Country reports
Eines der gravierenden Missverständnisse im Reden über den Kampf der Kulturen liegt in der Identifizierung von politischen Konfliktfeldern mit zivilisatorischen Großräumen. Ein politischer Konflikt geht auf politische Akteure zurück oder wird durch sie ausgetragen - der Kulturkampf Bismarcks war ein solcher. Da dem Kampf der Kulturen hingegen die handgreiflichen Antagonisten fehlen, wird entweder die Kultur selbst zum Akteur erklärt oder aber ein Parteigänger in einem politischen Konflikt zum Erfüller eines abstrakten kulturellen Willens umgedeutet.
Die aktuelle Debatte zur Wirkmacht überpersonaler und übersozialer Konstrukte - wie eben Kultur - knüpft seit dem gerade vergangenen fin de de siècle (andere nannten es das Ende der Geschichte) durchaus an Traditionen an, die hundert Jahre zuvor an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Konjunktur hatten. Damals war man aber durchaus noch mutiger: Nicht nur wurden Kulturkreise definiert und voneinander geschieden, auch Rassen wurden ihnen zugeordnet. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einzelner Länder und ganzer Regionen unterlagen der von Fachwissenschaftlern - auch Orientalisten - geschaffenen Logik von Kulturkreisen, hinter denen letztlich die Rassenzugehörigkeit über Entwicklungsstand, Zukunftschancen und Zugang zur Moderne entschied.
Während dem Rassismus ernsthafterweise kaum noch Welterklärungsanspruch zuerkannt wird, hat der abgrenzende und das Andere ausschließende Kulturalismus auch das 20. Jahrhundert überlebt. Deutschland spielte dabei übrigens nicht immer an vorderster Front mit. Der berühmte Berliner Wissenschaftspolitiker und Begründer der modernen Islamforschung, Carl Heinrich Becker, plädierte 1921 in seinem Vortrag Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte ganz im Gegenteil für den Einschluss des Vorderen Orients, Nordafrikas und Europas in einen gemeinsamen Kulturkreis, in der das Mittelmeer in seiner vermittelnden, nicht in seiner trennenden Rolle anerkannt werde.
Was heute als Kampf zwischen Kulturen erscheint, sind ihrer Entstehung nach vielmehr innergesellschaftliche Auseinandersetzungen. Was als Streit zwischen Islam und Westen wahrgenommen wird, ist eine psychologische Aufladung von Konflikten innerhalb muslimisch geprägter Gesellschaften und verweist in erster Linie auf deren mannigfach eingeengte politische Kultur, die auch sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung nicht förderlich ist. Die Konfliktdynamik innerhalb des muslimischen Raums ist dabei im internationalen Vergleich zweifellos hoch.
Es wäre daher unangemessen, die Jahrzehnte währende Unruhe insbesondere im Nahen Osten und Nordafrika auf weltwirtschaftliche Erklärungsversuche im Stil der Dritte-Welt-Rhetorik früherer Jahre zu verkürzen. Zu zahlreich sind mittlerweile die Erfolgsgeschichten von Ländern aus anderen unterentwickelten Teilen der Erde geworden. Die kulturgestützte Hypothese, der Islam könne für die offenkundigen Problemlagen weiter Teile der muslimischen Welt eine erklärende Kategorie liefern, führt allerdings auch europäische Beobachter in die Nähe fatalistischen Schicksaldenkens; gäbe es kulturelle Gene des Islams, wären Muslime lediglich Opfer eines Erbmaterials, das sie auf immer auf Lebens- und Gesellschaftsformen der Arabischen Halbinsel des siebten Jahrhunderts festlegen würde. Dass muslimische Gesellschaften in ihrer Geschichte aber nicht weniger dynamisch gewesen sind als andere, sollte den Blick des Beobachters auch auf Zeitgenössisches von neuem freilegen.
