Die russische Arktis
Die Russische Föderation ist der größte Anrainerstaat der Arktis. Die Gesamtfläche der arktischen Gebiete Russlands beträgt in etwa fünf Millionen Quadratkilometer. Bewohnt wird die Region von rund 2,5 Millionen Menschen, bei einer Gesamtbevölkerung der Arktis von 4,6 Millionen. Vier der fünf größten Städte der Arktis liegen in der Russischen Föderation, darunter die wichtige Hafenstadt Murmansk. Innerhalb der russischen Arktis selbst gibt es jedoch erhebliche Unterschiede – vor allem in der Infrastruktur. Während die Kola-Halbinsel bei Murmansk, der Polarural bei Salechard und die Jamal-Halbinsel relativ gut mit Eisenbahnlinien, Straßen und Tiefseehäfen erschlossen sind, führen östlich des Jenisseis weder Straßen noch Zugstrecken in die Kältewüste der Taimyr-Halbinsel und die Sumpf- und Bergwelt von Nordjakutien und Tschukotka. Häfen, Siedlungen und Militäreinrichtungen in diesem Teil der russischen Arktis können häufig nur auf dem Luft- oder Seeweg erreicht werden.
Die Erschließung des Nordens – ein historischer Rückblick
Während des Zarenreichs war die russische Arktis weitgehend Terra incognita. Die Versuche englischer und niederländischer Entdecker im 16. Jahrhundert die Nordostpassage nach Asien zu finden, scheiterten. Um vor diesem Hintergrund eine englische Wirtschaftsexpansion im Bereich der Ob-Mündung zu unterbinden, wurde ab 1620 durch Zaren Michael I. die Nutzung des arktischen Seewegs nach Sibirien strengstens verboten.
In den folgenden Jahrhunderten wurde die Arktis weiter erforscht, aber aufgrund der klimatischen Bedingungen, abgesehen vom Pelzhandel und der Fischerei, nicht wirtschaftlich genutzt. Das größte Hindernis für die wirtschaftliche Nutzung der Arktis war lange Zeit die fehlende Infrastruktur. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass ganz Sibirien bis zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891-1916) verkehrstechnisch kaum erschlossen war. Dies galt im weit stärkeren Maß für die Arktis. Die heute größte Stadt am Polarkreis und Russlands wichtigster arktischer Hafen, Murmansk, wurde erst während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1916 gegründet.
Die wirtschaftliche Nutzung der russischen Arktis setzte relativ spät ein. Mit dem Abbau von Rohstoffen wurde erst in den 1930er-Jahren unter der Gewaltherrschaft von Joseph Stalin begonnen. Parallel dazu kam es zur Erschließung des Nördlichen Seewegs. Im Jahr 1932 gelang dem Eisbrecher Alexander Sibirjakow die erste Durchfahrt der Nordostpassage ohne Überwinterung. Im selben Jahr wurde die Hauptverwaltung für den Nördlichen Seeweg gegründet. Mit Hilfe von Hunderttausenden von Zwangsarbeitern wurde in den folgenden Jahren in der Region die notwendige Infrastruktur für die Nutzung des Seewegs geschaffen. Auch entlegene Rohstoffvorkommen wurden damit erstmals zugänglich. Der Nördliche Seeweg diente fortan vor allem als innerrussische Wasserstraße, um die arktischen Förderstätten zu erreichen. Während des Zweiten Weltkriegs erlangte der Nördliche Seeweg erstmals auch militärische Bedeutung. Im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes wurden über den Nördlichen Seeweg Rüstungsgüter in die Sowjetunion verschifft. Das deutsche Unternehmen Wunderland, welches die Blockade des Versorgungsweges zum Ziel hatte, scheiterte.
