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Innovation und Fortschritt durch Bionik

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Wenn es um technischen Fortschritt geht, sind wir geneigt, den Blick automatisch nach vorn zu richten: auf das Neue, Unbekannte und bislang Unentdeckte. Wer käme schon auf die Idee, Innovationen im Rückblick auf 3,7 Milliarden Jahre Erdgeschichte zu suchen? Für Fortschritt „made by nature“ steht die Evolution, der Zeitraum, in dem sich unsere Spezies Schritt für Schritt vom gekrümmten Primaten über den Neandertaler zum Homo sapiens aufgerichtet hat. Aber was hat die Evolution mit Technik zu tun? An diesem Punkt setzt die Bionik, das Zusammendenken und -wirken von Biologie und Technik, an.

Mit dieser Disziplin assoziieren viele die „Blockbuster“ der Bionik, allen voran den Klettverschluss und den Lotuseffekt. Doch die Bionik ist vielfältiger und vor allem alles andere als eine „Blümchenwissenschaft“. Sie ist heute der „Think-Tank“ der Hightech-Forschung.

Deutschland zählt zur Weltspitze in der Bionik, deren Bedeutung für die Wirtschaft weiter steigen wird. Ein Grund für diese optimistische Prognose ist, dass die Bionik die Naturbeobachtung und die Ableitung natürlicher Phänomene und Prozesse im Zeitalter der Digitalisierung mit umfangreichen Datenanalysen verknüpft und mithilfe von allen erdenklichen Algorithmen die gesamte Innovationsklaviatur spielt. Wo sich etwa die Natur für die Optimierung der Knochenstatik Millionen Jahre Zeit genommen hat, verkürzt heute der Rechner mit bionischen „Evolutions- und Optimierungsprogrammen“ den technischen Reifeprozess auf kürzeste Zeiträume. Bionik kann dadurch maßgeblich zum Fortschritt, etwa beim Leichtbau in der Automobil- oder Luftfahrtindustrie, beitragen.

Natur setzt Benchmarks

Der Rückblick auf 3,7 Milliarden Jahre Evolutionsoptimierungserfahrung lohnt sich, denn die Natur hat durch ihre Evolutionsgeschichte Benchmarks vorgelegt, an die selbst geniale Highspeed-Tüftler kaum herankommen können. Unternehmen der Schlüsselindustrien setzen deshalb immer häufiger auf die Bionik, um diesen „natürlichen“ evolutionären Vorsprung für ihre eigene technologische Forschung und Entwicklung nutzbar zu machen. Adaptive, sich selbst anpassende Greifsysteme wie der „bionische Handling-Assistent“ weisen beispielsweise der sicheren Mensch-Maschine-Kooperation neue Wege. Oder die Organisationsbionik: Sie kann über das Schwarmverhalten von Ameisen und Fischen wichtige Erkenntnisse über autonomes Fahren oder die Steuerung hochkomplexer logistischer Systeme liefern.

Es liegt in der „Natur“ der Bionik, Problemlösungen über Perspektivwechsel herbeizuführen, dabei immer einen ganzheitlichen Blick einzunehmen und disziplinübergreifend zu arbeiten. Die systematische Übertragung biologischer Problemlösungen und Optimierungsstrategien auf neuartige Produkte und Technologien dient dabei als Ideengeber und Innovationsmotor mit nachhaltigem Nutzen für Technik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Ein Beispiel ist der bereits angesprochene Lotus-Effekt, bei dem die bionische technische Lösung wie beim Vorbild der Pflanze mithilfe mikrostrukturierter Oberflächen bei Wasserbenetzung eine Selbstreinigung in Gang setzt: Rund um diese Innovation – die übrigens zu den zwölf wichtigsten Innovationen aus Deutschland in den letzten fünfzig Jahren zählt und in das international hoch angesehene Buch German stars – 50 innovations everyone should know aufgenommen wurde – gibt es mittlerweile etwa 200 Nebeninnovationen. Es ist kennzeichnend für eine ganze Reihe bionischer Entwicklungen, dass sie nicht in eine einzige Produktlinie münden, sondern in ein breit gefächertes Produktportfolio, oftmals in unterschiedlichen Branchen.

