Während bis vergangenen Sonntag zahlreiche Glückwünsche an Joe Biden zur gewonnenen Präsidentschaftswahl in den USA von Bundeskanzlerin Angela Merkel und vielen anderen Staatsoberhäuptern eingingen, war von Brasiliens Staatspräsident Bolsonaro oder aus dem Itamatary, dem brasilianischen Außenministerium, nichts zu vernehmen. Dafür äußerte sich der Präsident des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Maia (DEM). Er beglückwünschte Joe Biden und wurde mit dem Satz zitiert: „Der Sieg von Joe Biden stellt die Werte einer wahrhaft liberalen Demokratie wieder her, die die Menschen-, Individual- und Minderheitenrechte wertschätzt.“[1]
Anders als in der Vergangenheit, als sich das brasilianische Interesse an US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen in Grenzen hielt, verfolgte man dieses Mal nicht nur in der Hauptstadt Brasilia äußerst aufmerksam sämtliche Entwicklungen rund um die Wahl in den Vereinigten Staaten. Je länger sich die Hängepartie um den Einzug ins Weiße Haus hinzog, desto größer wurde das Dilemma insbesondere für Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro. Dieser hatte im Vorfeld der Wahl aus seiner Präferenz für Amtsinhaber Trump keinen Hehl gemacht und Herausforderer Biden beispielsweise nach dessen Vorstoß zur „Rettung des Regenwalds“ im Rahmen der ersten Fernsehdebatte Ende September scharf angegriffen[2]. Nun, wo ein Wahlsieg des Demokraten feststeht, auch wenn Amtsinhaber Trump seine Niederlage (noch) nicht eingestehen und wahrscheinlich die Gerichte bemühen will, um die Wahl anzufechten, scheint der Moment gekommen zu sein, an dem Bolsonaro auf eine Art diplomatischen Pragmatismus umschwenken muss. Vor der Wahl hatte der Staatspräsident seine Anhänger noch darauf eingeschworen, dass die Hoffnung zuletzt sterbe und man aufgrund des komplexen amerikanischen Wahlsystems Geduld haben müsse[3]. Alles deutet nun darauf hin, dass er sich doch eine Strategie für den Umgang mit dem neuen Amtskollegen wird überlegen müssen.
In den vergangenen zwei Jahren seit Bolsonaros Amtsantritt im Januar 2019 waren sowohl bei Regierungsstil und Auftreten als auch bei den politischen Vorhaben Parallelen zwischen dem ehemaligen Hauptmann der brasilianischen Armee und dem US-Immobilienunternehmer unübersehbar. Bolsonaro und Trump versuchten beide stets, das jeweils im Wahlkampf erzeugte Bild des „Anti-Establishment-Präsidenten“ aufrecht zu erhalten, hatten auch in Corona-Zeiten keine Hemmungen, die physische Nähe zur Basis ihrer Anhängerschaft zu suchen und bevorzugten eine direkte Art der politischen Kommunikation, wohingegen regierungskritische traditionelle Medien oftmals als Feindbild dargestellt wurden.
Nach seiner Amtsübernahme hatte Bolsonaro, symbolisch wichtig, als erstes ausländisches Staatsoberhaupt Präsident Trump im Weißen Haus besucht.[4] Darüber hinaus war ihm stets an einem guten persönlichen Verhältnis zu Trump sowie einer Verbesserung der US-amerikanisch-brasilianischen Beziehungen gelegen. Ähnlich wie Trumps „America first“-Politik setzt auch die Regierung Bolsonaro auf einen stark nationalen Kurs unter dem Slogan „Brasil acima de tudo, Deus acima de todos“, zu Deutsch „Brasilien über alles und Gott über allen“. Analog zur umstrittenen Entscheidung der Trump-Regierung, hatte auch Bolsonaro mit Blick auf die Forderung der Evangelikalen, einer seiner wichtigsten Unterstützergruppen, zu Beginn dieses Jahres angekündigt, die brasilianische Botschaft in Israel bis spätestens 2021 von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen[5].