Die offenkundige Zusammengehörigkeit des muslimischen Raums steht dem durchaus nicht entgegen. Es kann und soll zwar nicht geleugnet werden, dass die arabischen Länder eine gemeinsame Schriftsprache eint und dass die islamische Zivilisation die arabische Welt mit dem iranischen Raum und den turksprachigen Ländern von der Türkei bis nach Zentralasien verbindet. Dennoch steht - ähnlich wie unter den Staaten Europas - diese Zusammengehörigkeit in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur historisch gewachsenen Individualität der Länder.
Die vergleichsweise schwache Staatlichkeit machte die Länder des Nahen Ostens zwar zu einer leichten, im Vergleich etwa zu Lateinamerika allerdings erst spät eingefahrenen Beute im Zeitalter des europäischen Imperialismus. Bereits zuvor begonnene innenpolitische Reformversuche, insbesondere in dem vom Osmanischen Reich kontrollierten arabischen Raum, bildeten die Grundlage für nachfolgende Unabhängigkeitsbestrebungen, die auf die authentische Aneignung der Moderne abzielten. Dies geschah schon früh auch unter Rückgriff auf Neuinterpretationen gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in der Sprache des Islams. Die gezielte Idealisierung der islamischen Frühzeit als eines Goldenen Zeitalters - von Vordenkern wie Muhammad Abduh und Rashid Rida bis hin zu Organisatoren wie Hasan Al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft in Ägypten - geschah aber weniger im Blick auf die Vergangenheit als vielmehr auf die Zukunft gerichtet. Ein überzeitliches Ideal sollte es den Muslimen ermöglichen, die eigene Gesellschaft kreativ im Angesicht der Moderne zu gestalten. Der Zugriff von Muslimen auf ihr kulturelles Erbe entspricht insofern durchaus dem Umgang mit der Antike in der europäischen Klassik. Die kulturellen Besonderheiten dieser Aneignungsprozesse liegen nicht in ein für allemal gültigen Wesenszügen der islamischen Kultur begründet. Das Islamische an der muslimischen Zivilisation ist, wie Marshall Hodgson in seinem epochalen Werk The Venture of Islam ausführt, die Gegenwart islamischer Ideale, welche den Prüfstein für die Legitimität gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen. Nicht der Koran oder die Lebensspanne des Propheten Muhammad, sondern erst der fortwährende und Jahrhunderte überspannende Dialog von Muslimen mit diesen Ausgangsidealen begründet im eigentlichen Sinne die islamische Kultur.
Die seit rund 30 Jahren andauernde Islamisierung des politischen Diskurses drückt eine Rückbindung politischer Verhältnisse an Legitimitätsvorstellungen und -erwartungen muslimischer Gesellschaften aus. Länder, deren gesellschaftliche und politische Verfasstheit sich lediglich in dynastischen, revolutionären oder ideologischen Ansprüchen erschöpft, sind in dieser Weise einem demokratisierenden Druck ihrer Bevölkerungen ausgesetzt. Insofern erstaunt es nicht, dass sich diese Tendenzen jüngst auch erneut im Iran eingestellt haben, dessen Revolution von 1979 das Zeitalter des Islamismus in der Region eingeläutet hatte.
Die individuellen Verhältnisse einzelner Länder waren deshalb maßgeblich für das Artikulieren dieser neuen Ideologie. Im arabischen Raum löste sie den bis dahin vorwiegenden Panarabismus der fünfziger und sechziger Jahre ab, dessen soziale Versprechungen nach innen uneingelöst blieben und dessen machtpolitisches Versagen nach außen spätestens im Nahostkrieg von 1967 mit der verheerenden Niederlage gegen Israel deutlich zutage traten.
Beispiel Ägypten
Als Ägypten sich unter Präsident Sadat von der Planwirtschaft und der außenpolitischen Orientierung auf die Sowjetunion zu lösen begann, verschärfte die Politik des infitah, die seit 1974 betriebene wirtschaftliche Öffnung des Landes, die soziale Situation. Nicht zuletzt um kommunistische und im weitesten Sinne linksrepublikanische Bestrebungen in Ägypten zu unterminieren, wurden islamistische Bewegungen geduldet und zum Teil gefördert, zumal sie Aufgaben in sozialen Bereichen zu übernehmen begannen, in denen der Staat aufgrund der Wirtschaftlage nicht weiter aktiv sein konnte.