Der Tod Stalins setzte der weiteren infrastrukturellen Entwicklung der Arktis ein Ende. Große Projekte blieben unvollendet oder wurden nie realisiert. Was folgte, war hauptsächlich technische Optimierung. Mit der Indienststellung von Atomeisbrechern Ende der 1950er Jahre konnte ein regelmäßiger Schiffsverkehr auf der Nordmeerroute sichergestellt werden. Während des Kalten Krieges spielte die Arktis eine wichtige sicherheitspolitische Rolle, da die verfeindeten Blöcke hier besonders nahe beieinanderlagen. Strategische U-Boote, die mit ballistischen Raketen bewaffnet waren, kreuzten unter dem Eis, waren schwer zu orten und sicherten beiden Seiten die Möglichkeit eines nuklearen Zweitschlags. Infolge des wirtschaftlichen und politischen Chaos nach dem Ende der UdSSR brach auch die Instandhaltung des nördlichen Seewegs zusammen. Die Folge war eine weitverbreitete Abwanderung aus den arktischen Regionen. Militäreinrichtungen und Flugplätze wurden stillgelegt. Nach der staatlichen Rekonstruktion seit den späten 2000er Jahren erfährt auch das Interesse an der Arktis eine Wiederbelebung. Russlands Rückkehr in die Arktis wurde demonstrativ durch die Nordpolexpedition Arktika 2007 markiert, bei der ein U-Boot zum ersten Mal den Meeresboden des Nordpols erreichte und eine russische Flagge aufstellte.
Geoökonomische Potenziale
Mit seinen arktischen Gebieten verfügt Moskau über ein riesiges Ressourcenreservoir. Zahlreiche Rohstoffvorkommen sind dort überproportional konzentriert, u. a. Nickel (85 bis 90 % der gesamten russischen Reserven), Erdgas (83 %), Aluminium (80 %) und Kupfer (60 %). Die in der Arktis konzentrierten Rohstoffvorkommen erwirtschaften einen überproportionalen Anteil am russischen Bruttoinlandsprodukt (ca. 20 %) und das, obwohl die Region immer noch als wenig erschlossen gilt. Aufgrund der geologischen Vielfalt der russischen Arktis wird von zahlreichen unentdeckten Vorkommen ausgegangen.
Gas
Es ist nicht zuletzt das Gas der Arktis, welches einen signifikanten Beitrag zum russischen Staatshaushalt beiträgt und Hunderttausende von Arbeitsplätzen generiert. Bislang wurde das Gas der Arktis über landwärts ausgerichtete Pipelines in Richtung Westen gepumpt. Dazu zählt auch die Erdgasleitung Jamal-Europa, deren Endpunkt in Deutschland liegt. Doch in jüngster Zeit ist eine wegweisende Entwicklung zu beobachten. Durch die Verflüssigung von Gas bietet sich zunehmend der Transport nach Asien an. Dies muss dabei vor dem Hintergrund der von China angestrebten Energiewende, bei der Kohle zunehmend durch Gas ersetzt werden soll, betrachtet werden. Im Gegensatz zu Gazprom ist es vor allem das Privatunternehmen Nowatek, welches auf die Verschiffung von Flüssiggas (LNG) aus der Arktis setzt. In Kooperationen mit chinesischen Unternehmen wurde in diesem Zusammenhang zwecks der Verschiffung von Flüssiggas auf der in die Karasee ragenden Jamal-Halbinsel der Seehafen Sabetta ausgebaut.
Der Nördliche Seeweg
Die Zeitspanne der Befahrbarkeit des Nördlichen Seeweges (NSW) durch den Arktischen Ozean nimmt stetig zu. Beim NSW handelt sich um ein Transportsystem mit mehreren festgelegten Seerouten, die durch die Nordostpassage des Nördlichen Eismeeres führen. Der Seeweg verbindet dabei nicht nur die Häfen im europäischen und fernöstlichen Teil Russlands miteinander, sondern auch die Hafenorte an den Mündungen der großen, schiffbaren sibirischen Flüsse. Die Nutzung der bestehen vier Routen hängt sowohl vom Tiefgang der Schiffe als auch von der Eisbewegung und nicht zuletzt vom Zielhafen ab. Für eine komplette Durchfahrt werden heute 7 bis 15 Tage benötigt. Es wird dabei unterschieden zwischen (A) innerrussischer Zielschifffahrt zum Abtransport von Rohstoffen und der Fischerei sowie der (B) Transitschifffahrt zwischen Häfen außerhalb der Arktis.