Insgesamt betrachtet, zeichnete sich unter Präsident Bolsonaro zwar eine teilweise Abkehr des tradierten multilateralen Engagements Brasiliens in der internationalen Politik ab. Allerdings hat Bolsonaro anders als Donald Trump die wiederholte Ankündigung, aus dem Pariser Klimaabkommen auszutreten, nicht wahrgemacht. Auch bei Handelsfragen zeigt Brasilien weiterhin durchaus ein starkes Interesse an multilateralen Abkommen, was im Widerspruch zum transaktionalen handelspolitischen Verständnis von Trump steht. So wurde der Abschluss des EU-Mercosul-Abkommens im Juli 2019 von Vertretern der brasilianischen Regierung ausdrücklich als großer Erfolg gewürdigt.
Keine Veränderungen der außenpolitischen Schwerpunktthemen zu erwarten
Trotz des Einzugs Joe Bidens ins Weiße Haus ab Januar nächsten Jahres und personeller Veränderungen in Schlüsselpositionen der US-amerikanischen Außenpolitik ist davon auszugehen, dass sich beim Blick auf die Liste der dominierenden Themen der amerikanisch-brasilianischen Beziehungen kaum etwas ändern wird. Weiterhin ganz oben auf der Agenda werden der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und der damit verbundene geostrategische Einflussgewinn Pekings in Brasilien und Lateinamerika, Umwelt- und Klima- sowie Handelsfragen stehen.
Auch wenn ein Präsident Biden mit Sicherheit kein erklärter Fan der bisherigen Außenpolitik Bolsonaros wäre, so ist ihm wie auch vielen seiner Vorgänger die Bedeutung Brasiliens im regionalen Kontext als mit Abstand größtes und bevölkerungsreichstes Land Lateinamerikas sowie auch global sicherlich bewusst. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die rapide wachsende ökonomische Abhängigkeit des Landes von China; eine Entwicklung, die in Washington parteiübergreifend mit Sorge betrachtet wird. Der für das kommende Jahr in Brasilien geplante Prozess zur Vergabe der 5G-Lizenzen spielt in Anbetracht der zukünftigen Relevanz dieser Technologie und Brasiliens enormem Potenzial als Wachstumsmarkt mit über 200 Millionen Einwohnern und einer hohen Smartphone-Nutzungsrate eine wichtige Rolle. Auch unter Präsident Biden dürften die USA versuchen, vehement auf einen Ausschluss des chinesischen Anbieters Huawei hinzuwirken.
Bei Umwelt- und Klimathemen besteht zweifelsohne das größte Konfliktpotenzial zwischen Bolsonaro und dem neu gewählten Präsidenten Biden. Brasilien wird beweisen müssen, dass es die Sorgen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich des von Entwaldung und Bränden geschädigten Regenwaldes in der Amazonasregion ernst nimmt. Das Festhalten an fragwürdigen und wissenschaftlich nicht haltbaren Erklärungen sowie Schuldzuweisungen an NGOs könnten Brasilien bei diesem Thema auf internationaler Ebene zunehmend ins Abseits befördern. Vielmehr könnte es sich für Brasilien lohnen, tatsächlich internationale Hilfe in Anspruch zu nehmen, oder aber glaubhaft zu versichern und durch politische Vorhaben zu bekräftigen, dass man in Zukunft mehr tun wird, um den Erhalt des Regenwaldes und anderer einzigartiger Biotope im Land sowie den Schutz der Biodiversität zu gewährleisten. Ein erster vielversprechender Schritt in diese Richtung war eine auf Initiative von Vizepräsident Mourão organisierte Reise von zehn in Brasilien stationierten Botschaftern verschiedener Länder ins Amazonasgebiet in der vergangenen Woche, bei der den diplomatischen Vertretern verschiedene Projekte der Regierung präsentiert wurden. Umgekehrt muss der internationalen Staatengemeinschaft auch klar sein, dass Brasilien mit ihr auf Augenhöhe verhandelt und seine Souveränität in umweltpolitischen Fragen respektiert sehen möchte.
