Country reports
Eine ironische Spitze konnte sich der scheidende Premierminister Mario Draghi auf seiner vermutlich letzten Sommer-Pressekonferenz dann doch nicht verkneifen. Er wünsche allen Kandidaten viel Glück, „auf dass ihre schönen Träume wahr werden mögen“. Er hätte auch „Blütenträume“ sagen können, aber seine Botschaft wurde sehr wohl verstanden: Wer jetzt den Bürgern das Blaue vom Himmel verspricht, wird ganz schnell an den politischen Realitäten zerschellen.
Doch wer in den Medien die täglichen Salven an sündhaft teuren Wahlversprechen verfolgt, so als gäbe es eine Kuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird, der ahnt Schlimmes: Sollten die gegenwärtigen Umfragen stimmen, könnte Italien nach anderthalb Jahren der Stabilität unter Mario Draghi ab Herbst schnell wieder zum größten Problemfall innerhalb der Europäischen Union werden.
Dass es so weit gekommen ist, verdankt das Land ausgerechnet drei „Putinfreunden“: Es ist seit langem bekannt, dass sich Matteo Salvinis Lega (nach der Spaltung der Fünf-Sterne-Bewegung nunmehr stärkste Kraft in der Abgeordnetenkammer) schon seit Längerem aus dubiosen Geldquellen russischer Banken nährt. Noch im Mai wollte Salvini, dessen Ego aus allen Nähten platzt, auf eigene Faust nach Moskau fliegen, um im Kreml über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Pikant: Weder die italienische Regierung noch die Parteiführung der Lega waren vorab informiert. Die russische Botschaft in Rom hatte aber bereits Flug und Hotel auf ihre Kosten gebucht. Nach heftigen Protesten quer durch alle Lager sowie aus den eigenen Reihen musste der Chef der Rechtspopulisten kleinlaut zurückrudern.
Auch bei der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung und ihren beiden Gründern, dem Fernsehkomiker Beppe Grillo und dem Internet-Guru Roberto Casaleggio, gibt es in den italienischen Medien immer wieder Gerüchte über dubiose russische Finanziers im Hintergrund. Grillo weigert sich bis heute standhaft, den Überfall Moskaus auf die Ukraine zu verurteilen und lehnt die westlichen Sanktionen ab und Parteichef Giuseppe Conte ließ die Koalition nicht zuletzt wegen der Forderung nach einem Ende der Waffenlieferungen an Kiew scheitern. Aus diesem Grunde hatte sich Außenminister Luigi di Maio im Juni gemeinsam mit allen anderen Ministern der Fünf-Sterne von Conte und Grillo losgesagt und eine eigene, moderate Fünf-Sterne-Pro-Draghi-Gruppe gegründet.
Als Dritte im Bunde der „Draghi-Mörder“ entpuppten sich ausgerechnet Silvio Berlusconi und seine Forza Italia, die Draghi und dessen politische Linie stets über den grünen Klee gelobt hatten. Aber wenn es um einen machttaktischen Vorteil geht, ist sich Putins langjähriger Männerfreund stets selbst der Nächste gewesen.
Berlusconi spekuliert auf späte Genugtuung
Dazu kursiert in Rom ein Gerücht, das den plötzlichen Sinneswandel des 85jährigen – der den Entschluss zum Rückzug aus der Draghi-Koalition entgegen dem Rat seines engsten Zirkels allein gefällt hatte – plausibel machen würde. So habe ihm Lega-Chef Salvini bei jenem entscheidenden Treffen in der „Villa Grande“, seinem Privathaus vor den Toren Roms, inmitten der politischen Chaostage angeboten, Berlusconi nach erfolgreicher Wahl zum Senatspräsidenten zu wählen. Der langjährige Premierminister war vor Jahren aufgrund seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung aus dem Senat ausgeschlossen und mit einem Ämterverbot belegt worden; dieses ist mittlerweile ausgelaufen. Es wäre sein später Triumph über seine größte Schmach.