Die innerrussische Zielschifffahrt ist vor allem für den Rohstoffabbau relevant. Viele Abbau- und Förderstätten sind bis heute auf dem Landweg nicht erreichbar. Dazu zählt auch das Nickelwerk von Norilsk, dessen Erträge ausschließlich über das Nördliche Eismeer verschifft werden. Über den NSW versorgt Moskau am Vorabend der Wintersaison die isolierten Siedlungen und Städte des Nordens im Rahmen der sogenannten Nordlieferungen mit lebensnotwendigen Gütern.
Während die innerrussische Zielschifffahrt seit Längerem rentabel ist, so war die kommerzielle Transitschifffahrt Wunschdenken – zu knapp war die Zeitspanne und zu hoch waren die Kosten. Doch mit dem Klimawandel ändert sich dies nun. In den letzten Jahren wurde bereits ein progressives Wachstum des Güterverkehrs auf dem NSW beobachtet. Das Frachtaufkommen soll von 31,5 Millionen Tonnen die im Jahr 2019 auf dem Seeweg verschifft wurden, bis zum Jahr 2024 auf 80 Millionen gesteigert werden. Für das Jahr 2035 ist ein Frachtvolumen von 160 Millionen Tonnen geplant.[1] Die Etablierung des NSW als alternativer Ost-West Transitweg zum klassischen Seeweg durch den Suezkanal ist ein erklärtes Ziel der russischen Führung. Sollte die Nordostpassage in 20 Jahren, wie derzeit prognostiziert, tatsächlich eisfrei sein, würde dies den Warenverkehr auf den Meeren neu ordnen. Der NSW als Transitschifffahrtsweg unterscheidet sich dabei fundamental vom klassischen transkontinentalen Seeweg nach Asien. Nicht nur, dass er komplett durch die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) Russlands führt, sondern an neuralgischen Punkten durchquert er das russische Küstenmeer (Hoheitsgewässer) und sogar Innere Gewässer. Das bedeutet, dass die Russische Föderation im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) an diesen Punkten souveräne Rechte und Hoheitsbefugnisse besitzt. Im Zusammenhang mit den extremen klimatischen Bedingungen ergeben sich für die internationale Schifffahrt daraus sowohl rechtliche als auch geopolitische Konsequenzen.
Im Spannungsfeld zwischen Geopolitik
und internationalem Recht
Rechtlicher Status
Solange Russland den NSW vor allem als nationalen Transportweg nutzte, um zu seinen Rohstoffquellen in der Arktis zu gelangen, spielten völkerrechtliche Fragen eine untergeordnete Rolle. Das änderte sich auch kaum, als der Schifffahrtsweg 1991 für die zivile Schifffahrt freigegeben wurde. Die Nutzung des NSW kam vielmehr wenig später fast zum Erliegen. Ende der 2000er rückte die Nutzung des Seeweges wieder in den Fokus der russischen Regierung, wozu der Klimawandel nicht unwesentlich beitrug. Doch mit der zunehmenden Aussicht auf die Nutzung des NSW als transkontinentalen Seeweg rücken juristische Fragen in den Vordergrund und bilden nicht zuletzt ein ernsthaftes Konfliktpotenzial. Die Rechtslage bezüglich der Nordostpassage ist dabei kompliziert und in weiten Teilen eine Frage der Auslegung. Als Teil des Seevölkerrechts regelt das SRÜ auch die Schifffahrt in der Arktis. Die Russische Föderation gehört zu den Unterzeichnern des SRÜ. Für den Nördlichen Seeweg ist vor allem die Gesetzeslage in der AWZ von Bedeutung. Zwar besitzen fremde Staaten in der AWZ nach Artikel 58 der SRÜ u.a. das Recht auf freie Schifffahrt ohne vorherige Anmeldung.[2] Russland behält sich für den NSW jedoch eine Anmeldepflicht vor. Moskau beruft sich dabei auf Artikel 234 des SRÜ. Demnach sind Gesetzte und Vorschriften zur „Verhütung, Verringerung und Überwachung der Meeresverschmutzung durch Schiffe in eisbedeckten Gebieten innerhalb der [AWZ] zu erlassen und durchzusetzen.“[3] Zudem sind Tanker und Handelsschiffe auf dem NSW auf die Informationen der entsprechenden russischen Behörden über die Eisbewegungen und Wetterbedingungen sowie unter Umständen auch auf den Einsatz von Eisbrechern angewiesen.
