Literatur ist, was „beim Lesen Spaß macht. Verbunden mit Sofa, Genießen, Schokolade. Also nützlich, wenn auch auf eigene Art“. So eröffnete Ulrike Draesner 2007 ihren Band "Schöne Frauen lesen". Jetzt, in Corona-Zeiten, bekommt das Zitat eine ganz neue Note. Über 60 Zuhörer waren abends online dabei, als Ulrike Draesner ihren gerade erschienenen Roman "Schwitters" vorstellte. Zugeschaltet von Lissabon bis Danzig, vom Indrefjord bis Bergamo, in Berlin und im Rheinland, zuhause, im Home Office oder im Büro. Mit der Lesung setzte die Kulturabteilung der Stiftung ihr erprobtes Format Studio Literatur online fort.
Wer war Schwitters? Was hat Ulrike Draesner, die Romane, Essays, Lyrik, Libretti schreibt und die aktuelle Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat, daraus gemacht? Und wozu ist das heute nützlich und gut? Auf diese Fragen gab die Autorin im Gespräch mit dem Literaturreferenten der Stiftung und Autor dieser Zeilen bereitwillig Antwort. Kurt Schwitters, von dem man heute wenig mehr als das Liebesscherzgedicht „An Anna Blume“ kennt, war bildender Künstler und Schriftsteller, ein Dadaist im Gehrock, als „entartet“ geächtet von den Nazis und ins Exil gezwungen. Auf Schwitters' Spuren stieß Ulrike Draesner in England, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, in London und im Lake District. Sofort war ihr klar: „Das ist mein Mann.“
Doch keine Biographie schwebte ihr vor, ein Scheinkünstlerroman schon gar nicht. Es ging ihr, sagt sie, um die Frage nach der Kunst: wie sie entsteht unter widrigsten Bedingungen, wie sie sich behauptet im Exil, welchen Wert sie „für eine freiheitliche Gesellschaft hat“. Und so schrieb Ulrike Draesner, über fünf Jahre hinweg, einen Roman, der mehr als nur ein Leben erzählt. Kurt Schwitters hatte mindestens zwei: ein deutsches (bis zur Flucht 1937) und ein englisches (bis zu seinem Tod 1948). Dazu zwei Gräber und ein wechselvolles Nachleben, über das Ulrike Draesner in einem Epilog Auskunft gibt. Hinzu kommen die Lebenserzählungen seines Sohnes Ernst und vor allem die Erzählstimmen von Schwitters' Frauen, von seiner Ehefrau Helma, die in Hannover blieb und 1944 starb, ohne ihren Mann je wiedergesehen zu haben, und Schwitters' englischer Lebensgefährtin Elisabeth Thomas, die er wegen ihrer Liebe zum Tee Wantee nannte.
Es sind also mehrere Kunst-, Exil- und Lebensgeschichten, die Ulrike Draesner erzählfreudig und sprachschöpferisch, englisch: witty, also auf einer Humorwellenlänge mit Schwitters, in ihrem Roman verpackt (verpackt übrigens im wahrsten Sinne, denn der Buchumschlag enthält auf der Innenseite, wird er entfaltet, eine Überraschung!). Sie erzählt von Schwitters als Erfinder der begehbaren Skulptur (des MERZbaus) und Vorläufer der Pop Art, ein Künstlerleben mit Migrationshintergrund.
Für ihre Lesung hatte Ulrike Draesner eine deutsche Küchen- und eine englische Pubszene ausgewählt. Steilvorlagen für Publikumsfragen nach ihrer Montage- und Sprachkunst – und nach der Mehrsprachigkeit des Romans, den die Autorin zuerst auf Englisch geschrieben hatte, mit einem Ende, das über das Ende in der deutschen Fassung, in die sie sich selbst rückübersetzte, hinausreicht. Auch mit Schwitters geht es weiter. Es ist der zweite Band einer Trilogie über „Flucht und Vertreibung“, die Ulrike 2014 mit dem Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" begonnen und mit einem Mutterroman fortzusetzen unternommen hat.
Am Ende gab es viel virtuellen Applaus: Daumen hoch, Reaktionen im online-Chat. Und den Hinweis eines Zuhörers: Man kann einer solchen Lesung auf dem Bildschirm durchaus auf dem Sofa folgen, etwa mit Schokolade, der Schwitters nicht widerstehen konnte, oder mit einem passenden Feierabendgetränk.
Die nächste Lesung Studio Literatur online findet mit dem Schriftsteller und Schauspieler Steffen Schroeder am 30.11.2020 statt.
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