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Vom Krisenmanagement am Ende der Gewissheiten: Burkhard Spinnens neuer Roman
„Vorkriegsleben“, der neue Roman von Burkhard Spinnen (Preisträger 1999) ist ein episches Protokoll der Zeitenwende im Spiegel einer schweren Lebenskrise, ein Roman über die Verwicklungen zwischen Kunst und Wirtschaft, ein Buch über den Krieg in Europa und die Verwüstung der Idee vom ewigen Frieden.
Alles beginnt für den Helden Richard mit einer Vereinsamungserfahrung. Seine Frau hat ihn mit der gemeinsamen Tochter verlassen, seine Mutter dämmert im Pflegeheim dahin, er selbst muss wegen wachsender Verluste seine Speditionsfirma verkaufen. Es ist Februar 2022, die vierte Coronawelle droht, und nach dem 24. Februar, dem russischen Überfall auf die Ukraine, kommen Kriegsflüchtlinge nach Deutschland. Richard nimmt die ukrainische Halbschwester einer Arbeitskollegin mitsamt deren Zwillingsmädchen bei sich auf. Und dann platzt, in einer kafkaesken Szene, auch noch ein junger Mann in sein Leben, der ihm einen erpresserischen Deal anbietet: er kann Richard Erinnerungen verkaufen, die dieser nicht kennt, störende und peinliche Altlasten. Richard geht darauf ein, lernt unangenehme Seiten von sich kennen, merkt, warum er anderen wie eine „Tasse ohne Henkel“ erscheint – und rettet sich mit mutigem Verstand aus der der Insolvenz: erst mit einem Küchendienst, dann mit einem Altenpflegedienst.
Spinnens Roman erzählt eine Geschichte vom Krisenmanagement und vom Ende der Gewissheiten. Mit den Erinnerungen, die Richard heimsuchen und deren Ursprung Spinnen mit kriminalistischer Freude am Detail zu enthüllen weiß, fallen die Fassaden eines heilen Vorkriegslebens.
Wilder Bildungsroman: Marica Bodrožićs Roman über den Weg in die Freiheit
Pepsi ist jung, neugierig, unbezähmbar. Wenn sie in Dalmatien ist, sehnt sie sich nach dem deutschen Norden, wenn sie in Hessen ist, zieht es sie in die träumerische Herzegowina. Ihre Eltern sind als Putzfrau und Bauarbeiter in den Taunus schuften gekommen, nun haben sie die Töchter zeitweise nachgeholt.
Es ist eine Kunstfigur, die die Autorin (Preisträgerin der Stiftung 2015) in ihrem neuen Roman auf einen Entwicklungs- und Bildungsweg schickt, der es in sich hat. Denn Pepsi ist eine mit autobiographischen Zügen ausgestattete und zugleich exemplarische Figur der mehrsprachigen Migration. Eine interkulturelle coming of age-Geschichte im Migrationsmilieu wird aufgeblättert. In Pepsis Wohnung hängt der Alkoholgeruch wie ein Urteil, die Mutter verbittet und verbietet sich alle Zärtlichkeit, zur Strafe muss die Tochter stundenlang auf rohen Reiskörnern knien. Als Komplizen bleiben dem Mädchen die Bücher, ein shakespearisierender Onkel, beständig neue Fragen und ein hartnäckiges Interesse am Dazwischensein, einem „Ort neuer Augen“. Mit sprachlicher Intensität und fokussierten Bildern erweckt Bodrožić einen Migrations-Bildungsroman, wie er bislang selten geschrieben wurde. Über ihr Schreiben spricht sie im Podcast kunst:stueck der Konrad-Adenauer-Stiftung: kunst:stück, der KAS-Podcast der Kulturabteilung - Begabtenförderung und Kultur - Konrad-Adenauer-Stiftung
Kaiser ohne Kleider und Krone: Arno Geigers Roman über Karl V.
Arno Geiger hat es mit Königen. „Der alte König in seinem Exil“ (2011) handelte von seinem demenzkranken Vater, im gleichen Jahr erhielt der Autor den Literaturpreis der Stiftung. Von dem König, den Arno Geiger in seinem neuen Roman auf eine „Reise nach Laredo“ schickt, wurde gesagt, in seinem Reich gehe die Sonne nicht unter. Doch Geiger lässt seinen Protagonisten auftreten, als er als Kaiser abgetreten ist, 58-jährig und schwer an Gicht erkrankt, in seinem Domizil im spanischen Extremadura. Ohne Krone und Kleider porträtiert er ihn in einem grandiosen Eingangskapitel im heißen Zuber, mit hilflosem Leibarzt, vor gaffendem Publikum, beschäftigt mit Alpträumen und Halbgedanken.