Ein Gesetz aus dem Jahr 2017 regelt zudem, dass der Transport und Export (Kabotage) von in der Arktis geförderten Erdöl, Gas und Kohle auf dem Nördlichen Seeweg nur unter russischer Flagge erfolgen darf.[4]
Russlands Ansichten kollidieren dabei sowohl mit denen Chinas als auch denen der USA. Diese betrachten die transarktischen Seewege als internationale Schifffahrtswege. Bei solchen greift das Recht auf Transitdurchfahrt (Art. 37 SRÜ) in den entsprechenden Meerengen. Für Moskau stellt der NSW jedoch einen nationalen Schifffahrtsweg dar. Im Streitfall könnte sich die russische Führung zudem auf das Völkergewohnheitsrecht berufen, da über Jahrzehnte der NSW als nationaler Schifffahrtsweg Russlands lediglich von den USA angefochten wurde. Zusätzlich hat Moskau seine Position durch die Tatsache gefestigt, dass bei zahlreichen Inselgruppen[5] Artikel 7 der SRÜ, die Ziehung Gerader Basislinien, angewendete wurde. Damit werden die Meerengen zwischen wichtigen Inselgruppen de jure zu inneren Gewässern und folglich russische Hoheitsgewässer. Von russischer Seite wird zudem häufig das Argument angeführt, dass die Erschließung und Nutzbarkeit des Seeweges überhaupt erst durch Russland ermöglicht wurde.
Diese rechtlichen Streitfragen bieten das Potenzial zukünftiger Konflikte, da die SRÜ durch ihre geringe Normdichte durchaus zahlreiche Interpretationsspielräume offenlässt. Grundlegendes Problem ist dabei, dass Teile des internationalen Seerechts unklar formuliert sind. Gerade für die Arktis fehlt noch ein einheitliches Rechtsverständnis. Letztlich handelt es sich somit um politische Fragen der Durchsetzungsfähigkeit. Die Spannungen im Südchinesischen Meer verdeutlichen, in welche Richtung die Entwicklung gehen könnte. Mit Operationen zur „Freiheit der Schifffahrt“ (Freedom of Navigation Operations, FONOPs) begegnen die USA dort chinesischen Ansprüchen. Russland besitzt bereits heute die zur Einhaltung der russischen Jurisdiktion notwendige militärische Präsenz entlang des NSW. Gesetzesinitiativen und Äußerungen lassen keinen Zweifel daran, dass Moskau den NSW als nationalen Seeweg betrachtet. Ein gewaltsamer Versuch, sich Zugang durch entsprechende Meerengen zu verschaffen, könnte in einem militärischen Konflikt münden.
