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Country reports

Innenpolitische Krise in Kirgisistan

Worum es beim Konflikt zwischen Präsident Dscheenbekow und dessen Vorgänger geht

Vor unseren Augen spielt sich in Kirgisistan eine akute innenpolitische Krise ab. Auslöser dafür ist ein offener Konflikt zwischen dem amtierenden kirgisischen Präsidenten Sooronbaj Dscheenbekow und dem Ex-Präsidenten Almasbek Atambajew. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stehen sowohl persönliche Motive als auch ein seit langem schwelender Konflikt zweier politischer Lager, die sich für verschiedene Entwicklungsrichtungen des Landes einsetzen.

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Die Vorgeschichte der Krise

Gemäß der geltenden Verfassung von Kirgisistan kann der Präsident des Landes nur für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt werden. Diese Regelung wurde nach der Revolution vom April 2010, die das in Korruption und Machtmissbrauch versunkene Clanregime von Präsident Kurmanbek Bakijew stürzte, unter aktiver Beteiligung von Atambajew eingeführt. Gemäß der neuen Verfassung wurde Atambajew am 30. Oktober 2011 zum Präsidenten gewählt. In den Jahren seiner Präsidentschaft gelang es ihm, dem postrevolutionären Land soziale und politische Stabilität und Eintracht zwischen den Volksgruppen zu bringen sowie einen Ausgleich zwischen dem Norden und Süden des Landes zu schaffen. Darüber hinaus bewahrte er die säkulare und demokratische Entwicklung Kirgisistans.

Ein bemerkenswerter Verdienst Atambajews besteht in der verfassungsgemäßen, freiwilligen Abgabe seiner Macht nach Ende seiner Amtszeit. Er schaffte damit einen bedeutenden historischen Präzedenzfall für die zentralasiatische Politik. Denn es besteht keinerlei Zweifel daran, dass er die politische Macht besessen hätte, die Verfassung so zu ändern, dass ihm eine zweite Amtszeit erlaubt gewesen wäre. Das hat er nicht getan. Damit beschritt er in einer Region, die durch ein jahrhundertealtes autoritäres Erbe geprägt ist, einen vollkommen neuen Weg: Er versuchte zu etablieren, dass die Exekutive die Verfassung und geltendes Recht achtet.

Zu seinem Nachfolger wählte Atambajew seinen langjährigen Gefährten, den damaligen Ministerpräsidenten, Sooronbaj Dscheenbekow. Wie er selbst einmal sagte, habe er mit diesem Menschen die schwersten Prüfungen in der Politik gemeistert. Seit 20 Jahren seien sie bereits befreundet und Dscheenbekow habe ihn nie im Stich gelassen.

Am 15. Oktober 2017 gewann Dscheenbekow dank der politischen Unterstützung von Atambajew die Präsidentschaftswahlen, wobei er sich als dessen Nachfolger gab. Bei seinen ersten Auftritten betonte er stets, dass er den Kurs seines Vorgängers fortsetzen werde.

Der öffentliche Bruch geschah im Frühjahr 2019: Atambajew bezichtigte Dscheenbekow, den nun amtierenden Präsidenten, offiziell schuld am Unfall im Bischkeker Heizkraftwerk im Januar 2018 zu sein. Darüber hinaus warf er ihm systematische Korruption, die Durchsetzung des Staates durch seinen Familienclan und die illegale Verfolgung politischer Gegner vor - zuvor wurden einige Strafverfahren gegen enge Freunde von Atambajew eingeleitet.

Atambajew erklärte, dass Dscheenbekow seine Erwartungen enttäuscht habe und er bedauere, seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen unterstützt zu haben. Während einer Rede am 17. März 2019 in Bischkek bat er öffentlich um Verzeihung dafür, dass er Dscheenbekow zur Macht verholfen hatte.

Die Vorgeschichte der Krise

Für eine solche Kritik hatte er Grund genug gehabt. Unabhängige Experten berichten von einer Wiederbelebung der Clanseilschaften in der Machtspitze des Landes, von einer Zunahme der Korruption, einer überbordenden Bürokratisierung der Staatsverwaltung und einem allmählichen Anstieg autoritärer Tendenzen in Kirgisistan. Ein aktueller und zugleich beunruhigender Trend im Land ist die rasante und vom Staat unbeachtete Islamisierung breiter Bevölkerungsschichten. Dscheenbekows Brüder betreiben Geschäfte mit Katar. Die Anzahl der Moscheen übersteigt bereits heute die der Schulen, und es werden planlos weitere errichtet. So wurden im letzten Jahr allein in Bischkek fünf neue Moscheen gebaut.

Auch das Straßenbild hat sich durch immer mehr verschleierte Frauen stark verändert. Hinzu kommt eine spürbar wachsende Intoleranz gegenüber anderen Konfessionen und Religionen. Der Einfluss ausländischer islamischer Organisationen, die den Bau zahlreicher Moscheen und Koranschulen ungehindert finanziell unterstützen, nimmt stetig zu. Gab es im Jahr 2018 in Kirgisistan 2.262 allgemeinbildende Schulen, standen dem im selben Jahr 2.856 islamische Einrichtungen, darunter 2.647 Moscheen und 107 Koranschulen, gegenüber.