Während die alteingesessene Muslimbruderschaft das System Ägyptens mit seiner Korruption und Willkür lediglich als unvollkommen islamisch aber reformfähig betrachtete, traten mehr und mehr Individuen und Gruppen hervor, die den gegenwärtigen Staat als Verkörperung vorislamischen Heidentums (jahiliya) ansahen. Sie folgten damit den Schriften Sayyid Qutbs, eines ursprünglich aus der Muslimbruderschaft stammenden Vordenkers, dessen 1954 bis 1964 im Gefängnis verfasste Werke zur politischen Dimension des Islams Gleichgesinnten Richtung und Handlungsanweisungen gaben. Angesichts eines repressiven Staatsapparats - Qutb wurde 1966 nach kurzer Zeit in Freiheit auf Befehl Gamal Abd Al-Nasers 1966 gehängt -schien islamistischen Aktivisten der taktische Rückzug aus der Gesellschaft geboten.
Ziel etwa der Gruppe um Shukri Mustafa war, nicht unähnlich den sogenannten "Aussteigern" unter den europäischen Gesellschaftskritikern, eine Gegengesellschaft aufzubauen, indem sie dem Beispiel des Propheten folgten, der das heidnische Mekka für das der islamischen Predigt offenere Medina verlassen hatte. Am Saum zwischen dem Kulturland des Nils und der Wüste führten diese Gruppen zunächst ein von den heidnischen Verhältnissen der Städte und Dörfer abgeschiedenes, dann aber zunehmend konspiratives Leben und suchten schließlich, obwohl sie sich ihrer Schwäche bewusst waren, die Konfrontation mit der Staatsgewalt, die dem Land in ihren Augen nichts zu geben vermochte.
Der spektakulären Entführung und Ermordung des ägyptischen Ministers für Islamische Stiftungen, Muhammad Al-Dhahabi, folgte eine Phase der Repression, in der 1977 auch Shukri Mustafa hingerichtet wurde. Während einerseits weitere Kreise eine allmähliche Islamisierung der Gesellschaft von unten betrieben - durchaus im Stil sozialer und karitativer Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen - radikalisierten sich andererseits die Kräfte, die auf eine Entmachtung des Systems von oben setzten.
Der Gruppe Al-Jihad sollte 1981 die spektakuläre Ermordung Sadats gelingen, der Ägypten zwei Jahre zuvor in einen Separatfrieden mit Israel geführt hatte. Der zeitgleiche Sturz des Schahs im Iran (1979) und die sowjetische Invasion in Afghanistan mit der folgenden Mobilisierung von muslimischen Freiwilligen unter der Aufsicht der amerikanischen und pakistanischen Geheimdienste verlieh islamistischen Ambitionen und Bewegungen, die im Grunde nationalstaatlich dachten und handelten, internationale Dimensionen.
Beispiel Palästina
In den israelisch besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gazastreifens konnte die Spannung der frühen achtziger Jahre nicht ohne Folgen bleiben. Die israelische Invasion des Libanons 1982 und die Zerschlagung der dortigen Territorialbasis der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) liessen ein zweifaches Vakuum entstehen. Zum einen entfernten sich palästinensische Widerstandsstrukturen nach dem Schwarzen September 1971 in Jordanien mit der Exilierung der palästinensischen Führung nach Tunis räumlich noch weiter vom Zentrum des Geschehens, zum anderen schien vielen Palästinensern der Misserfolg politischer, militärischer und terroristischer Massnahmen durch die säkularistische Ausrichtung der PLO bedingt.
Der bis 1967 ägyptisch verwaltete Gazastreifen besaß seit jeher Verbindungen zur Muslimbruderschaft am Nil und zeigte größere islamistische Neigungen. Zwar wurden auch die Muslimbrüder in Gaza von Gamal Abd Al-Naser bedrängt, doch war es hier ironischerweise die israelische Besetzung, die diesen Druck spürbar aufhob. Mehr noch, weil Israel auch das von Jordanien nach 1949 annektierte Westjordanland besetzt hatte, boten sich islamistisch orientierten Palästinensern aus beiden Gebieten nach 1967 Möglichkeiten, die unter der Herrschaft der arabischen Bruderstaaten zwischen 1949 und 1967 nicht bestanden hatten.
