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Die Opposition, darunter maßgeblich die zur EVP-Parteifamilie gehörende PNL und die „Union zur Rettung Rumäniens (USR), sowie Stimmen aus der Justiz und NGOs warnen vor negativen Auswirkungen auf Ermittlungs- und Strafverfahren und werfen der Regierung vor, gezielt einigen hochrangigen Persönlichkeiten mit Justizproblemen einen galanten Ausweg aus laufenden Strafverfahren zu ermöglichen. USR und PNL wollen das Gesetzespaket vor das Verfassungsgericht bringen, bevor es zur Unterzeichnung an den Staatspräsidenten geschickt wird.
Auch der Oberste Gerichtshof kündigte eine Überprüfung durch das Verfassungsgericht an. Damit nicht genug: Kritik hagelte es auch von der Generalstaatsanwaltschaft und anderen Vertretern der Justiz.
Umfangreiche Änderungen der rumänischen Strafprozessordnung (Codul de Procedură Penală, kurz: CPP) waren zuletzt vor gerade einmal 4 Jahren in Kraft getreten. Diese Reform hatte 2014 wesentliche Veränderungen des Strafrechtssystems gebracht, darunter die Schaffung neuer Institutionen, wie der eines „Richters für Grundrechte und Freiheiten“ für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Beweismitteln.
Gründe für die Notwendigkeit der aktuellen Reform
Unbestritten ist, dass das rumänische Strafgesetzbuch und auch die Strafprozessordnung in Teilen reformbedürftig sind. Grund sind mehrere Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit mehrerer Artikel, einige EGMR-Entscheidungen sowie die EU-Richtlinie 2016/343 zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung. Dies wird von der sozial-demokratischen (PSD) und liberalen (ALDE) rumänischen Parlamentsmehrheit in dem Begründungsdiskurs der Strafrechtsreform immer wieder vorgebracht: Die Forderung der EU, die Rechte der Angeklagten im nationalen Gesetzgefüge zu stärken, erfordere eine Änderung der Gesetze, sonst könnten gegen Rumänien Sanktionen verhängt werden.
Zusätzlich führt die Regierungskoalition immer wieder die Bekämpfung der (von ihr behaupteten) „Missbräuche im Justizwesen“ als Rechtfertigung für die jetzt eingeleiteten Änderungen an. „Wir wollen den Missbrauch wirklich beenden, wir wollen Rumänien auf einen normalen Weg bringen, …“, verkündete der Vorsitzende des für Änderungen im Justizsystem zuständigen parlamentarischen Sonderausschusses vor der Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Gemeint sind damit wohl Fälle von bekannt gewordenem Fehlverhalten einiger Staatsanwälte der Antikorruptionsbehörde: gefälschte Beweismittel, Anordnung von Untersuchungshaft ohne glaubwürdige Beweise/Verdachtsmomente. Hinzu kommen mehrere Freisprüche in jüngster Zeit in Verfahren gegen bekannte Persönlichkeiten (welche allerdings ins Verhältnis zu setzen sind zur hohen Anzahl insgesamt geführter Verfahren und Verurteilungen in Korruptionsfällen). All diese seien, nach Lesart der Regierungskoalition, politisch motivierte Handlungen, welche die Leiterin der Antikorruptionsbehörde DNA – Frau Laura Codruta Kövesi – angeordnet hätte, mit Unterstützung des sogenannten „parallelen Staates“ (Staatspräsident, Nachrichtendienst, weiterer Akteure aus dem Justizwesen). Gegen die DNA-Leiterin ist vor mehreren Monaten vom Justizminister ein Amtsenthebungsverfahren eröffnet worden, dem sich der Staatspräsident entgegensetzt. In dem wegen dieses Streits ausgelösten verfassungsrechtlichen Konflikt entschied das Verfassungsgericht Ende Mai zu Gunsten des Justizministers. Im Moment wird in Rumänien auf die Entscheidung des Staatspräsidenten gewartet, welcher bei einer Weigerung, die Entlassung auszusprechen, die Suspendierung durch das Parlament oder ein Amtsenthebungsverfahren riskiert. Da es gesetzlich keine Frist für die Abgabe einer Entscheidung gibt, lässt sich der Staatspräsident Iohannis momentan noch „Zeit zum Studium“ der 133-seitigen Begründung des Verfassungsgerichtsurteils.
