Country reports
Die Proteste bei denen eine nicht genau zu beziffernde Zahl von Menschen verletzt wurde, wurden bis vor den Präsidentenpalast in Algier "getragen". Die Regierung sah sich darauf hin veranlaßt, die vorgenommene Vergabe rückgängig zu machen. Die 1.500 Sozialwohnungen müssen vom Bürgermeister noch mal vergeben werden. Präsident Bouteflika bereiste daraufhin mehrere Städte im Osten von Algerien, um die Lage zu beruhigen. In der algerischen Presse entwickelte sich eine ausführliche Debatte über die soziale Lage im Lande.
Nach offiziellen Angaben fehlen rund eine Millionen Wohnungen im Lande. Nach anderen Berechnungen sollen es bis zu 2 Millionen Wohnungen sein. Selbst für Familien, die nicht von der Arbeitslosigkeit betroffen sind und ein Durchschnittseinkommen haben, ist es fast unmöglich eine Wohnung zu finden. Eine durchschnittliche Wohnung kostet das Vierfache des Mindestlohns. Sozialwohnungen sind deshalb für viele Menschen die einzige Hoffnung. Es kommt nicht selten vor, daß sich bis zu zwölf Personen ein Zimmer teilen müssen.
Für die 64% der Algerier, die unterhalb der Armutsgrenze leben und nicht auf dem Lande vom Familienverband aufgefangen werden können, sind die staatlichen Wohnungsbauprogramme die einzige Hoffnung. Die soziale Spannung, die so entsteht, ist in den Städten überall spürbar. Jedes Gespräch, welches man als Ausländer im Alltag führt (Taxifahrer, Friseur, Bäcker, Bank etc.), endet spätestens nach fünf Minuten in eine Empörung über die Wirtschaftsmisere und die katastrophale soziale Lage.
Die rund 70 000 Wohnungen, die pro Jahr gebaut werden, reichen bei weitem nicht aus, um den Fehlbestand auszugleichen.
Wenn, wie in diesem Fall, die in Algerien übliche Korruption noch dazu kommt, wird die bereits gespannte soziale Lage zum Sprengstoff. Die Gewerkschaft UGTA sieht die Gefahr einer sozialen Explosion und sperrt sich deshalb gegen weitere Privatisierungen. Die Schließung von rund 2 000 staatlichen Unternehmen in den letzten Jahren hat ca. 400 000 Menschen auf die Straße gesetzt. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei rund 30%. Davon sollen rund 80% zwischen 20 und 30 Jahren sein. Berücksichtigen muß man zusätzlich, daß die Mehrzahl der Frauen weder berufstätig ist noch eine Arbeit nachfragt. Ansonsten gelänge man zu ganz anderen Zahlen. Die Tatsache, daß nur 10% der Jungakademiker nach ihrem Abschluß einen Beruf finden, läßt die Auswanderungswelle wie auch den sozialen Druck steigen. Die hohe Arbeitslosigkeit zuzüglich der sozialen Altlasten aus der Zeit der Einheitspartei FLN machen es jederzeit wieder möglich, daß gewalttätige Proteste entflammen.
Die Gefahr sozialer Eruptionen dürfte langfristig größer sein, als die islamistische Gefahr. Ausdruck der verzweifelten Situation ist auch das Ansteigen der Selbstmordrate in Algerien. Für ein islamisches Land, in dem Selbstmord normalerweise fast nicht existent ist, ist dies ein bedeutsamer Vorgang. Die Perspektivlosigkeit großer Teile der Bevölkerung lassen Depressionen in Algerien zur Volkskrankheit werden. Unabhängig von den politischen Implikationen nagt die soziale Situation an der gesellschaftlichen Substanz.
Die Regierung befindet sich in einer Zwickmühle, da zur Verbesserung der Lage radikale Wirtschaftsreformen notwendig sind, diese wiederum aber zuerst zur Verschärfung der sozialen Lage beitragen. Um die sozialen Härten abzufedern hat die Regierung kein Geld. Sollte der Ölpreis einbrechen, würde dies sofort zu einer Haushaltskatastrophe in Algerien führen, da die Einnahmen zu 95% aus dem Erdölgeschäft kommen.
Die Ereignisse um die Wohnungsvergabe zeigen, dass sich die Geduld der Bevölkerung auch langsam dem Ende neigen dürfte. Desillusioniert durch die unterschiedlichsten Ideologien seit der Unabhängigkeit beginnt nun auch das Vertrauen in Bouteflika zu schwinden. Seit seiner Amtsübernahme im Mai 1999 und der Regierungsbildung im Januar 2000 bewegt sich nicht viel in Algerien. Die Regierungsumbildung vom 26.08.2000 ist sicherlich auch Ausdruck dieses Zustandes. Ob der Regierungsumbildung und dem massiven Besuchseinsatz des Präsidenten im Lande nach den Wohnungsprotesten auch durchgreifende Maßnahmen folgen werden, bleibt abzuwarten.
Soll die Lage nicht explodieren, muß die Regierung durch Handeln Hoffnung kreieren. Dies dürfte nicht leicht sein, da die soziale Krise viele junge Algerier schon ihr ganzes Leben begleitet und durch die Jahre des islamistischen Terrors seit 1992 mit rund 100 000 Toten und schätzungsweise 20 Mrd. US Dollar Kriegsschäden noch einmal gesteigert wurde. Nach den bereits erlebten Traumatisierungen des Bürgerkrieges, von denen weite Teile der Gesellschaft betroffen sind, werden die Entlassungen durch die Privatisierung für viele wie ein weiteres soziales Erdbeben erlebt.