Ein noch relativ unbekannter Scheich Ahmad Yasin, der 1965 in ägyptischer Haft saß, konnte auf diese Weise auf nationaler Ebene tätig werden und sogar Muslime im Norden Israels und im Süden des Negev in seine Predigttätigkeit einbeziehen. Auf ähnliche Weise wie in Ägypten vollzog sich der Aufbau islamistischer Strukturen anfangs durchaus mit Duldung Israels, das auf diese Weise den Einfluss der PLO einzudämmen hoffte. Innergesellschaftlich begann Mitte der siebziger Jahre ein Aufbau islamistischer Institutionen, die von sozialen und karitativen Einrichtungen bis hin zur Islamischen Universität in Gaza Gestalt annahmen.
Diese Arbeit von unten wurde in den achtziger Jahren durch Mechanismen ergänzt, die der islamistischen Bewegung Mitsprache in den nationalen Institutionen der Palästinenser sichern sollten; mit Beginn des palästinensischen Aufstands, der ersten intifada, im Jahr 1987 vollzog sich die Gründung der Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas), die sich gemäss ihrer Charter als Teil der Muslimbruderschaft versteht und die ihre besondere Aufgabe im bewaffneten Kampf gegen die Unterdrücker sieht. In den neunziger Jahren, besonders seit der gegenseitigen Anerkennung des Staates Israel und der PLO in Oslo im Jahr 1993, bombte die Hamas wiederholt ihren Führungsanspruch ins Bewusstsein der palästinensischen und israelischen Öffentlichkeit.
Während die Ideologie der Hamas unbeugsam die Befreiung von ganz Palästina - und damit den Untergang Israels - fordert, hat sich die Bewegung in ihrer Praxis allerdings durchaus flexibel gezeigt. Ein Indiz dafür ist ihre Duldung der Palästinensischen Nationalbehörde, obwohl diese ihre Ansprüche auf die 1967 besetzten Gebiete beschränkt und innerpalästinensisch - nicht zuletzt aufgrund massiver Korruption - nur begrenzt Erfolge bei der Hebung palästinensischer Lebensverhältnisse vorweisen kann.
Angesichts bedeutender politischer Kompromisse der PLO gegenüber Israel - bei relativ geringen israelischen Gegenleistungen im Rahmen des Friedensprozesses von Oslo - profitiert die Hamas in der gegenwärtigen Spannungslage von ihrer demonstrativ zur Schau gestellten Prinzipientreue, die nicht wenige Israelis fürchten lässt. Allerdings sehen gerade israelische Fachleute wie Shaul Mishal und Avraham Sela, dass angesichts dramatischer Wandlungen hin zur Koexistenz mit dem Judenstaat - in Ägypten Ende der siebziger Jahre, bei der PLO Anfang der neunziger Jahre - auch die Hamas den Schritt vom Unmöglichen zum Unausweichlichen werde vollziehen können.
Beispiel Syrien
Die Etablierung einer islamistischen Öffentlichkeit in Palästina hat sich in erster Linie gegen das palästinensische Establishment vollzogen. Anfänglich von Tel Aviv geduldet und gefördert, entwickelte sich der palästinensische Islamismus zur rhetorisch stärksten Waffe gegen Israel. Wenn Staaten, die im Konflikt mit Israel sind, im Islamismus eine in erster Linie nach aussen einsetzbare Waffe sähen, hätte Syrien sich zu einem Hort dieser Ideologie entwickeln müssen. Dass dies nicht erfolgt ist, zeigt einmal mehr, wie sehr die politischen Dimensionen des Islams in erster Linie innenpolitischen Erwägungen und Zwängen unterworfen sind.
