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Der 63-jährige ehemalige Journalist Tajani konnte sich erst in einer Stichwahl gegen den Sozialdemokraten Gianni Pittella durchsetzen. Wieso waren insgesamt vier Wahlgänge nötig bis ein Sieger feststand?
Die Tatsache, dass es insgesamt vier Wahlgänge bedurfte, um Antonio Tajani zum Präsidenten zu wählen, ist auf die zunächst fehlende Mehrheit zurückzuführen, die nach der Aufkündigung des Bündnisses mit der EVP durch die Sozialisten die Suche nach neuen Allianzen und Partnern notwendig machte. Mit 217 Stimmen stellt die EVP-Fraktion die stärkste Gruppe im Europäischen Parlament. Diese Stimmen reichten jedoch nicht aus, um die in den ersten drei Wahlgängen erforderliche absolute Mehrheit der 751 Mandate zu erreichen. Erst kurz vor dem Wahltag gelang es dem Fraktionsvorsitzenden der EVP, Manfred Weber, mit der liberalen Fraktion ALDE (68 Sitze) ein bereits in der Vergangenheit bestandenes Bündnis zu erneuern, das jedoch auch noch nicht die erforderliche Mehrheit garantierte. Während der erfolglos verlaufenen ersten drei Wahlgänge setzte somit über den ganzen Wahltag hinweg eine intensive Pendeldiplomatie ein, die im Ergebnis dazu führte, dass sich auch die Fraktion der Konservativen und Reformer (ECR) dazu entschied, für Tajani zu stimmen. Damit stand die für den vierten und letzten Wahlgang nötige einfache Mehrheit mit 351 Stimmen für Tajani und 282 Stimmen für dessen sozialistischen Landsmann Pitella. Rückblickend ein durchaus spannender und aufregender Wahltag, den es in der Geschichte des Europäischen Parlaments in dieser Form erst einmal gab. Im Jahre 1979 bedurfte es bei der Wahl des Niederländers Piet Dankers (PvdA) ebenfalls eines ganzen Tages.
Antonio Tajani bringt langjährige Erfahrung im Europäischen Parlament mit, u.a. als EU-Kommissar und als Vizepräsident des Parlaments. Wie wird sein Kurs für die kommenden zwei Jahre aussehen?
Es ist sicherlich verfrüht, von einer ausdefinierten politischen Agenda zu sprechen, zumal die Herausforderungen für Europa auf der Hand liegen. Er übernimmt das Amt des Präsidenten zu einem Zeitpunkt, wo Europa und seine Institutionen die Bürgerinnen und Bürger wieder überzeugen müssen. Mit Sicherheit wird es jedoch eine Akzentverschiebung vom Präsidenten hin zu den Fraktionen geben, deren politische Rolle zukünftig stärker sein wird. Ähnlich wie es EVP-Fraktionschef Weber formulierte: „Politik wird in der Zukunft von den Fraktionen gemacht.“ Das genannte EVP-ALDE-Abkommen steckt diesbezüglich auch einige Orientierungspflöcke in den politischen Boden: So soll unter anderem eine Reform der Eurozone auf der Grundlage des letzten Fünf-Präsidentenberichts erfolgen. Auch Sanktionen gegen Regierungen, die den Rechtsstaat verletzen, werden gefordert. Zugleich soll die Agenda des Pariser Klimaschutzabkommens weiter verfolgt werden.
Worin unterscheidet sich der Politiker Antonio Tajani von seinem Vorgänger Martin Schulz?
Der größte Unterschied dürfte wohl in der Perspektive liegen, mit der Schulz sein Amt wahrgenommen hat und Tajani es prägen wird. Martin Schulz galt als ein sehr extrovertierter Präsident, der dem Parlament eine starke Rolle in der internationalen Politik geben wollte. Tajani wird hier sicher andere Schwerpunkte legen, wie er es bereits angedeutet hatte. „Ich will Präsident sein, nicht Premier“, so eine der Aussagen Tajanis nach seiner Wahl. Dies deutet bereits darauf hin, dass er vorrangig das Parlament und damit die Rolle der Fraktionen und Parlamentarier in den Mittelpunkt stellen wird.
In den kommenden Tagen werden weitere Spitzenposten neu besetzt, darunter die Vize-Präsidenten des Parlaments sowie die Vorsitzenden der Ausschüsse. Wie werden diese Posten nach dem Bruch zwischen der Konservativen EVP und den Sozialisten vermutlich verteilt?
Es ist zu erwarten, dass aufgrund der Übereinkunft zwischen EVP und ALDE die Liberalen auch bei der Vergabe der Vize-Präsidenten besonders bedacht werden. Darüber hinaus wurde ihnen bereits der Vorsitz der recht einflussreichen Konferenz der Ausschussvorsitzenden zugesprochen. Die Sozialisten werden sicherlich entsprechend ihrer Größe bedacht werden, aber keine übermäßigen Wohltaten erwarten dürfen. Aber über die Postenvergabe hinaus ist das wichtige und eindeutige Signal dieser Wahl doch das, dass Europa gewonnen hat, weil mehrheitlich pro-europäische Kräfte Handlungsfähigkeit bewiesen haben.
Dr. Hardy Ostry ist Leiter des Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel. Der Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung der KAS (JONA) studierte Katholische Theologie, Germanistik und Politikwissenschaften in Trier und Jerusalem. Zuletzt leitete Ostry das Auslandsbüro der Stiftung in Tunis.