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Country reports

Wahl ‘21: In Kanada nichts Neues – oder doch?

Es war die „sinnloseste“ Wahl in der Geschichte Kanadas, so sehen es seine politischen Gegner. Premierminister Justin Trudeau hat sein erklärtes politisches Ziel dieses Urnengangs, die absolute Mandatsmehrheit im Unterhaus – nicht erreicht, bleibt aber als Führer der nach wie vor stärksten politischen Kraft für eine weitere, seine dritte Legislaturperiode im Amt. Über 600 Millionen kanadische Dollar hat die Steuerzahler dieses politische Abenteuer ihres Regierungschefs gekostet – für ein neues Parlament in fast unveränderter Zusammensetzung. Seine politischen Probleme bleiben Trudeau daher erhalten – aber die seiner politischen Gegner sind nach der Wahl noch deutlich größer geworden. Beobachter deuten aber auch auf das Gute des Ergebnisses: Die Wählerschaft hat der Machtlust des Premiers einen Riegel vorgeschoben. Die in sich gespaltenen oppositionellen Konservativen müssen ein paar Jahre nachsitzen, um wieder mehr Gespür für die Mehrheit der Kanadier und ihre Anliegen an die Politik zu bekommen. Die Grünen bleiben zurecht bedeutungslos. Und für Populisten sind die Tore des Unterhauses weiterhin verschlossen.

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Wahlergebnisse

Mandate (Regierungsmehrheit: 170 Sitze)
  Sitze Stimmenanteil
Liberal Party of Canada 159 32,6 %
Conservative Party of Canada 119 33,7 %
Bloc Québécois 33 7,7 %
New Democratic Party 25 17,8 %
Green Party of Canada 2 2,3 %
People's Party 0 5,0 %
Sonstige 0 0,9 %

 

Was bedeuten die Resultate für die jeweiligen Parteien?

Liberale

Keine Frage: Diese Unterhauswahl wird nicht zu einem Ruhmesblatt in der politischen Biografie Justin Trudeaus werden. Er ist mit einer der in absoluten Zahlen geringsten Zustimmungsraten aller Premierminister der kanadischen Geschichte wieder in sein Amt gekommen. Es ist jetzt, nach der Wahl, noch sehr viel weniger nachvollziehbar, was Trudeau dazu bewogen hat, die Generalgouverneurin Mary Simon im August um die Parlamentsauflösung zu bitten. Nicht nur, dass das neue nominelle Staatsoberhaupt viel öffentliche Kritik dafür einstecken musste, dass sie dem Wunsch des Regierungschefs schnell folgte; auch hätte Justin von seinem Vater Pierre lernen können, dass Minderheitsregierungen in Kanada etwas sind, was der gewiefte Politiker beherrschen können muss. Der legendäre, ältere Trudeau regierte zwei von insgesamt 16 Jahren seiner Amtszeit als Premierminister ebenfalls ohne Mehrheit im Unterhaus.

Im Verhältnis zu dem politischen Preis, den der liberale Parteichef dafür bezahlen musste, wirken die beiden hinzugewonnenen Mandate seiner Partei wie ein magerer Lohn. Auf dem Weg dorthin verlor der Premier, der sich, um bei der weiblichen Wählerschaft gut anzukommen, stets als Feminist bezeichnet, gleich drei seiner Ministerinnen, die in ihren Wahlkreisen den jeweils konservativen Herausforderern unterlagen und eine populäre vierte, die erst gar nicht mehr zur Wahl antrat und schon im Sommer ihren Rückzug aus der Politik bekanntgegeben hatte. Allerdings müsste Trudeau auf nationaler Ebene das bei weitem größte Personalreservoir haben, um solche Verluste als auch diejenigen Kabinettsmitglieder zu ersetzen, die zwar wiedergewählt wurden, aber politisch nicht mehr tragbar sein dürften; dazu zählen u.a. Verteidigungsminister Sajjan und Gesundheitsministerin Hajdu. Es dürfte aber einige Mühe kosten, das nach ethnischer Diversität, Gender und regionaler Herkunft sorgsam austarierte Kabinett wieder in das von den Liberalen gewünschte, politisch korrekte Gleichgewicht zu bringen.

