Nachdem am Montagnachmittag zunächst die Nachricht vom Rücktritt des Außenministers kursierte und dann auch der Name des Verteidigungsministers die Runde machte, drehte sich das Ministerkarussel in Brasília letztlich immer schneller bis am Abend klar war, dass Präsident Bolsonaro sein Kabinett in großem Stil umbildet.
Neben Ernesto Araújo und Fernando Azevedo e Silva aus den genannten Ressorts verlieren auch José Levi (Generalanwalt des Bundes), André Mendonça (Justiz), Luiz Eduardo Ramos (Regierungssekretariat) und Walter Braga Netto, Chef der mit dem Kanzleramt vergleichbaren Casa Civil, ihre Posten. Die drei letztgenannten bleiben allerdings Teil der Regierungsmannschaft, da sie lediglich an die Spitze eines jeweils anderen Ministeriums wechseln. General Braga Netto wird neuer Verteidigungsminister, seinen Posten in der Casa Civil übernimmt Luiz Eduardo Ramos, ebenfalls ein General. Der bisherige Justizminister Mendonça wird von Anderson Gustavo Torres, bis dato Minister für Öffentliche Sicherheit im Hauptstadtbezirk (Distrito Federal) abgelöst und wird selbst von nun an die Generalanwaltschaft des Bundes leiten. Im brasilianischen Außenministerium Itamaraty entschied sich die Regierung für eine interne Lösung. Neuer Außenminister wird der Karrierediplomat Carlos Alberto Franco França, der bereits in Washington, Asunción und als Gesandter an der Brasilianischer Botschaft in La Paz in Bolivien tätig war, seit 2011 jedoch in Brasília weilt und viele enge Kontakte in die brasilianische Politik besitzt.
Als klarer Einflussgewinn für den sogenannten Centrão, eine Gruppe weitgehend ideologiefreier, programmatisch schwacher und stattdessen hauptsächlich an Ämtern und Posten interessierter Parteien, gilt die Beförderung der Abgeordneten Flávia Arruda (Partido Liberal) zur neuen Chefin des Regierungssekretariats. Die 41-jährige befindet sich in ihrer ersten Legislaturperiode als Abgeordnete und war bisher kaum in Erscheinung getreten.
Bolsonaro bereits in der Hand des Centrão?
Der Druck des Centrão auf Präsident Bolsonaro hatte angesichts der desaströsen Zustände im Gesundheitssystem mit vielerorts erschöpften Kapazitäten und seit Wochen steigenden Opferzahlen zuletzt deutlich zugenommen. Seit Beginn der Pandemie hat Brasilien mit über 317.000 Menschen weltweit nach den USA die zweitmeisten Todesopfer zu beklagen. Allein im März starben ca. 63.000 Brasilianer an oder mit einer Covid-19-Infektion und die jüngste traurige Rekordmarke vom 30. März beläuft sich auf 3.668 Corona-Tote innerhalb von 24 Stunden. Der im Februar neu gewählte Präsident der Abgeordnetenkammer Arthur Lira, der mit seiner Partei Progressistas zur Gruppe des Centrão gezählt wird, hatte sich stellvertretend für weite Teile der Legislative zu Wort gemeldet und angesichts unvermindert steigender Infektionen und der schleppenden Impfkampagne ein rigideres Vorgehen der Regierung in der Corona-Krise gefordert. Nach den Erfolgen der von Bolsonaro unterstützten Kandidaten für die Neubesetzung der Präsidenten von Abgeordnetenhaus und Senat, scheint der Centrão nun Gegenleistungen einzufordern.
Die bisherige Abgeordnete Flávia Arruda kündigte bereits an, in ihrer neuen Funktion als Chefin des Regierungssekretariats Spannungen zwischen der Exekutive und dem Kongress abbauen und den Dialog verstärken zu wollen. Ob es bei einem Dialog bleibt oder der Centrão zunehmend aktiv Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen möchte, bleibt abzuwarten.
Abgang von Ernesto Araújo – findet Brasilien jetzt seine Rolle in der internationalen Politik?
Brasiliens Reputation auf dem internationalen Parkett hat seit der Amtsübernahme der Regierung Bolsonaro schwer gelitten. Keinen unwesentlichen Anteil daran hatte der bisherige Außenminister Ernesto Araújo, der von Anfang an zum „ideologischen“ Flügel der Regierung zählte und immer wieder mit kontroversen Ansichten und teils auch der Verbreitung von Verschwörungstheorien zu einer Reihe von Themen auffiel. Araújo galt als glühender Anhänger der nationalistischen Politik Donald Trumps und strikter Gegner von Globalismus und Kommunismus. Entsprechend kritisch war seine Haltung zu Brasiliens wichtigstem Handelspartner, der Volksrepublik China. Aber auch mit seiner traditionell multilateralen Ausrichtung brach das Itamaraty unter der Leitung Araújos. Zum Verhängnis wurde ihm nun sein Versagen bei der Impfstoffbeschaffung.
Obwohl nahezu alle Hersteller ihre Vakzine in Brasilien getestet hatten, hat das Land es verpasst, sich frühzeitig ausreichend Impfdosen zu sichern, was zahlreiche Abgeordnete Araújo anlasten. Dieser hatte durch seine chinakritische Haltung die Verhandlungen mit Sinovac behindert und auch im Umgang mit indischen Verhandlungspartnern (Astra Zeneca) diplomatisches Feingefühl vermissen lassen. Wie vor kurzem bekannt wurde, sperrte sich Araújo im vergangenen Jahr sogar gegen Brasiliens Beitritt zur Covax Facility, die einen weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu COVID-19-Impfstoffen ermöglichen soll, da er eine Initiative der Weltgesundheitsorganisation, die von Trump und Bolsonaro kritisch gesehen wurde, nicht unterstützen wollte. Mittlerweile hat Brasilien über Covax jedoch bereits eine Million Dosen des Astra Zeneca Impfstoffs erhalten und insgesamt sollen dem größten Land Südamerikas sogar etwa 40 Millionen Dosen zugeteilt werden.