Teile der am 18.06.2018 beschlossenen Änderungen der Strafprozessordnung gehen weit über die in der EU-Richtlinie ausformulierten Empfehlungen hinaus. Einige der Änderungen können tatsächlich manchen Spitzenpolitikern zu Gute zukommen:
Kritik: Änderungen zugunsten von strafrechtlich verfolgten oder bereits erstinstanzlich verurteilten Politikern
Es soll eine zusätzliche Möglichkeit eingeführt werden, auf Antrag eine erneute Überprüfung einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung durchführen zu lassen, wenn die Urteilsbegründung der Entscheidung nicht von allen Richtern des Spruchkörpers unterzeichnet worden war, so die Neuregelung des Art. 406 und Art. 453 CPP.
Diese Änderung lässt einen in der gegenwärtigen politischen Landschaft Rumäniens an einen Fall denken, in welchem der Vorsitzende der stärksten Partei im rumänischen Parlament (PSD) und zugleich Präsident des Abgeordnetenhauses, Liviu Dragnea, bereits rechtskräftig wegen Wahlmanipulation während des Referendums im Jahr 2012 (über die Amtsenthebung des damaligen Staatspräsidenten Traian Băsescu) verurteilt wurde. Diese Verurteilung hat zur Folge, dass Dragnea bestimmte politische Ämter, insbesondere das des Premierministers, nicht bekleiden darf. Zahlreiche Kritiker vermuten daher, dass diese Rechtsänderung, welche nicht durch EU-Vorschriften notwendig sei, speziell für Dragnea geschaffen wurde, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Verurteilung anzufechten. Eine der Richterin des Spruchkörpers, Livia Stanciu, hat die schriftliche Begründung des bereits zuvor verkündeten Urteils nicht unterzeichnet, weil sie zwischenzeitlich zur Richterin am Verfassungsgericht gewählt worden war. An ihrer Stelle hatte die Präsidentin des Obersten Gerichts, Richterin Cristina Tarcea, besagtes Urteil unterzeichnet.
Eine andere umstrittene Änderung betrifft Art. 421 CPP, welcher Entscheidungen in Berufungsverfahren regelt: Von dieser Änderung scheint der Vorsitzende der zweiten Partei der Regierungskoalition (ALDE), Călin Popescu-Tăriceanu, zu profitieren. Er ist zugleich Präsident des Senats (und damit in der Hierarchie zweiter Mann im Staat – als solcher wäre er Interims-Staatspräsident im Falle einer Suspendierung des jetzigen Staatspräsidenten). Tăriceanu wurde zwar am 22. Mai 2018 in einem Verfahren wegen Falschaussage erstinstanzlich freigesprochen, eine Berufung wäre aber nach bisherigem Recht noch möglich. Nach der nun beschlossenen Reform könnte ein Freispruch einer niedrigeren Gerichtsinstanz nur durch Einführung neuer Beweismittel in eine Verurteilung abgeändert werden.
Überblick über weitere umstrittene Änderungen der Strafprozessordnung
Eine dritte, umstrittene Änderung betrifft die Untersuchungshaft: Die Hürden für eine Anordnung werden insofern erhöht: so soll die U-Haft künftig nur nach Einreichung „zweifelsfreier Beweise“ bzw. Hinweise/Indizien möglich sein. Der Ermessensspielraum des Art.103 CPP für eine entsprechende Anordnung erfordert damit nun, dass der Vorwurf „zweifelsfrei bewiesen wurde“, anstatt „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“.
Änderungen erfährt auch die Vorschrift Unschuldsvermutung in Art. 4 CPP: nunmehr soll jegliche öffentliche Äußerung über Person oder Tatbestand während der Ermittlungs- bzw. Strafverfahren bis zu der rechtskräftigen Verurteilung verboten sein, außer die Information sei von öffentlichen Interesse. Auch wird untersagt, Fotos/Videoaufnahmen mit den Verdächtigten in Handschellen zu veröffentlichen bzw. auszustrahlen. Wegen „Beschädigung des eigenen Rufs und der Karriere“ durch solche Handlungen der Ermittlungsbehörden hatten sich mehrere Betroffene beschwert.
Die Frist für Ermittlungen wird deutlich, nämlich auf maximal ein halbes Jahr herabgesetzt: Schafft es die Staatsanwaltschaft in dieser Zeitspanne nicht, Anklage zu erheben, muss das Verfahren automatisch eingestellt werden. Weitere Änderungen: Die Anhörung/Vernehmung einer Person darf nicht länger als 6 Stunden dauern. Künftig können Anzeigen nur zur Strafreduzierung führen, wenn sie innerhalb von 6 Monaten nach Begehung der Straftat erhoben wurden. Beweismittel, welche in keiner direkten Verbindung mit der untersuchten Straftat stehen (z.B.: Videoaufzeichnungen), werden nicht in Betracht gezogen und müssen vernichtet werden.