Wie auch immer – der „Regierung der Nationalen Einheit“ unter Premier Mario Draghi hatte er damit den Todesstoß versetzt. Die Forza Italia-Minister Mariastella Gelmini, Mara Carfagna und Renato Brunetta traten daraufhin unter Protest aus Berlusconis Politclub aus, zahlreiche Forza Italia-Abgeordnete folgten ihnen.
Der Medienmogul gießt derweil in altbewährter Manier das Füllhorn über den Wählern aus. Allein Berlusconi und Salvini haben in den vergangenen Tagen Wahlversprechen in Höhe von 100 Milliarden Euro abgegeben, errechnete etwa die römische Tageszeitung „La Repubblica“: Von der „Flat Tax“ zwischen 15 und 24 Prozent und einer Mindestrente von 1.200 Euro monatlich, über die kostenlose Zahnbehandlung für Rentner und die Abschaffung der Erbschaftssteuer, bis zu teuren Milliardenprojekten wie der Brücke vom italienischen Festland nach Sizilien. Berlusconi fordert für sich eine maßgeschneiderte Justizreform, nach der Freisprüche nicht mehr von der Staatsanwaltschaft in höherer Instanz angefochten werden können. Alle drei Koalitionspartner verfechten die Einführung eines Präsidialsystems nach französischem Vorbild. Zudem will das Rechtsbündnis das Corona-Wiederaufbauprogramm mit Brüssel nachverhandeln, was dort kategorisch ausgeschlossen wird.
Meloni umwirbt die Bürgerlichen
Die Wähler jedenfalls scheinen sich genau gemerkt zu haben, wer den Sturz Mario Draghis befördert hatte. Sowohl die Fünf-Sterne als auch Lega und Forza Italia gehören bislang zu den demoskopischen Verlierern. Stärkste Kraft im Parlament würden nach heutigem Stand die 2012 aus neofaschistischen Bewegungen und nationalkonservativen Splittergruppen hervorgegangenen „Fratelli d´Italia“ („Brüder Italiens“, so beginnt die italienische Nationalhymne) unter ihrer markanten und mediengewandten Chefin Giorgia Meloni. Ihre Fratelli waren in den vergangenen 18 Monaten die einzige bedeutende Oppositionspartei gegen die breit gefächerte Draghi-Koalition. Diese klare Rolle scheint sich jetzt auszuzahlen.
Die 45jährige Römerin Meloni hat ihre Partei mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit aus der extremistischen Ecke manövriert und zu einer rechtskonservativen Partei mit bürgerlicher Akzeptanz gemacht. Sie gilt als überzeugte Atlantikerin. Frühere antieuropäische Reflexe – wie etwa die Forderung nach Italiens Ausstieg aus dem Euro – hat sie gegenwärtig in die Mottenkiste verbannt. In Sachen Ukraine hat sie sich früher und eindeutiger gegen Moskau positioniert als ihre Bündnispartner. Auch der Lieferung schwerer Waffen an Kiew haben die Fratelli im Parlament zugestimmt. So ließ Meloni auch ins gemeinsame Wahlprogramm ein Bekenntnis zur atlantischen und europäischen Bündnistreue aufnehmen.
Dazu passt, dass auf ihrer Liste u.a. der Direktor des Aspen-Instituts, der frühere Finanzminister Giulio Tremonti, kandidiert. Im Europäischen Parlament gehört ihre Partei gemeinsam mit der polnischen PiS zur rechtskonservativen ECR und nicht zu den antieuropäischen Rechtsextremen, wie etwa Lega, Front National und AfD. Vor der Auslandspresse in Rom betonte sie in mehreren Sprachen, dass sich die Partner im Ausland vor ihrem Wahlsieg nicht fürchten müssten. Geschickt spielt Meloni auch die weibliche Karte. Ob man ihr – und vor allem den weitgehend unbekannten Hintersassen ihrer Partei – den Imagewandel abnehmen kann, bleibt abzuwarten. Denn immer wieder scheinen alte Reflexe in ihren öffentlichen Ansprachen durch: sei es gegen Flüchtlinge und Migranten, sei es gegen Schwule, Lesben oder Transsexuelle. Auch eine klare Abgrenzung der Fratelli zu Mussolini-Nostalgikern und Neonazis gelingt ihr nicht so recht. Entsprechende Kritik weist Meloni stets mit dem Hinweis zurück, sie wolle sich mit der Zukunft Italiens befassen, nicht mit der Vergangenheit.