 

Konservative (CPC)

Wenn es Verlierer dieser Unterhauswahl gibt, muss man den Chef der Conservative Party of Canada und Oppositionsführer im Parlament, Erin O’Toole, zwingend dieser Gruppe zuordnen. Dafür ist nicht nur das enttäuschende Wahlergebnis verantwortlich, das nach Mandaten noch unter dem schon bescheidenen Resultat von 2019 liegt. O’Toole hat zu spät in der Kampagne zu viele Kurswechsel vorgenommen, die das konservative Schiff nicht unbedingt schneller vorwärtsgebracht, sondern eher vom Kurs abgetrieben haben und gegen Ende auch vermeidbare, amateurhafte Fehler begangen, die seine Urteilsfähigkeit zweifelhaft haben wirken lassen: Sein Bekenntnis zur letztlich verfehlten Corona-Politik des unglücklichen Provinzpremierministers von Alberta, Jason Kenney, ist nur ein Beispiel. Auch hat er seine Fähigkeiten überschätzt, seiner im Kern von einer starken Gruppe einiger zehntausend sozialkonservativer Mitglieder beherrschten Partei einen Modernisierungskurs zu verpassen. Dies ließ sich insbesondere in der Klimapolitik beobachten. Die Stammwählerschaft ließ sich das nicht bieten, und so verlor die CPC im bisher rein „blauen“ (die Parteifarbe) Alberta überraschend Wahlkreise, was sich gefühlt auch nicht durch die im liberalen Stammland Ontario gewonnenen Mandate ausgleichen ließ. Besonders bitter dürfte für O’Toole die vergleichsweise hohe Zahl von Wahlkreisen („Ridings“) sein – ca. 30 -, die die Konservativen mit teils nur wenigen hundert und bis zu weniger als 2.000 Stimmen verloren haben bzw. nicht gewinnen konnten. Hier lag und liegt das Potenzial für die Partei, künftig doch wieder an die Regierung zu gelangen, wo man zuletzt 2015 war und jetzt wohl noch länger nicht wieder hingelangt. Und wenn, dann ist fraglich, wer dann an der Parteispitze steht. 2019 musste der damalige Parteichef Andrew Scheer nach einem leicht besseren Wahlergebnis seinen Posten auf Druck der Basis räumen. Und schon am Tag nach der Wahl starteten unzufriedene Mitglieder konservativer Parteigremien eine Online-Petition mit dem Ziel der Ablösung O’Tooles. Dieser hat eine umfassende Untersuchung der Gründe für das schlechte Wahlergebnis angekündigt, wird aber wohl selbst am besten wissen, dass sein politisches Überleben innerhalb der nächsten sechs bis neun Monate derzeit alles andere als gesichert ist.  Ob ein Nachfolger alles besser machen kann, erscheint aus heutiger Sicht zweifelhaft. So ist der Vorstoß des amtierenden Vorsitzenden O'Toole, die Partei vielfältiger zu machen, gescheitert. Nur sieben der konservativen Kandidaten, die in 119 Wahlkreisen im ganzen Land an der Spitze stehen oder gewählt wurden, sind Schwarze, Indigene oder Farbige - ein Anteil, der jetzt noch geringer ist als vor der Wahl, da einige etablierte konservative Abgeordnete ihre Sitze verloren haben. Eine Analyse der vorläufigen Ergebnisse durch die Medien zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten, die die neue konservative Fraktion bilden - fast 95 Prozent - weiß sind, obwohl sich die ethnische Struktur des Landes immer mehr diversifiziert. Vor dieser Wahl waren neun Prozent der Tory-Abgeordneten nicht weiß. Klar ist auch, dass die grundlegenden Richtungskämpfe anhalten werden. Bei Veranstaltungen des wertkonservativen Flügels der CPC wurde schon zwei Tage nach der Wahl eine Stärkung bzw. Rückkehr der Partei zu libertären Positionen gefordert.