Brasilien gehört zu den zwanzig wichtigen Handelspartnern der USA, in Lateinamerika ist das Land sogar der zweitwichtigste neben Mexiko. Im Oktober hatten Brasilien und die USA noch ein Protokoll zu Handelsregeln abgeschlossen, in dem sich Brasilien zu mehr Wettbewerb und regulatorischen Reformen bekannte.[6] Während freier Handel zwischen beiden Staaten und eine Intensivierung der kommerziellen Beziehungen aus US-amerikanischer Sicht hilfreich sein könnte, um den erwähnten Einflusszuwachs Chinas in der Region einzudämmen, hat Brasilien ebenfalls ein ureigenes Interesse an der Vertiefung der Beziehungen mit traditionell wichtigen Handelspartnern wie den USA und der EU. Aktuell gehen über ein Drittel der brasilianischen Exporte nach China und lediglich knapp zehn Prozent in die USA, was von einem deutlichen Ungleichgewicht und hohem Abhängigkeitsrisiko zeugt. Die Regierung Bolsonaro hatte sich in der Vergangenheit zudem intensiv um die Unterstützung der USA hinsichtlich einer brasilianischen OECD-Mitgliedschaft bemüht und man hofft weiterhin auf die Hilfe der USA in dieser Angelegenheit.
Kabinettsumbildung als Reaktion auf einen Wahlsieg Bidens?
Auf dem Nachrichtenportal G1 des Grupo Globo, dem größten und einflussreichsten Medienunternehmen Brasiliens, wurde bereits vor der Ausrufung Bidens als Wahlsieger ein Artikel veröffentlicht, der eine potenzielle Kabinettsumbildung als Reaktion auf einen Wahlsieg des demokratischen Kandidaten ins Spiel bringt[7]. Als denkbar gilt die Versetzung des bisherigen Umweltministers Ricardo Salles auf einen anderen Posten innerhalb der Regierung. Salles hatte in den vergangenen Monaten mehrmals mit skandalträchtigen Aussagen Aufsehen erregt und sich wie Bolsonaro wenig begeistert über Bidens Angebot einer internationalen Hilfszahlung über 20 Milliarden US-Dollar zum Schutz des Amazonas-Regenwalds gezeigt[8]. Der Austausch des Umweltministers, über dessen vorzeitige Entlassung bereits vor der US-Wahl gemutmaßt wurde, könnte in Washington im Sinne eines Signals der Kooperationsbereitschaft bei Umwelt- und Klimafragen positiv aufgefasst werden. Auch über die Zukunft von Außenminister Ernesto Araújo wird hinter den Kulissen munter spekuliert. Der Karrierediplomat gilt seit langem als Anhänger der trumpschen Politik und vertritt die Ansicht, dass die Welt vom Globalismus befreit werden müsse. Präsident Bolsonaro hat diesen Spekulationen jedoch bereits scheinbar ein Ende gesetzt, indem er klarstellte, dass es „keine Chance“ gäbe, dass Außenminister Araújo bei einem möglichen Wahlsieg Bidens sein Amt verlieren könnte[9].
Fazit
Die Entwicklung der brasilianisch-amerikanischen Beziehungen nach der umkämpften Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten von Amerika bleibt ebenso zu beobachten wie der Umgang mit einer steigenden wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von China, das die strategische Bedeutung Lateinamerikas längst erkannt hat. Unter einem rational agierenden Präsidenten Biden könnten sich unter diesen Voraussetzungen geo- und realpolitische Überlegungen letztlich als wichtiger erweisen als persönliche oder ideologische Differenzen zu Präsident Bolsonaro. Dies würde bedeuten, dass die Eindämmung des chinesischen Einflussgewinns, insbesondere hinsichtlich des sich abzeichnenden Kampf um Vorteile bei Zukunftstechnologien wie 5G, auch weiterhin eine Priorität der Amerikaner sein dürfte. Brasilien unter Präsident Bolsonaro, der China kritisch gegenübersteht und den Kommunismus offen ablehnt, könnte an dieser Stelle sogar ein entscheidender Partner sein.