Reaktionen aus der Justiz
Staatsanwälte der beiden Sonderstaatsanwaltschaften DIICOT und DNA (zuständig für Fälle organisierten Verbrechens bzw. Korruptionsbekämpfung) sowie mehrere Richter zeigten sich gegenüber den Neuregelungen besorgt. Ermittlungen und Strafverfolgung würden künftig stark einschränkt, indem Ermittlungsinstrumente abgeschafft und somit der Nachweis von Straftaten erschwert werde. Auch die Generalstaatsanwaltschaft kritisiert in einer Presseerklärung die Art und Weise, indem die Änderungen im Parlament verabschiedet wurden – im Schnellverfahren und „ohne wirkliche Konsultationen bzw. Zusammenarbeit mit den für die Anwendung des Strafrechts zuständigen Justizbehörden“.
Auf die bereits vor einigen Monaten verabschiedeten (ebenfalls sehr umstritten) Justizgesetze und die (von der Opposition als politisch motiviert eingestuften) Entscheidung des Verfassungsgerichts über die beantragte Entlassung Kövesis hinweisend, sagte Staatspräsident Iohannis: „Die PSD versucht nicht nur, die Macht des Präsidenten zu amputieren, sondern auch, die Befugnisse der Justiz – das ist sehr ernst – zu amputieren.“
Hunderte Richter demonstrierten bereits im Winter 2017
Bereits im Dezember 2017 als einige der geplanten (und nun beschlossenen) Änderungen des Strafrechts erstmalig ins Parlament eingebracht wurden, zeigten hunderte Richter und Staatsanwälte ihre Unzufriedenheit sowohl mit den Änderungen im Justizsystem als auch mit den angekündigten Reformen im Straf- und Strafprozessrecht durch einen „stillen Protest“, in dem sie in ihren Roben vor dem Gerichtshof in Bukarest schweigend demonstrierten: ein Versuch, der Bevölkerung bewusst zu machen, dass die Funktionsweise des Justizwesens gefährdet sei.
Ausblick: geplante Änderung des Strafrechts via Eilverordnung
Aufgrund der bevorstehenden sitzungsfreien Zeit des Parlaments im Sommer, sowie der Anrufung des Verfassungsgerichts durch die Opposition und das Oberste Gericht (was als „unnötige Verzögerungen“ seitens der parlamentarischen Mehrheit angesehen wird), muss damit gerechnet werden, dass in einem nächsten Schritt das Strafgesetzbuch durch bloße Eilverordnung geändert wird. Eilverordnungen der Regierung müssen dem Staatspräsidenten nicht zur Unterzeichnung vorgelegt werden und die Vorschriften haben sofort rechtliche Geltung. Dieses Instrument ist, auch bei weitreichenden Reformen, in Rumänien in den letzten Jahren häufig eingesetzt worden. Dass diese Möglichkeit nicht nur reine Theorie ist, haben Mitte Juni 2018 mehrere führende Vertreter der Regierungsparteien, darunter Dragnea, Tăriceanu und Iordache, angekündigt. Sie teilten mit, dass eine Eilverordnung zur Reform des Strafrechts eine ernste Option sei.
Misstrauensantrag der Opposition
Drei im Parlament vertretene Oppositionsparteien (PNL, PMP und USR) brachten am 20. Juni 2018 einen Misstrauensantrag mit dem Titel "Stoppt die Marionettenregierung" gegen die Dăncilă-Regierung ein. Die derzeitige Regierung ist bereits die dritte PSD-ALDE Regierung in weniger als 2 Jahren. Die Opposition wirft der Regierung neben andauernden Angriffen auf die Justiz und den Versuch, diese der Regierung durch Gesetzesänderungen zu unterwerfen, auch unverantwortliche Wirtschaftspolitik und Vernachlässigung der Schlüsselbereiche für nachhaltige Entwicklung wie Forschung, Bildung und Gesundheitswesen vor. Um Abgeordnete anderer Parteien dazu zu motivieren, für den Misstrauensantrag abzustimmen, sagte der PNL-Vorsitzende Ludovic Orban, dass "jeder Abgeordnete, der den Antrag nicht unterstützt (…) ein Lakai Dragneas" und die Abstimmung die Gelegenheit zur Gewissensprüfung sei. Die Oppositionsparteien haben jedoch nur 154 der 233 nötigen Stimmen, weswegen ein Erfolg unwahrscheinlich scheint.