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Country reports

Protest der Opposition gegen die Entscheidung der Obersten Wahlbehörde

by Michael Lingenthal

Mehrere hunderttausend Unterschriften müssen erneut bestätigt werden

Nur 1,8 von 3,4 Millionen Unterschriften der Opposition hat die Oberste Wahlbehörde als gültig anerkannt. 1.100.000 Bürgerinnen und Bürger sollen ihre Unterschrift an nur 2 Tagen in 2.700 Zentren bestätigen oder widerrufen. Die Opposition vertritt eine Doppelstrategie von friedlich-kontrolliertem Druck der Straße und Verhandlungen zu annehmbaren Bedingungen für den Prozess der Bestätigung. Aber zu Verhandlungen ist man nur bereit, wenn OAS und Carter-Zentrum eine stärkere Rolle in der Vermittlung spielen. Wegen der weiteren Verzögerungen wächst der unkontrollierte Druck der Straße, den die Ordnungskräfte der Regierung mit aller Härte eindämmen wollen. Die Zahl der Toten, Verletzten und der Festnahmen steigt.

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Oberste Wahlbehörde – „no tricks“?

Nach stundenlangen Verzögerungen gab die Oberste Wahlbehörde ihre vorläufige Mehrheitsentscheidung zur Unterschriftensammlung der Opposition bekannt: Nur 1,8 Millionen Unterschriften werden anerkannt, 870.000 Unterschriften müssen von den Bürgerinnen und Bürgern neu bestätigt oder abgelehnt werden, 380.000 Unterschriften wurden wegen unterschiedlicher Fehler abgelehnt. Aber, 400.000 Unterschriften sind nach heutigem Stand offensichtlich im „Niemandsland“. Die Opposition hat 3,4 Millionen Unterschriften erhalten, die Oberste Wahlbehörde hat 3 Millionen überprüft.

Im Ergebnis heißt dies, dass die Opposition mehr als 600.000 Unterschriften, die sie bereits geleistet hat, erneut bestätigen muss, wenn sie ihr politisches Ziel –Abberufungsreferendum bis Mitte des Jahres- erreichen will.

Die Wahlbehörde hat mit ihrer 3:2 Mehrheit Vorschläge zur Durchführung der Bestätigung der Unterschriften vorgelegt. Ein Potential von 1,1 Millionen Menschen hat an 2 Tagen an den ca. 2.700 Sammelpunkten der Unterschriftensammlung die Gelegenheit ihre Unterschrift zu bestätigen. Pro Zentrum wird 1 PC zur Verfügung gestellt. Internationale und nationale Beobachter sollen zugelassen werden. Numerisch entfallen auf eine Sammelstelle pro Tag 212 Personen. Bei ca. 10 Minuten Zeitbedarf pro Person wären 35 Stunden pausenloser Einsatz notwendig, selbst bei nur 5 Minuten braucht man 17,5 Stunden. Wie soll dies technisch organisiert werden? Zumal die Erfahrungen bei der Unterschriftensammlung vom 28.11.-01.12.03 bewiesen, dass der tatsächliche Andrang pro Sammelstelle extrem unterschiedlich war.

Immerhin hat die Wahlbehörde angeboten, mit Opposition, OAS und Carter-Zentrum weitere Anhörungen zu führen. „Vereinbarungen“ würde es aber nicht geben, weil nur die Wahlbehörde das Recht der Entscheidung hätte.

Opposition will sauberes Wählervotum - Fortsetzung der Vermittlung von OAS und Carter-Zentrum gefordert

Die Opposition antwortet mit einer Doppelstrategie. Sie ruft die Bevölkerung zur friedlichen und kontrollierten Präsenz auf die Straße. Nur der Druck der Straße kann Änderungen der vorgeschlagenen Regelungen und letztlich eine Anerkennung der eingebrachten Unterschriften bringen. Gleichzeitig aber erklärt sie ihre Bereitschaft zu Verhandlungen. Dabei will sie aber die Vermittlung von OAS und Carter-Zentrum aktiv sehen. Julio Borges, Abgeordneter von „Primero Justicia“, als Sprecher der „Coordinadora Democrática“ unterstreicht, dass Venezuela eine Lösung über Wahlen will. Nicht nur die Opposition, sondern auch die 4 Millionen Chávez-Anhänger, die ihre Unterschrift für Referenden gegen Abgeordnete der Opposition geleistet hatten. „Das Land hat Hunger nach Wahlen, dass Land hat keinen Durst nach Blut“ bringt er es auf eine griffige Formel. Über Wahlen soll die Tür zu einem zukunftsfähigen Venezuela geöffnet werden.