Nach aktuellen Berichten kämpften mehr als 500 Bürger Kirgisistans für den IS in Syrien. Für ein solch kleines Land ist dies eine enorm hohe Zahl. Im Vergleich dazu zogen genauso viele Bürger Kasachstans für den IS in den Krieg. Bemerkenswert ist dabei, dass Kasachstan eine drei Mal höhere Bevölkerungszahl besitzt als Kirgisistan. Schwierige soziale und wirtschaftliche Bedingungen und eine fehlende nationale Leitidee schaffen in Kirgisistan ein Vakuum, das die Religion bereitwillig ausfüllt.

Nach der scharfen Kritik Atambajews ging der Konflikt in eine heiße Phase. Als Reaktion beschuldigte Dscheenbekow ihn selbst der Korruption sowie des Machtmissbrauchs und ließ ihn strafrechtlich verfolgen. Am 27. Juni dieses Jahres entzog das kirgisische Parlament Atambajew die Immunität und den Status des Ex-Präsidenten und übergab der Staatsanwaltschaft eine Liste der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen. Demzufolge soll der Ex-Präsident an einem korrupten Geschäft zur Modernisierung des Bischkeker Wärmekraftwerks beteiligt gewesen sein, einen verurteilten Kriminellen freigelassen und unlautere Immobiliengeschäfte betrieben haben.

Am 7. August versuchten kirgisische Spezialeinheiten das Anwesen Atambajews, das 20 km von Bischkek entfernt liegt, zu stürmen und ihn zu inhaftieren. Der Einsatz entwickelte sich jedoch zu einer blutigen Auseinandersetzung mit seinen Anhängern. Während die Sondereinsatzkräfte nur mit Gummigeschossen feuerten, wurde aus Atambajews Anwesen heraus scharf geschossen. Zuvor hatte der Ex-Präsident verkündet, er sei bewaffnet und werde sich bis zum Letzten verteidigen, wenn nötig. Im Laufe des Konflikts wurden sechs Männer der Sondereinsatzkräfte als Geiseln genommen, 52 Menschen verletzt und ein Beamter der Sondereinsatzkräfte starb an den Folgen seiner Schussverletzungen. Letztendlich scheiterte die Aktion am aktiven Widerstand der Anhänger Atambajews. Einen Tag später, am 8. August, wurde ein zweiter Versuch unternommen ihn festzusetzen – mit Erfolg. Atambajew ergab sich und wurde am 9. August offiziell festgenommen und ins Untersuchungsgefängnis des Staatlichen Komitees für die Nationale Sicherheit Kirgisistans in Bischkek gebracht. Nach Angaben seines Anwalts wurde gegen den Ex-Präsidenten eine vorläufige Anklage erhoben. Im Falle eines Schuldspruchs droht ihm lebenslange Haft.

Russland betrachtet die Situation mit Besorgnis. Atambajew galt als russlandfreundlicher Präsident. Unter ihm trat Kirgistan der Eurasischen Wirtschaftsunion bei. Premierminister Medwedjew, der am 9. August 2019 nach Bischkek reiste, betonte dort, dass Kirgistan „im 21. Jahrhundert sein Limit an Revolutionen schon ausgeschöpft habe“, betonte aber, dass man sich nicht einmischen wolle. Augenscheinlich beurteilt Moskau die Lage so, dass Dscheenbekow gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorgehen wird und man später immer noch einwirken kann.

Die Zukunft der kirgisischen Demokratie

Zweifellos ist die politische Stabilität im Land bedroht. Die herrschende Elite ist gespalten und die allgemeine soziale, wirtschaftliche und ideologische Situation verschlechtert sich. Die demokratische Zukunft Kirgisistans ist damit unklar. Im regionalen Kontext wird die Festnahme des Ex-Präsidenten Kirgisistans als schlechtes Signal an die Präsidenten der Nachbarstaaten gesehen. Für sie ist dies zweifelsohne ein weiterer Grund, einen harten innenpolitischen Kurs zu fahren und lebenslang selbst an der Macht zu bleiben.

Vor diesem Hintergrund wird die Frage aufgeworfen, ob die Demokratie in Kirgisistan überschätzt wurde? Nur die Tatsache allein, dass im Land Wahlen und regelmäßige Machtwechsel stattfinden, macht es noch nicht zu einer funktionierenden Demokratie. Denn wie die jüngere kirgisische Vergangenheit zeigt, brachten Revolutionen und Machtwechsel regelmäßig antidemokratische Persönlichkeiten an die Spitze des Staates. Letztendlich führte das sogar zu geringerem Frieden und Wohlstand für die Bevölkerung. Auch das Vertrauen der westlichen Partner in Form finanzieller Zuwendungen und technischer Hilfen, die Kirgisistan im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit erhält, bedeuten nicht das Ende der kirgisischen Demokratiedefizite und inländischen Probleme. Das beste Beispiel dafür ist die wiedererstarkte Korruption und der zunehmende Islamismus im Lande. Auch wenn Atambajew während und vor allem mit dem Ende seiner Präsidentschaft demokratische Prinzipien verfolgte und umsetzte, scheint er mit Blick auf seine Vor- und Nachfolger doch die Ausnahme zu sein. Was dem Land fehlt ist eine demokratische Tradition und vor allen Dingen eine entsprechende politische Kultur. Ob es ihm gelingt, diese in einer Region, die seit Jahrhunderten durch ihr autoritäres Erbe geprägt ist, auszubilden, ist mehr als fraglich. Währenddessen verfällt der kirgisische Staat immer weiter in autoritäre Muster zurück. Unter diesen Gesichtspunkten ist die oben aufgeworfene Frage wohl zu bejahen und das kurze Intermezzo der kirgisischen Vorzeigedemokratie wird wohl nicht mehr als ein Demokratieprojekt gewesen sein.

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