Neue Grenze
Der Klimawandel, welcher den NSW zukünftig attraktiv machen könnte, hat auch sicherheitspolitische Konsequenzen. Der natürliche Schutz, der durch das lebensfeindliche Klima und die zugefrorene See gegeben war, entfällt zunehmend. Dadurch erwächst Russland im Norden eine Grenzregion, die es zu kontrollieren und im Ernstfall zu verteidigen gilt. Ein historisch vollkommen neues Szenario. Zwar hatte es in arktischen Gefilden durchaus Operationen Englands im Krimkrieg und der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gegeben, diese beschränkten sich aber auf einen kleinen Abschnitt im Westen. Zukünftig muss die gesamte Küstenlinie der Arktis in einen verteidigungsbereiten Zustand gehalten werden, will man nicht Förderanlagen für Gas, Häfen, LNG-Terminals, Raffinerien, Bergwerke und den Nördlichen Seeweg ungeschützt belassen. Erschwert wird die Kontrolle über diesen riesigen Raum durch die dünne Besiedlung und die mangelnde Infrastruktur. Vor dem Hintergrund ist die Errichtung bzw. Wiederbelebung militärischer Infrastruktur auf den russischen Arktisinseln zu betrachten.
In Antwort auf die Verwundbarkeit der nördlichen Grenzen begann Russland ab den 2010er Jahren eine militärische Umstrukturierung in der Arktis. Im Jahr 2014 wurde dafür eine eigenständige militärisch-administrative Einheit für die Arktis geschaffen, das Vereinigte Strategische Kommando „Nordflotte“. In Funktion und Art nimmt sie die Aufgaben eines Militärbezirks war, u. a. sind ihr alle Inseln der Arktis zugeordnet. Im Resultat werden sämtliche Marine-, Luft- und Landformationen von Murmansk bis Anadyr unter einem einheitlichen Kommando zusammengefasst. Kern bildet die bei Murmansk stationierte Nordflotte, sie gilt als die schlagkräftigste und modernste unter den russischen Flotten. Ausgestattet ist sie unter anderen mit neuesten Atom-U-Booten der Borei-Klasse.
Trotz der intensiven Verstärkung der russischen Militärpräsenz betrachtet die russische Regierung als Hauptbedrohung jedoch die Gefahr einer Stagnation im Wirtschafts- und Infrastruktursektor.[6] Aus diesem Grund sind auch Erhalt und Ausbau der zivilen Atomeisbrecher-Flotte von strategischer Bedeutung. Garantiert diese doch derzeit die Befahrbarkeit des Nördlichen Seeweges und ist somit die Grundvoraussetzung für die Erreichbarkeit der arktischen Förderstätten, Siedlungen und Militärstützpunkte. Im Jahr 2020 nahm mit der Arctica der größte Atomeisbrecher der Welt seinen Betrieb auf, die zwei Schwesterschiffe Ural und Sibir sind bereits vom Stapel gelaufen.
Great Game in der Arktis? Chinas Hoffnungen
Die Ressourcen, Verkehrsverbindungen und strategischen Optionen der Arktis haben längst die Begehrlichkeiten der führenden Nationen der Welt geweckt. Für die Russische Föderation bildet die Arktis aus geopolitischer Perspektive den einfachsten Zugang zum Atlantischen Ozean. Ein direkter und freier Zugang zum Atlantik besteht für Russland nicht. Der Weg führt unweigerlich durch Binnen- und Randmeere, von denen aus im Konfliktfall ein Durchbruch erfolgen bzw. in dem einem Gegner begegnet werden müsste. Im Gegensatz zur Ostsee und dem Schwarzen Meer muss im Falle der Arktis jedoch keine Meerenge durchquert werden. Durch die klimatischen Veränderungen kommt jedoch ein globalstrategisch weitaus entscheidender Moment hinzu. Die Gewässer zwischen der russischen Arktisküste und dem Nordpol bilden eine maritime Verbindung zwischen Pazifischen und Atlantischen Ozean. Eine Tatsache die man in Peking längst erkannt hat. Mit dem Ziel zur Seemacht aufzusteigen, umwirbt die Volksrepublik China die Russische Föderation für eine engere maritime Zusammenarbeit. Gern würde man eine alternative Seeverbindung, die zudem kürzer und damit billiger ist, zu den Märkten in Europa schaffen – eine Einbindung des Nördlichen Seewegs als polare Seidenstraße.