 

Bloc Québécois

Die Regionalpartei der französischsprachigen Provinz Quebec hat ihre Position als drittstärkste Fraktion im Unterhaus von Ottawa verteidigen und immerhin einen Sitz dazugewinnen können. Das sagt nicht unbedingt etwas über ihre Popularität aus. Zwar vertritt sie konsequent die nationalistischen Quebecker, aber nicht alle Quebecker sind nationalistisch und unterstützen den streng laizistischen, auf kulturelle Unabhängigkeit bedachten Kurs des „Bloc“ unter Führung von Parteichef Yves-François Blanchet. Dass es vor ein paar Jahrzehnten noch eine bewaffnete Unabhängigkeitsbewegung in dieser Provinz gab, ist heute kaum noch nachvollziehbar, und nicht umsonst beklagen die führenden nationalistischen Vertreter in Politik und Medien Quebecs, noch nie habe die Situation ihrer Provinz so stark für die Unabhängigkeit gesprochen und gleichzeitig sei die entsprechende Bewegung noch nie so schwach gewesen. Umso mehr wird der „Bloc“ auch im neuen Parlament peinlich genau darauf achten, dass der Sonderweg Quebecs in vielen Politikbereichen und sein Streben, als eigenständige „Nation“ innerhalb Kanadas zu existieren, nicht angetastet werden.

 

Neue Demokraten (NDP)

Auch bei den linken Sozialdemokraten machte sich am Wahlabend Ernüchterung breit. Gehofft hatte man darauf, die Marke von 30 Abgeordnetenmandaten zu erreichen – und landete bei gerade einmal 25, ein Zugewinn von nur einem Sitz. Dass dies vielen Parteimitgliedern besonders mit Blick auf die im Verhältnis zur Größe der NDP enormen Wahlkampfkosten (die kanadische Medien berichten von 25 Millionen kanadischen Dollar) unverhältnismäßig erschien, leuchtet ein. Und wie auch bei den Konservativen, wird jetzt ebenso bei der NDP wenn auch nur von einzelnen Stimmen, die Parteiführung durch den indisch stämmigen Rechtsanwalt Jagmeet Singh in Frage gestellt. Der in beiden Amtssprachen Kanadas stets druckreif sprechende Singh sitzt der Partei seit 2017 vor. Die NDP wiederum hat seit 2015 knapp drei Viertel ihrer damaligen Mandate verloren und ist von der ehemals offiziellen Opposition zur Randpartei geworden. Singh hat diese Entwicklung nicht nur nicht aufhalten können, sondern auch den zweiten Teil des Verlustes bei den Wahlen 2019 als Parteivorsitzender mit zu verantworten. Dieser Makel steht im Gegensatz zu seinen durchaus beachtlichen Popularitätswerten und seinem Ansehen vor allem bei der jüngeren Bevölkerung, die offenbar sein konsequentes Eintreten für eine wirksamere Sozialpolitik und die sozial Benachteiligten bewundert, was sich allerdings nicht in Wahlstimmen zeigt. Erschwerend hinzu kommt, dass gerade die NDP Opfer taktischen Wählens wird, denn in umkämpften Einer-Wahlkreisen wird die eine verfügbare Stimme von vielen sehr wahrscheinlich eher einem anderen, aussichtsreicheren Kandidaten (meist von den Liberalen) gegeben als dem eigentlich präferierten, letztendlich aber chancenlosen NDP-Vertreter. Umgekehrt findet dieser Stimmenaustausch nur bedingt statt. Singh und den Seinen wird auch in den kommenden Jahren nur die Rolle des gelegentlichen Mehrheitsbeschaffers für die regierenden Liberalen bleiben, zu denen man insgesamt ein unter anderem auch aus dieser untergeordneten Rolle herrührendes, gespanntes Verhältnis hat.

 

Grüne

Das Wahlergebnis der Grünen und seine Hintergründe haben tragische Züge. Nach einem für ihren Ruf als wählbare politische Kraft desaströsen, internen Machtkampf im Frühsommer gewannen sie mit Glück zwei der 338 Mandate. Kanada mit seinen zahlreichen, die Energie- und Klimapolitik betreffenden Problemen dürfte das Alleinstellungsmerkmal unter den westlichen Ländern haben, dass die grüne Partei noch immer bedeutungslos ist, auch wenn das Mehrheitswahlrecht seinen Teil dazu beiträgt. Die Partei muss aufpassen, dass ihr jetzt nicht auch noch die Umweltkompetenz abgesprochen und sie nur als reine Protestpartei wahrgenommen wird. Von allen nationalen Parteivorsitzenden ist die Grünen-Chefin Annamie Paul diejenige mit der größten Jobunsicherheit. Nicht nur scheiterte die Juristin erneut beim Versuch, endlich ein eigenes, ihr erstes Parlamentsmandat zu gewinnen; sie selbst sah sich im Wahlkampf aufgrund der internen Querelen des Frühjahrs auch selbst als eine Belastung für die Kandidatinnen und Kandidaten der Partei, die es nicht in allen 338 Wahlkreisen gab. Selbst hervorgegangen aus einem bizarr anmutenden Kandidaten-Casting mit zum Teil skurrilen Mitbewerberinnen und –bewerbern, mutete die schwarze Jüdin Paul gelegentlich als zu schlau für ihre Partei an, aber nicht schlau genug, um erfolgreich die Spannungen zwischen den Flügeln und die gegen sie gerichteten Intrigen früh genug zu erkennen und abzuwehren. Der Führungswechsel bei der Partei ist jedenfalls für jedermann sichtbar misslungen. Wie die Partei darauf reagieren wird, bleibt abzuwarten. Eine maßgebende Rolle wird sie auch in der beginnenden Legislaturperiode nicht spielen.