In Syrien folgten der Unabhängigkeit Jahre der Instabilität, die erst 1970 durch den Aufstieg Hafiz Al-Asads und der alawitisch-schiitischen Minderheit beendet wu rde, deren soziale Avancen im wesentlichen durch die militärische Laufbahn gefördert worden waren. Dieser ethnische Minderheitencharakter der Regierung legt Damaskus seither stärker als andere Länder der Region auf eine säkularistische Legitimation fest, da bei jeglicher Form religiöser Herrschaftsbegründung automatisch das Problem der Unterrepräsentation der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit aufgeworfen würde.
Aufgrund der Entscheidung für Elemente staatsgelenkter Wirtschaftsentwicklung, die nicht zuletzt mit der außenpolitischen Ausrichtung auf die Sowjetunion während des Kaltes Krieges einherging, hat sich die soziale Situation Syriens über Jahrzehnte konstant verschlechtert. Soziale wie ideologische Momente waren daher für das Erstarken der Muslimbruderschaft unter den mehrheitlich sunnitischen Syrern verantwortlich, deren Revolte in Hama 1982 durch das Militär blutig niedergeschlagen wurde.
Unter Hinweis auf die Situation der fortbestehenden israelischen Besetzung der Golanhöhen wird derzeit neben der traditionellen säkularistisch-sozialistischen Legitimation in den Augen mancher Beobachter noch stärker als zuvor die letzte noch mögliche Karte gespielt. Schon kurz vor dem Tod Hafiz Al-Asads im Sommer 2000 grassierten Befürchtungen über eine erneut bevorstehende Auseinandersetzung mit immer noch geheimbündlerisch verfassten Islamisten, wenigstens aber über eine Generaldebatte über das syrische System der Minderheitenregierung. Kommt dieser Konflikt eines Tages an die Oberfläche, wird Syrien eines der wenigen Länder sein, deren öffentlicher Raum auf diese Herausforderung nicht vorbereitet ist.
Beispiel Saudi Arabien
Als der syrische Publizist Abdurahman Al-Kawakibi im Jahr 1899 den Bericht einer imaginären Versammlung muslimischer Kleriker und Intellektueller aus aller Welt niederschrieb, zollte er unter den fiktiv Anwesenden insbesondere dem Vertreter des zentralarabischen Najd Lob. Der erfundene Würdenträger stand pars pro toto für eine puritanische Erneuerungsbewegung, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Namen des Muhammad Ibn Abdulwahhab im Kernland des Islams verbunden ist. Dieser hätte in seiner Predigt aber kaum mehr Erfolg als andere vor ihm gehabt, wenn er seine Botschaft nicht an die politischen Machtbestrebungen der Familie Saud auf der Arabischen Halbinsel geknüpft hätte. Es bedurfte dreier Anläufe, bis Abdulaziz Al-Saud 1902 mit der Eroberung Riads - erneut im Einklang mit der islamisch-puritanischen Erneuerungsbewegung der sogenannten Wahhabiten - den Grundstein für das Land legte, das seit 1932 als Königreich Saudi Arabien bekannt ist. Im Kern beruht seither das politische System Saudi Arabiens auf der Anerkennung der religiösen Führung der islamischen Gelehrten (ulama) durch die Familie Saud sowie umgekehrt die Anerkennung der politischen Prärogative der königlichen Familie (der Prinzen, umara) durch die Kleriker.
Als dritte Kraft stiegen - zunächst Dank der wirtschaftlichen Bedeutung der muslimischen Pilgerfahrt - die im Hedschas ansässigen alten Handelsfamilien von Dschidda, Mekka und Medina auf. Diese Entwicklung wurde durch die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs massiv einsetzende Exploration und Förderung von Erdöl gefördert. Steigende Ölexporte sorgten für ungekannte Möglichkeiten des Investierens und Konsumierens und ließen auch den Privatsektor der saudischen Wirtschaft gezielt aufleben.