[7] Denn im indisch-pazifischen Raum, durch den der klassische Seeweg Asien-Europa führt, bilden sich längst Verteidigungsbündnisse gegen die chinesischen Hegemoniebestrebungen. Was auf dem eurasischen Festland längst im Entstehen begriffen ist, ein militärisches Bündnis China-Russland, soll nun auch auf hoher See verwirklicht werden. Im Resultat würde Pekings Marine unweigerlich auch militärischen Zugang zur Nordostpassage bekommen. Sämtliche Meeresstraßen dort – die Sannikowstraße bei den Neusibirischen Inseln und die Wilkizkistraße bei der Inselgruppe Sewernaja Semlja – werden von Russland kontrolliert. Im Konfliktfall wäre es für die Russische Föderation mit wenig Aufwand verbunden, diese Route zu sperren bzw. einseitig freizugeben. Dies wird vor allem im Fall einer Verschärfung des chinesisch-amerikanischen oder chinesisch-indischen Gegensatzes von Bedeutung sein. Der Schaden durch eine Blockade des chinesischen Schiffsverkehres im Indischen Ozean im Falle eines Konfliktes wird damit reduziert. Für die chinesische Wirtschaft sind die Ost-West-Schifffahrtswege bislang lebensnotwendig, werden über sie doch nicht nur chinesische Waren exportiert, sondern auf ihr gelangen auch die Öl- und Gaslieferungen nach China. Aus strategischer Sicht erlaubt die Nordostpassage theoretisch zudem bereits heute die schnelle Verlegung von Kriegsschiffen und U-Booten aus dem Pazifik in den Nordatlantik und umgekehrt. Ganz abgesehen davon, dass der Transport von russischem Flüssiggas aus der Arktis über den NSW zu Chinas Energiesicherheit beiträgt.
Auch wenn man von russischer Seite den chinesischen Plänen bislang durchaus skeptisch gegenüberstehen mag, bestehen aus strategischer Sicht derzeit wenig Alternativen. Nicht nur ist Moskau aufgrund der westlichen Sanktionen auf chinesische Technologien und Investitionen angewiesen, sondern man ist sich in Russland zudem bewusst, dass der militär-infrastrukturelle Vorsprung gegenüber der NATO, den man bislang noch im arktischen Raum besitzt, kaum bzw. nur langsam ausbaufähig ist. Das Nordatlantische Bündnis besitzt dagegen, aufgrund seiner finanziellen Mittel und technologisch-industriellen Kapazitäten, noch enormes Potenzial zum Ausbau sowohl wegen der militärischen Infrastruktur in Kanada, Norwegen, Island und der zu Dänemark gehörenden Insel Grönland als auch im Schiffsbau. Auch wenn es der NATO derzeit noch an leistungsfähigen Eisbrechern und arktistauglichen Kriegsschiffen mangelt, so ist dieser Nachteil aufgrund der industriellen und finanziellen Kapazitäten schnell aufholbar.[8]
Fazit
Die Klimaveränderung hat langfristige geopolitische Auswirkungen in der Arktis, nicht nur für die Russische Föderation. An aller erster Stelle bietet sich durch die längere Befahrbarkeit der Nordostpassage eine intensivere Nutzung des Nördlichen Seeweges an. Dies bildet nicht nur die Grundvoraussetzung für die Förderung und den Export von Erzen, Metallen, Flüssiggas und anderen Rohstoffen, sondern beinhaltet zudem das Potenzial, einen Teil der globalen Verkehrsströme umzulenken. Auch wenn der NSW als alternativer Seeweg nach Asien wohl erst im kommenden Jahrzehnt zur Entfaltung gelangt, so ist doch Moskaus Kontrolle über signifikante Teile des Weltwarenverkehrs absehbar. Russlands geoökonomische Position würde sich deutlich verbessern. Um das wirtschaftliche Potenzial weiter auszubauen, wird Russland den Ausbau der Infrastruktur entlang des Seeweges intensivieren. Insofern der Zugang zu westlichem Kapital weiter eingeschränkt ist, wird Moskau auf chinesische Investitionen und Kredite zurückgreifen. Zusammen mit weiteren Entwicklungen, wie dem zunehmenden Gasexport nach China sowie der Rüstungszusammenarbeit wird dies die Bindung an Peking voraussichtlich verstärken.