Die politische Mitte scheitert an sich selbst
Kamen die Neuwahlen zu überraschend? Liegt es am Zeitmangel? Oder wäre der Versuch der Moderaten, Liberalen und Zentristen, sich zu einer schlagkräftigen bürgerlichen Sammlungsbewegung zusammenzuschließen, auch so gescheitert? Schon vor dem plötzlichen Ende der Regierung Draghi hatten sich die Führer der in viele Kleinparteien gespaltenen politischen Mitte für ein Bündnis im Hinblick auf die turnusmäßigen Neuwahlen im Frühjahr 2023 ausgesprochen. So war Ex-Premier Matteo Renzi einer der ersten, die für ein geeintes „campo Draghi“, ein politisches Draghi-Lager warben, um dessen Agenda des Wiederaufbaus und der Erneuerung Italiens programmatisch weiterzuführen – möglichst mit dem bisherigen Regierungschef selbst an der Spitze.
Doch die persönlichen Animositäten zwischen den Parteifürsten, wie dem ehemaligen Wirtschaftsminister Carlo Calenda („Azione“), der ehemaligen Außenministerin Emma Bonino („+Europa“) oder dem amtierenden Außenminister Luigi di Maio („Impegno Civico“) machten eine Verständigung unmöglich. Die gegenseitige persönliche „Ausschließeritis“ stand der programmatischen Nähe im Wege. In der Hektik dieser hitzigen Augusttage und nach vielen ermüdenden Pirouetten fanden nur zwei Protagonisten zusammen: Renzi und Calenda. Ermöglicht hatte das, was vom „Projekt Draghi“ übrigblieb, der Ex-Premier, indem er einen Schritt zurück ins Glied tat und seinem Rivalen Calenda den Spitzenposten überließ. Sie hoffen nun gemeinsam über zehn Prozent zu kommen und zum Zünglein an der Waage zu werden. Ob das gelingt, erscheint mehr als zweifelhaft, zumal die Wähler nirgendwo Mario Draghi selbst ankreuzen können. Die politische Mitte scheint sich einmal mehr selbst amputiert zu haben.
Letta verpatzt seine Chance
Eine erhebliche Schuld an dieser politischen Selbstverzwergung trägt auch der Chef der Mitte-Links-Partei „Partito Democratico“ (PD), Enrico Letta. Ähnlich wie bei der Präsidentenwahl im Februar verdribbelte sich der PD-Vorsitzende, indem er seine sozialdemokratische Formation entgegen vielen Ratschlägen nur halbherzig zur bürgerlichen Mitte hin öffnete, weil er unbedingt auch Kleinparteien vom linken Rand in seine Liste einbinden wollte; damit verprellte er die bürgerlichen Kräfte. Besonders für Renzi und Calenda war ein solches „Regenbogen-Bündnis“ unvorstellbar.
Einerseits betont Letta allenthalben, weiterhin die Reformpolitik Draghis zu unterstützen, andererseits hat er sich nun in Geiselhaft linker und radikal-ökologischer Splittergruppen begeben, die etwa Teile von Draghis nationalem Wiederaufbauplan oder den Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO abgelehnt hatten. Wie dieser innere Widerspruch zu lösen ist, bleibt sein Geheimnis. Allein mit einer Dämonisierung Melonis wird die Wahl jedenfalls nicht zu gewinnen sein. Mit etwas mehr Mut und Kohärenz hätte Letta, der selbst seine politische Laufbahn in der traditionsreichen italienischen Christdemokratie begonnen hatte, seine PD als eine Partei der bürgerlichen Mitte positionieren können.
