armenischen Außenpolitik erwarten.

Es liegt auf der Hand, dass es seitens des Pashinian-Lagers Rückversicherungen mit Russland gab. Jedenfalls ist schwer vorstellbar, dass angesichts der russischen Truppenpräsenz in Armenien, deren Hauptkontingent noch dazu in der „Hauptstadt der Revolution“ Gyumri stationiert ist, keinerlei Rücksprachen und -versicherungen erfolgt sein sollen. Aus armenischer Perspektive ist die russische Truppenpräsenz essentiell für die Sicherheitslage des Landes. Wiederholt hatte sich Nikol Pashinian mit dem Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin getroffen.

Mit Kontinuität dürfte auch im Hinblick auf das Verhältnis zur Europäischen Union zu rechnen sein. Nikol Pashinian hatte seit den Protesten im Frühjahr mehrfach Kontakte und konstruktive Gespräche mit der EU gehabt. Auch hier dürften daher keine Volten oder gar strategische Wechsel zu erwarten sein. Die Verankerung in der Eurasischen Union bei gleichzeitiger Vertiefung der Beziehungen zur EU dürfte weiter die außenpolitische Agenda der neuen Regierung bestimmen.

[1] Vgl. https://reut.rs/2RL4bQ4

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Dr. Thomas Schrapel

Dr

Director of the Regional Programme Political Dialogue South Caucasus

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