Es geht um mehr als nur die Zustimmung oder Ablehnung der Entscheidung der Wahlbehörde. Es geht darum, ob Venezuela seine Freiheit behält und der Wille der Bürgerinnen und Bürger anerkannt oder missachtet wird. Denn eines steht für die Opposition felsenfest: Es liegen der Wahlbehörde genügend Unterschriften vor. Selbst nach den heutigen Zahlen, trotz der Diskrepanz von 400.000 (siehe oben), sind 2,6 Millionen Unterschriften gegen Präsident Chávez geleistet worden. Die 800.000, die bestätigt werden sollen, sind eben nicht ungültig.

Julio Borges unterstreicht die Distanz von OAS und Carter-Zentrum zur Wahlbehörde in der Frage der von Dritten ausgefüllten Daten, aber eigenhändig unterschriebenen Listen. Er fordert noch einmal, dass die Wahlbehörde der OAS-Empfehlung zur Prüfung „im guten Glauben“ sowie der Messlatte von Expräsident Carter - „no tricks“ - folgt.

Die nachträglich vorgenommene Änderung der Paradigmen des Verfahrens und die „Umkehr der Beweislast“ hat das Land in die aktuellen Schwierigkeiten gestürzt. Dies hat die Oberste Wahlbehörde zu verantworten.

In dieser Einschätzung wird die Opposition auch von Teodoro Petkoff gestützt. Er ist Gründer der Partei MAS und heute Herausgeber der Nachmittagszeitung „Tal Cual“. Borges und Petkoff verurteilen vor allem, dass die Wahlbehörde den Vorschlag der OAS nach Überprüfung nach einem gesicherten und von der OAS in 25 Ländern praktizierten Stichprobenverfahren kategorisch ablehnt. Wenn die Wahlbehörde auf diesen international anerkannten Vorschlag eingegangen wäre, hätte heute die Entscheidung „Pro-RR“ erfolgen müssen. Mit der Änderung der Normen will die Wahlbehörde, und wie die Opposition mutmaßt auf Druck des Oficialismo, der Opposition eine weitere Unterschriftensammlung aufzwingen, wobei die Bürgerinnen und Bürger sich wie Verdächtige fühlen müssen, weil sie etwas nachweisen müssen, was sie im guten Glauben korrekt geleistet haben.

So lange keine praktikable Lösung unter Beteiligung von OAS und Carter-Zentrum gefunden ist, wird die Opposition auf den Straßen und Plätzen präsent bleiben, weil nur dies genügend politischen Druck macht und der Militarisierung des Landes durch Präsident Chávez zivilen Protest entgegensetzt. Die Opposition will eine stärkere Rolle von OAS und Carter-Zentrum. Vor allem will sie Garantien, dass nicht wieder „im laufenden Verfahren die Spielregeln geändert werden“. Sie ist damit einverstanden, dass Bürger ihre Unterschrift „zurückziehen“ können. Damit soll es aber auch genug sein. Und die Opposition erinnert in diesem Zusammenhang an den öffentlichen Aufruf der Arbeitsministerin vor den Unterschriftensammlung der Opposition, massenweise falsch zu unterschreiben, um das Referendum zu erschweren.

Und auch an anderen Beispielen sieht sie die latente Doppelmoral der Sicherheitsorgane zu Gunsten der Regierung. Die „Bannmeile“ um die Oberste Wahlbehörde wird nur gegen die Opposition durchgesetzt. Frenetisch feiern Anhänger des Präsidenten unmittelbar um die Oberste Wahlbehörde die Entscheidung der Behörde. Abgeordneter Ismael García als Sprecher des „Comando Ayacucho“ ist hochzufrieden mit der Wahlbehörde. Grund für die Opposition zu erneuter Besorgnis.

Die Wut der Menschen ist groß. Es bleibt die Gefahr, dass sich „die Straße“ ihre eigene Lösung sucht, den Führern der Opposition nicht folgt. Deshalb, so Antonio Ledezma, soll nächsten Donnerstag (11. März) eine landesweite Mobilisierung der Menschen die Unterschriften und die demokratischen Rechte verteidigen. Die TV-Bilder der Proteste zeigen an den besonderen Brennpunkten vorwiegend Jugendliche. An den zahlreichen Straßenecken, an denen „Durchschnittbürger“ Sperren errichten und lautstark Protest erheben, dominieren aber die mittlere und die ältere Generation. Und es sind nicht nur die „reichen Viertel“, wo der Protest laut wird. In allen Teilen von Caracas und weiter in den Regionen bleibt der Protest aktiv.