Die Probleme des Wahlrechts
Wer die Hyperventilation dieser Tage im politischen Rom verstehen will, muss sich auch das komplizierte Wahlrecht anschauen, nach seinem Erfinder „Rosatellum“ genannt. Dieses „Grabenwahlrecht“ ist eine Kombination aus Einzelwahlkreisen und regionalen Listen. Jeder Wähler hat eine Stimme, die ein erstes Mal im Wahlkreis und ein zweites Mal in der übergeordneten Wahlregion ausgezählt wird. Wer seine Stimme also dem Wahlkreiskandidaten gibt, stimmt damit zugleich für die parteizugehörige Listenverbindung in der Wahlregion.
Drei Achtel der Mandate werden direkt, fünf Achtel proportional vergeben. Um im Parlament vertreten zu sein, braucht ein einzelne Partei mindesten drei Prozent, eine Listenverbindung 10 Prozent. Das führt dazu, dass sich fast alle Parteien bereits vor der Wahl auf Koalitionen einigen. Auch Mehrfachkandidaturen sind möglich. So tritt Ex-Premier Giuseppe Conte als Spitzenkandidat der Fünf-Sterne-Bewegung gleich in fünf Wahlregionen an.
Dazu kommt die gesetzliche Verkleinerung des Parlaments um ein Drittel. Die Abgeordnetenkammer wird statt 630 künftig nur noch 400 Mitglieder haben, der gleichberechtigte Senat statt 315 nur noch 200 Mitglieder. Das beispiellose Gerangel um die Listenplätze mag sich jeder selbst vorstellen. Selbst bekannte Parlamentarier wie der frühere Senatspräsident und Mafiajäger Pietro Grasso blieben zugunsten Jüngerer auf der Strecke. Was einerseits eine fällige Verjüngung verspricht, droht andererseits zu einem Verlust des historischen politischen Gedächtnisses zu führen.
Russische Manipulation und trügerische Demoskopie
Die italienischen Geheimdienste und die EU-Kommission warnen unterdessen unisono vor möglichen Manipulationsversuchen durch russische Propaganda. Der EU-Gründerstaat werde in Moskau als wesentlicher Domino-Stein betrachtet, um in Europa Streit und Chaos zu säen. Mit einer „Orbanisierung“ Italiens könne man das politische Klima in Europa dauerhaft vergiften, so das Kalkül im Kreml. Putins Chefpropagandist Alexander Medwedew gab schon mal den Ton vor: Die Italiener sollten ihre „idiotische Regierung“ an den Urnen abstrafen, polemisierte er auf Twitter.
Die derzeitigen Umfragen sehen die Fratelli d´Italia bei rund 25 Prozent, dicht gefolgt vom Partito Democratico. Allerdings kann das rechte Wahlbündnis zusammen auf ca. 48 Prozent hoffen, was arithmetisch zu einer breiten absoluten Mehrheit in beiden Kammern reichen würde. 40 Prozent der Italiener geben allerding an, noch keine Idee zu haben, für wen sie stimmen werden. Auch die Wahlenthaltung könnte eine Rekordhöhe erreichen.
Die Enttäuschung, dass die Parteien ihre eigenen Interessen mal wieder über das nationale Interesse stellen, ist allenthalben zu spüren. In Rimini ging dieser Tage das traditionelle jährliche Katholikentreffen zu Ende. Fast alle wichtigen Spitzenpolitiker warben vor dem Publikum für sich und ihre Programme. Das ernüchternde Fazit fasste ein Teilnehmer so zusammen: „Ein verwirrendes und erbärmliches Angebot. Wir finden uns in keiner einzigen Partei inhaltlich wieder.“ Und auch die italienische Bischofskonferenz kritisiert die Selbstbezogenheit der Parteien und analysiert: „Es fehlt völlig an einer Vision für die Zukunft des Landes.“ Fast genau 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der traditionsreichen „Democrazia Cristiana“ ist in Italien weiterhin keine christdemokratische, bürgerlich-konservative Volkspartei in Sicht.