Der Zündfunke der Geschichte, die Arno Geiger erzählt, ist Karls Begegnung mit einem elfjährigen Jungen, Geronimo, einem unehelichen Sohn, der selbst von seiner Herkunft nichts ahnt. Mit Geronimo begibt sich Karl auf eine letzte Reise zum Atlantik, nach Laredo. Sie begegnen Heimatlosen, queste-verlorenen Rittern, einem Geschwisterpaar – und sich selbst. Arno Geiger erzählt mit einer ansteckenden Freude an der historisch nicht verbürgten Pointe. Sein ungleiches Reisepaar erinnert an Don Quichotte und seinen Knappen Sancho Pansa. Mit den Fragen, die sich der reisende Kaiser implizit und explizit stellt, ragt der Roman in unsere Gegenwart: Weshalb steckt in jedem Menschen ein zurückgetretener König? Welche Freiräume schafft das Aufhören? Wie kommt es, dass Schönheit selten wahr und Wahrheit selten schön ist? Und was macht das Linksliegenlassen der Welt zur anspruchsvollen Sache? Kein historischer Roman, sondern ein findelustiger Roadtrip aus der frühen Neuzeit über das Verlassen der Komfortzonen und ungleiche Freundschaften.
Ein Nachtrag zum „Coma der DDR“: Sarah Kirschs nachgelassene Tagebücher 1990
Im Tagebuch steckt der Kern von Sarah Kirschs Dichtung. Zu Lebzeiten und nach dem Tod der ersten Preisträgerin der Konrad-Adenauer-Stiftung (1993) sind eine Reihe von autobiographischen Büchern erschienen. Zu früher Stunde, meist zwischen fünf und sechs Uhr, hat Sarah Kirsch ihre Beobachtungen der nächsten Dinge und aus dem deutschen wie europäischen Raum aufgeschrieben. Und das immer mit der ihr eigentümlichen asketischen Interpunktion, mit barockisierender Schreibweise („Articul“) und lautmalerischer Aufrüstung der Wörter.
Es ist vor allem das Radio, aber auch „Der Spiegel“, der die Nachrichten ins schleswig-holsteinische Haus am Eiderdeich bringt, in dem Kirsch seit 1983 mit Sohn, Hund, Katzen, Esel und einigen Schafen lebt. Kirschs Kommentare in dem jüngsten Tagebuch „Der Sommer fängt doch so an!“ sind so besorgt wie scharfsinnig. Aufmerksam hält sie grasende Ringeltauben und dahineilende Wolken bei Windstärke 6 fest, ebenso wie Ausschreitungen in Rumänien, russische Gewaltandrohungen auf die Unabhängigkeitsbestrebung Litauens, Regierungsbildung in der DDR, ein Fährunglück zwischen Dänemark und Norwegen. Die deutschen Zustände, die dieses „Tagebuch 1990“ zwischen dem Tag der ersten freien Wahlen in der DDR und dem Begründungstag der Deutschen Einheit rahmen, kommen nur am Rande vor. Wie sehr ihr Deutschland und die Kultur am Herzen liegen, zeigen die Bemerkungen zu alten Freundschaften, die stabil bleiben, wie im Falle von Hans Joachim Schädlich und Günter Kunert, oder hinfällig werden: An Christa Wolfs Selbstlegendarisierung zur Autorin eines halbherzigen Widerstands lässt Sarah Kirsch kein gutes Haar.
Und doch ist dieses Tagebuch, dem hoffentlich weitere aus dem vom Sohn Moritz Kirsch wohlverwalteten Nachlass der Dichterin folgen werden, keine Literaturbetriebskammer, sondern eine unbestechlich genaue Mitschrift des Lebens in der norddeutschen Provinz, ein Abgesang auf das traurig machende „Coma der DDR“ und einen für sie 1990 noch undeutlichen gesamtdeutschen Neuanfang.
Marica Bodrožić: Das Herzflorett. Roman. München: Luchterhand / Penguin
Ulrike Draesner: zu lieben. München: Luchterhand. (Besprechung in der Weihnachtsausgabe des Buchrapports)
Arno Geiger: Reise nach Laredo. Roman. München: Hanser
Sarah Kirsch: Der Sommer fängt doch so an! Tagebuch 1990. Hrsg. und mit einem Nachwort von Moritz Kirsch. Göttingen: Steidl
Burkhard Spinnen: Vorkriegsleben. Roman. Frankfurt am Main: Schöffling