Trotz deutlicher Distanz zur Wahlbehörde bieten OAS und Carter-Zentrum weitere Vermittlung an

Deutlicher hätte die Kritik von OAS und Carter-Zentrum an der Mehrheit der Wahlbehörde nicht ausfallen können. Nach Betonung der Unabhängigkeit, der Kooperation etc. etc. stellen beide international anerkannten Organisationen fest, dass „der Prozess noch nicht zu Ende ist“ und dass man das Kriterium der Absonderung (zur Bestätigung) der mit gleicher Schrift ausgefüllten Listen (planillas planas) nicht teilt. Mehr noch, der neue Prozess der Bestätigung, birgt die Gefahr der Verfälschung des Willens des Souveräns. Zwar zeigen OAS und Carter-Zentrum Verständnis für die Zweifel der Wahlbehörde und die Überprüfung. Aber als Instrument ist die bewährte Stichprobe besser geeignet, um eine schnelle Entscheidung zur Erfüllung der OAS-Resolution 833 und des Abkommens Regierung/Opposition vom 29. Mai 2003 zu garantieren.

Mit Sorge sehen beide Institutionen die weitere Verzögerung und die daraus möglichen Konsequenzen und so rufen sie immer wieder zu Ruhe und Vernunft und zu ausschließlich friedlichem Protest der Opposition auf.

Unruhen in ganz Venezuela halten an

Zu 99,9% ist das Land ruhig, so Mur-Abgeordneter William Lara. Dem stehen aber nicht nur die Sonderberichte der privaten Medien, sondern auch die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen TV „Canal 8“ (fast ganz zum Propagandasender des Oficialismo mutiert) entgegen. Tote und Verletzte sind auf beiden Seiten zu beklagen. Gegenseitige Vorwürfe bestimmen die öffentliche Diskussion. „Terroristen“ seitens der Regierung, „Willkür und Militarisierung“ seitens der Opposition.

Die Polizei der Oppositionsregionen kommt nach Meinung der Regierung ihrer Verantwortung zur Sicherung der öffentlichen Ordnung nicht nach. Sie unterstützt offen und verdeckt sogar Gewalt der Opposition, behauptet die Regierungsseite. Vizeinnenminister Carlos Bettiol, zuständig für die öffentliche Sicherheit, ruft deshalb die „ehrenwerten“ Angehörigen der Polizei auf, den Befehlen ihrer Führungen nicht länger zu folgen und sich nicht als Handlanger des Verbrechens missbrauchen zu lassen. „Die wenigen Terroristen die es gibt, werden vollständig kontrolliert“ erklärt Verteidigungsminister Carneiro und bestätigt, dass die Streitkräfte Planungen für jedwede Entwicklung vorbereitet haben.

Während alarmierte Menschenrechtsorganisationen beide Seiten zu Gewaltfreiheit auffordern und die Ordnungskräfte an das „Gebot der Verhältnismäßigkeit“ erinnern, nimmt der „Defensor del Pueblo“ (Ombudsmann) zum Recht auf „fließenden Verkehr“ Stellung und fordert eine entsprechende einstweilige Anordnung des Obersten Gerichtes. Gleichzeitig beklagen Oppositionsgruppen die offene Verletzung der Menschenrechte, willkürliche Festnahmen und brutales Vorgehen der Regierungsseite. Diese wiederum hebt angebliche Benzin- und Waffenlager von Oppositionsangehörigen aus und erhebt formell Anklage wegen Planung und Unterstützung von Gewaltakten gegen Führer der Opposition.

Auch die Medien bleiben im Blickfeld der Regierung, weil sie durch ihre Berichterstattung die Gewalt fördern würden. Im April 2002 jedoch wurde den privaten Medien der Vorwurf gemacht, nicht über die tatsächliche Lage, dazu gehörten seinerzeit auch Gewaltaktionen und Proteste zu Gunsten von Präsident Chávez, informiert zu haben.

Die Tage zeigen woran Venezuela heute krankt und woran die Regierung einen guten Teil Verantwortung trägt: Es gibt kein Vertrauen. Es gibt keine Konsenssuche. Es gibt keinen Willen zur „De-Eskalierung“. Die Lösung über das Votum des Souveräns wird erschwert, nicht erleichtert. Warum werden Wahlen offensichtlich gefürchtet, wenn doch die übergroße Mehrheit Venezuelas hinter seinem Präsidenten und seiner Politik steht?

Wenn überhaupt noch eine Lösung möglich scheint, dann nur, wenn folgende Konditionen gegeben sind: Erstens und dringend muss die Regierung einen aktiven Beitrag zur De-Eskalierung und Konfliktlösung leisten. Zweitens muss die Opposition tatsächlich ihre Anhänger kontrollieren und strikt nur gewaltlosen Protest vortragen. Drittens müssen beide Seiten zu Gesprächen finden und wegen der Konfrontation die internationale Vermittlung akzeptieren und deren Ergebnisse „ohne Tricks und Hintertüren“ anerkennen. Nur dann wird real, was Julio Borges feststellt: „Wir wollen keinen Krieg gewinnen, sondern einen Krieg verhindern“ und dies auf der Basis von Gerechtigkeit und Demokratie.

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