Country reports
Von estnischer Seite waren der frühere Bildungs- und Verteidigungsminister und jetzige Rektor der Technischen Universität Tallinn, Prof. Jaak Aaviskoo, sowie der estnische Botschafter in Deutschland, Mart Lannemäe, anwesend.
Der diesjährige, mit 200.000 Euro dotierte, projektbezogene Reinhard-Mohn-Preis stand unter dem Motto „Smart Country – Vernetzt. Intelligent. Digital“. Der Preis erinnert an den im Jahr 2009 gestorbenen Gründer der Bertelsmann-Stiftung, Reinhard Mohn, und soll innovative Ideen für drängende politische und gesellschaftliche Herausforderungen würdigen. Diesmal stand die Digitalisierung im Mittelpunkt: Monatelang bereiste ein Projekt- und Rechercheteam neben Estland Länder wie Israel, Schweden und Österreich, wo ebenfalls interessante Ansätze für Digitalisierung, etwa zur Start-up-Kultur und zu e-government, zu finden sind. Am Ende fiel die Wahl – nicht zuletzt auch unter dem Eindruck, den die Teilnehmer der Delegationsreisen gewinnen konnten - einstimmig auf Estland, das auch in Deutschland immer mehr Beachtung findet. Das stellte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Tallinn im letzten Jahr heraus. Für dielaufende EU-Ratspräsidentschaft setzt Estland Digitalisierung auf die Agenda nach ganz oben.
Brigitte Mohn, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, sieht Estland auch für Deutschland als richtungsweisendes Beispiel. Während seiner zehnjährigen Amtszeit von 2006 und 2016 habe Ilves Digitalisierung zur Chefsache gemacht. Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, Aart de Geus, früher niederländischer Sozial- und Arbeitsminister, würdigte, dass in Estland Behördengänge ohne Papier und Wartezeiten möglich seien und lobte den Preisträger: „Sie haben Estland wahrlich zu einer Smart Country gemacht.“ Deutschland hingegen müsse für die Gestaltung der digitalen Transformation mehr tun.
Die Festrede hielt Prof. Jan Gulliksen. Er ist Mitglied der Digitalisierungskommission der schwedischen Regierung und Dekan der „School of Computer Science and Communication“ am Royal Institute of Technology. Zudem führt ihn die Europäische Kommission unter den „Digital Champions“ auf. Der Schwede unterstrich die Vorreiterrolle Estlands gerade bei den öffentlichen Diensten. Freilich führe Digitalisierung zu einer völlig neuen Arbeitswelt. Routinearbeiten fielen etwa durch die Automatisierungsprozesse weg. Nur wenn es gelänge, betroffene Arbeitnehmer umzuschulen, werde die Gesellschaft gestärkt. Europaweit gebe es schon jetzt einen großen Bedarf an Arbeitskräften im IT-Bereich.
Anschließend ergriff der Preisträger Toomas Hendrik Ilves mit einer bemerkenswerten Dankesrede das Wort. Für Ilves ist die „Schöne neue digitale Welt“ in erster Linie eine analoge Aufgabe, da es um Politik, Gesetze und Vorschriften gehe. Was in Deutschland kaum bekannt ist: Estland habe nicht nur die größte Internetfreiheit der Welt, sondern ebenso die beste Cybersicherheit in Europa. Der Digital Economy and Society Index der EU bewertet Estland ganz aktuell als Nummer eins bei der Bereitstellung öffentlicher Dienste. Für eine erfolgreiche Digitalisierung Deutschlands sieht er folgende Voraussetzungen als zwingend an: der Bund oder die Länder müssten einen „starken digitalen Identitätsnachweis“ ausgeben, um etwa das e-government nutzen zu können. Für die Vorteile der Digitalisierung müsse die digitale Signatur der physischen gleichgestellt werden. Deutschland habe zudem auch keine Bürgerkarte wie Österreich, weshalb sich bis jetzt auch noch keine digitalen Verträge abschließen lassen.
Zu diesen Äußerungen passt, dass Estland in seiner Zeit des Ratsvorsitzes den Schwerpunt der Präsidentschaft der Förderung digitaler Technologien widmen will. Regierungschef Jüri Ratas äußerte zum Auftakt der Ratspräsidentschaft die Überzeugung, dass die Entwicklung eines barrierefreien digitalen Binnenmarktes die Wirtschaftsleistung in Europa um 400 Milliarden Euro erhöhen und Tausende neue Jobs schaffen könne. Estlands amtierende Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid bemerkte – ganz auf Linie mit ihrem Amtsvorgänger – zum Auftakt: „Wir haben das Gefühl, dass wir Europa viel geben können.“