Daneben werden die USA unter einem Präsidenten Biden bei Entscheidungen bezüglich der Vertiefung einer bilateralen Zusammenarbeit, etwa bei Handelsfragen, sicherlich darauf schauen, ob Brasilien beim Schutz von Menschenrechten, in Umwelt- und Klimafragen, bei der Korruptionsbekämpfung und wichtigen Reformvorhaben, wie z. B. der Steuerreform, Fortschritte macht. Bestandteil einer realistischen Betrachtung der bilateralen Beziehungen ist allerdings auch die Vermutung, dass Brasilien – von der Frage des Erhalts des Regenwaldes und des Klimaschutzes abgesehen – keine prioritäre Rolle in der US-amerikanischen Außenpolitik spielen wird. Viel zu wichtig sind andere Länder und Regionen, etwa Russland, China und der Nahe Osten, aber selbst in Lateinamerika wird der Krise in Venezuela und Migrationsthemen wohl eine höhere Priorität eingeräumt werden.
Nachdem Staatspräsident Bolsonaro mit der Äußerung „Trump sei nicht die wichtigste Person der Welt“ [10] zunächst noch vorsichtige Anzeichen einer Abkehr von Donald Trump gesendet hatte, wartete man bisher vergeblich auf offizielle Glückwünsche aus Brasilia an „President-elect Biden“. Unabhängig davon wann diese erfolgen werden, steht fest, dass mit der verhinderten Wiederwahl Trumps ein hilfreicher, aber definitiv kein entscheidender Pfeiler der Machtbasis Bolsonaros weggebrochen ist. Die Abwahl des amtierenden US-Präsidenten wird dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und seinem in Stil und Inhalt ähnlichen politischen Projekt wohl nicht direkt schaden, definitiv jedoch keinen Rückenwind im Hinblick auf seinen bevorstehenden Kampf um die Wiederwahl im Jahr 2022 geben.
[1] Vgl. O Estado de S. Paulo, 08.11.2020, D6.
[2] Vgl. KAS-Länderbericht Brasilianische Umweltpolitik im Licht von Wahlen und Handelsfragen vom 05. November 2020: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/brasilianische-umweltpolitik-im-licht-von-wahlen-und-handelsfragen.
[3] https://oglobo.globo.com/analitico/bolsonaro-esta-entre-pragmatismo-diplomatico-fidelidade-trump-24730007.
[4] https://www.gazetadopovo.com.br/politica/republica/oque-bolsonaro-levou-aos-estados-unidos-e-o-que-vai-trazer-de-la-efjmnqjolb91pguj2n6xloyew/.
[5] https://www1.folha.uol.com.br/mundo/2020/02/bolsonaro-afirma-que-transferira-embaixada-para-jerusalem-ate-2021.shtml.
[6] Vgl. O Estado de S. Paulo, 08.11.2020, S. A3.
[7] https://g1.globo.com/politica/blog/andreia-sadi/post/2020/11/04/governistas-defendem-deslocar-salles-do-meio-ambiente-para-outra-vaga-se-trump-perder.ghtml.
[8] https://www.jornaldocomercio.com/_conteudo/politica/2020/09/759193-salles-reage-a-promessa-de-biden-de-enviar-us-20-bilhoes-para-combater-desmatamento.html.
[9] https://epoca.globo.com/guilherme-amado/bolsonaro-diz-que-ernesto-araujo-tem-chance-zero-de-cair-sob-biden-presidente-24729522.
[10] https://g1.globo.com/sc/santa-catarina/noticia/2020/11/06/presidente-bolsonaro-visita-sc-para-formatura-da-prf-nesta-sexta-feira.ghtml.