Gleichzeitig sieht sich Moskau im Norden mit der Herausforderung konfrontiert, eine gigantische Grenzregion zu kontrollieren und eine entsprechende territoriale Verteidigungsbereitschaft zu aufzubauen. Davon, dass man im Kreml diese Frage ernst nimmt, zeugt nicht zuletzt die laufende Modernisierung der Nordflotte, die modernste und schlagkräftigste der russischen Flotten. Konfliktpotenzial besteht dabei in der russischen Polarregion durchaus. Vor allem die unterschiedliche Auslegung des Status des Nördlichen Seeweges könnte bei zunehmender Bedeutung dieser Wasserstraße zum Streitfall werden. Russland betrachtet den Nördlichen Seeweg als nationalen Schifffahrtsweg. Dies schränkt die Nutzung für die zivile und militärische Schifffahrt ein. Aufgrund der geographischen Privilegierung und der militärischen Präsenz ist Russland in der Nordostpassage faktisch souverän. Für mögliche Probleme könnte auch das immer wieder auftretende Phänomen neuer Inseln sorgen, die bislang unter dem Eis bedeckt lagen. Zuletzt entdeckte die russische Marine 2019 fünf neue Inseln. Doch nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, dass die Arktis in das große geopolitische Ringen des 21. Jahrhunderts involviert wird. Dies nicht zuletzt, da der Nördliche Seeweg die Umgehung des klassischen Schifffahrtsweges von Europa nach Asien durch den Indischen Ozean ermöglicht. Bei einer Eskalation des Gegensatzes zwischen Peking und Washington würde unweigerlich auch die Arktis betroffen sein. Das Verhältnis zu Russland wäre in einem solchen Fall entscheidend für die Möglichkeit einer chinesischen Machtprojektion in der Arktis. Die Volksrepublik verfügt bereits heute über die größte Kriegsmarine der Welt – dies auch durch russische Rüstungshilfe. Das ist nicht im Interesse des Westens, der die interessengeleitete Kooperation mit Russland weiter suchen sollte.
[1] Vgl. https://arctic-russia.ru/northsearoute/
[2] Dies gilt auch für Kriegsschiffe.
[3] Vgl. Artikel 234 im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und Übereinkommen zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens. https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1998:179:0003:0134:DE:PDF
[4] Projekte und Terminals, die westlich der Karasee liegen – das Warandey-Terminal von LUKOIL, die Prirazlomnaya-Plattform von Gazprom Neft und der Hafen von Murmansk –, werden nicht unter die neuen Regelungen fallen. Betroffen sind Projekte von Novatek im Golf von Ob und Gydan, das Terminal von Gazprom Neft auf dem Novoportovskoye-Feld und Projekte von Vostokugol, Rosneft, NPC und LUKOIL auf der Taimyr- Halbinsel.
[5] Bei Nowaja Semlja, Sewernaja Semlja und den Neusibirischen Inseln.
[6] Vgl. Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation vom 05.03.2020 Nr. 164 "Über die Grundlagen der Staatspolitik der Russischen Föderation in der Arktis für den Zeitraum bis 2035". URL: http://kremlin.ru/acts/bank/45255 und das Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation vom 26. Oktober 2020 Nr. 645 „Über die Strategie zur Entwicklung der arktischen Zone der Russischen Föderation und zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit für den Zeitraum bis 2035“.: http://kremlin.ru/acts/bank/45972
[7] Vgl. https://ria.ru/20171013/1506780143.html
[8] Vgl. Kramnik, Ilja: Sever natschinaet i ne proigraet, 20. Juni 2020 https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/analytics/sever-nachinaet-i-ne-proigryvaet/