Wechsel im Verteidigungsressort und bei den Kommandeuren der Teilstreitkräfte – Bolsonaros Kampf um die Unterstützung des Militärs
Im Gegensatz zu Araújos Rücktritt, über den bereits spekuliert worden war, kam die Entlassung von Verteidigungsminister Azevedo e Silva völlig überraschend. Es wird berichtet, Bolsonaro habe den Reservegeneral dazu drängen wollen, ihn bei der Ausrufung des Ausnahmezustands zu unterstützen und von selbigem eine klarere politische Positionierung der Streitkräfte gefordert. In seiner Abschiedsrede sagte der scheidende Azevedo e Silva, er „habe die Streitkräfte als Institution des Staates bewahrt“ und machte unmissverständlich deutlich, dass Heer, Luftwaffe und Marine weder direkt der Regierung noch irgendeiner politischen Partei dienen, sondern als unabhängige staatliche Institution fungieren. Man hört auch, dass der Verteidigungsminister die Wiederholung einer Situation wie vor etwa einem Jahr unbedingt vermeiden wollte. Im Mai 2020 hatte es eine Reihe antidemokratischer Kundgebungen gegeben, die vom harten Kern der Anhänger Bolsonaros organisiert wurden und das Ziel äußerten, den Obersten Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal) auszuschalten und eine Militärdiktatur zu errichten. Damals hatte Bolsonaro den Protestierenden immer wieder versichert, dass „die Streitkräfte auf ihrer Seite seien“.
Aktuell muss man genau diese Frage, auf welcher Seite die Streitkräfte stehen, differenziert beantworten. Der Rücktritt von Verteidigungsminister Azevedo e Silva sowie auch die simultane Entlassung aller drei Kommandeure der Teilstreitkräfte – ein einmaliger Vorgang in der brasilianischen Geschichte – zeigen, dass die Führungselite der Militärs penibel darauf achtet, sich nicht politisch instrumentalisieren zu lassen und die Differenzen mit dem ehemaligen Hauptmann der Reserve, Präsident Bolsonaro, eher größer als kleiner werden. Bei der Mehrheit der einfachen Soldaten und insbesondere der Militärpolizei genießt Bolsonaro allerdings nach wie vor viele Sympathien. Für Aufsehen sorgte zuletzt auch ein Zwischenfall im Bundesstaat Bahia, bei dem ein wohl an psychischen Problemen leidender Militärpolizist – durch die Nationalfarben im Gesicht ziemlich sicher als Bolsonaro-Anhänger zu identifizieren – andere Polizisten bedrohte und letztlich niedergeschossen wurde. Eine regierungstreue Abgeordnete und Bolsonaros Sohn Eduardo unternahmen daraufhin in sozialen Medien den abstrusen Versuch, das Opfer als Held darzustellen und die Militärpolizei gegen Rui Costa, den Gouverneur des Bundesstaats von der linken Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) aufzuhetzen.
Fazit und Ausblick
Von den im Januar 2019 berufenen Ministern der Regierung Bolsonaro sind im März 2021 nur noch wenige übriggeblieben. Wirtschaftsminister Guedes und Umweltminister Salles sind beispielsweise noch an Bord, obwohl auch sie immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt waren. Auch von der ursprünglich groß angekündigten Distanz Bolsonaros zum Centrão und dem von ihm des Öfteren als „alte Politik“ (velha política) bezeichneten Establishment ist nichts geblieben. Seit gut einem Jahr taumelt Brasilien durch die Krise und eine durchdachte, nachhaltige Strategie zur Pandemiebekämpfung geschweige denn zum notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neustart danach ist nicht mal in Ansätzen zu erkennen.
Stattdessen versucht Staatspräsident Bolsonaro durch die Kabinettsumbildung Druck aus dem Kessel zu nehmen und die Regierungsmannschaft im Hinblick auf das „Projekt Wiederwahl 2022“ neu auszurichten. Fundamental wichtig dafür ist die Unterstützung des Centrão. Es ist somit nicht auszuschließen, dass Bolsonaro weitere Zugeständnisse in Form von Ministerposten für Abgeordnete des Centrão wird machen müssen. Seinen engen Vertrauten und Unterstützer, Außenminister Ernesto Araújo, musste Bolsonaro in gewisser Weise auch dem Centrão als „Opfer“ bringen, zu viel Schaden am Image Brasiliens hatte dieser durch unbedachte Aussagen und polemische Posts in den sozialen Netzwerken bereits angerichtet. Sein Nachfolger Franco França steht vor enormen Herausforderungen, von der Entscheidung über den potentiellen Ausschluss chinesischer Anbieter im Vergabeverfahren für die 5G-Lizenzen bis hin zur Neuorientierung der bilateralen Beziehungen mit den USA unter Präsident Joe Biden.
Das Militär ist und bleibt eine der Machtstützen von Präsident Bolsonaro, doch die Rücktrittswelle im Verteidigungsministerium zeugt von einem belasteten Verhältnis von Teilen der Offizierselite zu Präsident Bolsonaro.
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