Während trotz aller staatlichen Verschwendung die saudische Regierung beträchtliche Teile der Einnahmen aus dem Erdölgeschäft nutzte, um das Land durch Infrastrukturmaßnahmen und Entwicklungsprojekte politisch zu einigen, riefen die veränderten Lebensverhältnisse immer wieder auch die massive Kritik der Geistlichkeit auf den Plan. Nach innen hat sich deswegen kaum eine Regierung in Riad jemals an die Spitze von gesellschaftlichen Öffnungsprozessen gesetzt, sondern stattdessen einen Konservatismus gepflegt, der auf sozio-kulturellen Konsens gegründet ist.
Nach außen hingegen hat Saudi Arabien sich durch die als sicherheitspolitisch notwendig erachtete Nähe zu den USA im eigenen Land angreifbar gemacht. Dies wurde vor allem im Krieg um Kuwait 1991 deutlich, als fremde - nicht-muslimische - Truppen das Königreich zur Ausgangsbasis der Militäroperationen gegen den Irak machten. Außenpolitisches Abweichen vom islamisch gebotenen Kurs in Verbindung mit der Wahrnehmung des wenig puritanischen Lebensstils von Angehörigen der Al-Saud haben die saudische Öffentlichkeit in den letzten Jahren in teilweise offene Opposition zum politischen System gebracht.
Dies geschah - und geschieht zunehmend - in der politischen Sprache des Islams, die allein als Basis kultureller Kommunikation im Königreich verwurzelt ist. Mit Saudi Arabien wird eine dem Selbstverständnis nach beispielhafte islamische Ordnung ihrerseits durch Islamisten neuer Färbung scharf - und von Randgruppen und Sympathisanten des mittlerweile notorischen Usama Bin Laden mit Methoden des Terrorismus - infrage gestellt.
Ausblick
Andere Herrschaftssysteme des Nahen Ostens und Nordafrikas - Marokko und Tunesien etwa - sind auf der Basis eines islamischen Gesellschaftsdiskurses in ihrer Legitimität nicht weniger angegriffen worden. Während bis in die sechziger Jahre mit dem Begriff der Freiheit in der Region vor allem die Befreiung von kolonialen und post-kolonialen Abhängigkeiten verbunden wurde, erfolgte in den siebziger Jahren ein entscheidender Umbruch.
Bedingt durch eine fortschreitende Verstädterung, eine zunehmende Alphabetisierung, sowie ein rasantes Bevölkerungswachstum sind die Regierungen der Region seither der Kritik einer Generation ausgesetzt, für die die Erfahrungen des kolonialen Zeitalters nur noch Überlieferung sind, aber nicht mehr auf eigenen Anschauungen beruhen.
Einige Staaten haben die islamistische Kritik in eine beginnende gesellschaftliche Debatte zu integrieren vermocht, die bei positiver Lesart Anzeichen eines stärkeren Pluralismus und politischer Partizipation aufweist. Ob daraus - auch vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen im arabischen Medienbereich - ein Demokratisierungsschub für die Region erwächst, bleibt abzuwarten.
Das Interesse der außermuslimischen Welt an den Entwicklungstendenzen nahöstlicher Gesellschaften ist hingegen selektiv. Der Säkularisierungsprozess in Europa macht nicht wenigen den Gebrauch islamischer Elemente in der kulturellen Kommunikation des Nahen Ostens unverständlich. Wenn auch der technische Fortschrittsoptimismus der sechziger Jahre weitgehend verflogen ist, so wird heute dennoch das Moment der wirtschaftlichen Entwicklung im sozialen Wandel der Region überbewertet.
Auch die Entwicklungszusammenarbeit sollte sich hüten, die Förderung der politischen Kultur geringzuschätzen. Carl Heinrich Becker war diese kulturelle, die Religion einschließende Dimension schon in den zwanziger Jahren präsent: "Auch im Christentum waren es unchristliche Ideen, die das Neue schufen, aber die christlichen haben sich organisch mit ihnen verbunden. So kann sich auch die Wiedergeburt des Orients nicht allein durch Import und Nachahmung europäischen Gutes vollziehen, sondern hauptsächlich durch Geistesarbeit, auch auf dem Boden der Religion."