 

Volkspartei (PPC)

Nicht mehr als eine Protestpartei dürfte schon jetzt die rechte „People’s Party of Canada“ sein, die zwar über sechs Prozent der Stimmen, aber kein Mandat erhielt. Kanada bleibt von einer populistischen Kraft im Parlament verschont. Das bedeutet einerseits, dass die Wählerschaft trotz aller Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment (noch) keinen Bedarf für eine „Alternative für Kanada“ sieht. Andererseits sollte nicht unterschätzt werden, dass Maxime Bernier, der marktschreierisch auftretende Parteichef, in einem früheren Leben einmal, wenn auch nur kurz, Außenminister im Kabinett von Premierminister Stephen Harper war und 2017 die Wahl zum Parteivorsitzenden der CPC nur äußerst knapp gegen Andrew Scheer verlor, bevor er die Konservativen verließ und die PPC begründete. Seitdem konnte er zwar kein Mandat mehr für sich erringen, und er bleibt ein politischer Außenseiter, aber einer mit einer noch immer zahlreichen Anhängerschaft in der Konservativen Partei. Schon jetzt ist klar, dass in einigen Wahlkreisen die PPC-Kandidaten mit ihren Stimmen den konservativen Mitbewerbern den Einzug ins Parlament verbaut haben – eine der schwierigsten Herausforderungen für die CPC.

 

Ein anderes Kanada mit Verhältniswahlrecht?

Immer wieder einmal wird in Kanada die Frage nach einer Wahlrechtsreform aufgeworfen. Das hatte schon Justin Trudeau im Wahlkampf 2015, der ihn an die Macht brachte, getan. Einmal im Amt, vermied er das Thema allerdings sorgsam, um die politische Klasse nicht in unnötige Unruhe zu stürzen. Zu viele Pfründe wären bedroht, selbst wenn man die politische Bedeutungslosigkeit der für unterlegene Wahlkreisbewerber abgegebenen Stimmen dagegenhält. Ein nationaler Fernsehsender errechnete am Tag nach der Wahl, wie die Parlamentszusammensetzung bei Mehrheits- und bei Verhältniswahlrecht ausgesehen hätte:

 

Sitze 2021 im Unterhaus Kanadas bei Mehrheitswahlrecht Verhältniswahlrecht
Liberale 159 109
Konservative 119 109

Bloc Québécois

33 24
NDP 25 65
Grüne 2 11
PPC 0 21

 

Es ist bezeichnend, dass neben Wahlforschern und Politikwissenschaftlern, die die Forderung nach einer Wahlrechtsreform regelmäßig erheben, nach dieser Unterhauswahl ausgerechnet Vertreter des traditionsbewussten Flügels der Konservativen Gedankenspiele über das Verhältniswahlrecht begonnen haben. Zu schwer wiegt die Erkenntnis, dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen grundlegende politische Veränderungen nicht möglich sind. Das Verhältniswahlrecht ist bereits in mehreren Provinzen per Bürgerentscheid abgelehnt worden. Aber wenn Justin Trudeau in 18 bis 24 Monaten erneut zu den Urnen ruft, wovon viele politische Beobachter ausgehen, könnte der Wunsch nach Veränderung eines Wahlsystems, das keine klaren Mehrheiten hervorbringt und wo Koalitionen nicht zum politischen Alltag gehören, möglicherweise breiteren Zuspruch gewinnen.

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Dr. Bernd Althusmann

Dr. Bernd Althusmann

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September 15, 2021
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