Denkwerkzeuge der Natur

Einen weiteren eindrucksvollen Beleg für die Innovationskraft der Bionik liefert die Nutzung der von Claus Mattheck und seiner Arbeitsgruppe Biomechanik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwickelten Optimierungsprogramme. Die Arbeitsgruppe hat die Prinzipien, wie Bäume sich an verändernde Lastfälle anpassen, früh erkannt und sukzessive auf die Optimierung von Bauteilen hinsichtlich Leichtbau und Dauerfestigkeit übertragen. Es zeigte sich hierbei übrigens auch, dass die Bionik ebenso wie die Natur ein lernendes System ist. Aus anfangs komplizierten Rechenprogrammen entwickelte das Team einfache Denkwerkzeuge, die ein neues Verständnis der Baumlösungen gegen Kerbspannungen, Risse und entsprechende Versagensfälle vollständig ohne Formeln ermöglichen. Komplexität, so die Erkenntnis der Wissenschaftler, lässt sich manchmal auch mit sehr einfachen Mitteln, sprich mit Geodreieck und Zirkel, beherrschen.

In der Biomechanik haben die Innovationen der KIT-Forscher hohe Wellen geschlagen. So ist mittlerweile in nahezu allen wesentlichen Leichtbau-Innovationen in der Automobil- und Luftfahrtindustrie immer auch ein Stück Bionik eingearbeitet.

Aber auch das gehört – leider! – dazu: Nicht überall, wo Bionik drinsteckt, steht auch explizit Bionik drauf. Wenn bei einem Mittelklassewagen ein bionisch optimierter Achsschenkel neue Maßstäbe in punkto Leichtbau und Strukturfestigkeit setzt, wird das Auto trotzdem nicht als bionisches Produkt beworben. Ähnliches trifft auch auf die Produktbeiträge in anderen Bereichen zu: bei Flugzeugflügeln, Klettverschlüssen oder „smarten“ Prothesen. Die Disziplin hat diesbezüglich sicherlich noch Nachholbedarf, wenn sie die Leistungs- und Möglichkeitsbreite für die Entwicklung von Produkt- und Prozessinnovationen und damit für die Zukunftsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland sichtbar machen will.

Interdisziplinäres Denken

Bei der systematischen Integration von in der Natur bewährten Problemlösungen und ihrer Umsetzung in die Technik arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure verschiedener Fachrichtungen seit Langem erfolgreich zusammen. Interdisziplinäres Denken und Handeln, das gerade in Zeiten der Globalisierung, volatiler Märkte und der digitalen Transformation von vielen Unternehmen als Chance begriffen wird, schneller und zuverlässiger innovative Ideen und Entwicklungen in den Markt zu bringen, ist in der Bionik eine von Anfang an gelebte Selbstverständlichkeit. Während andere Bereiche noch ihre Innovationsund Prozessarchitektur planen, ist die Bionik bereits ein Schritt weiter. Ihr Ziel ist es, im Schulterschluss von Wissenschaft und Unternehmen das vorhandene bionische Wissen in zählbaren Nutzen für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zu verwandeln. Dazu haben sich Hochschulen, Forschungsinstitute, Unternehmen und Einzelpersönlichkeiten, die auf dem Gebiet der Bionik arbeiten, in der Forschungsgemeinschaft Bionik-Kompetenznetz BIOKON zusammengeschlossen.

Der gemeinnützige Verein beschäftigt sich in der Bionik mit bio-inspirierten Materialien, die adaptiv oder selbstreparierend sein können. Weitere Themen sind darüber hinaus funktionelle Oberflächen, Antriebsmechanismen für energieeffiziente Lokomotionskonzepte oder autonome bionische Roboter mit hochsensitiven Sensoren, beispielsweise für den Einsatz als Katastrophenfrühwarnsysteme. Aber auch Bereiche wie Architektur – etwa mit Blick auf klimaneutrales Bauen oder neuartige revolutionäre Konstruktionsideen –, Medizintechnik und Neurobionik mit Anwendungen in der Prothetik stehen im Fokus des Interesses der Bionikerinnen und Bioniker. Multifunktionalität und Mehrfachinnovationen liegen hier stets eng beieinander, sodass mit weiteren Entwicklungsschüben zu rechnen ist.

Kontinuierlicher Wissenstransfer

Um den technologischen Wissensvorsprung, den wir am Standort Deutschland (noch) haben, auf Dauer zu halten, ist ein strukturierter und kontinuierlicher Wissenstransfer unerlässlich. Der Innovationstransfer hakt jedoch manchmal an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, wodurch wertvolle Zeit im Rennen um den Innovationsvorsprung verlorenzugehen droht. Das Bioniknetzwerk hat sich, um hier weiter voranzukommen, mit maßgeblicher Unterstützung des Bundesforschungsministeriums, des Bundesumweltministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums als zentrale Anlaufstelle für Informationen und Kontakte zur Bionik positioniert und sich für verschiedene Anwendergruppen als Ansprechpartner auf Augenhöhe etabliert. Damit hat BIOKON die Rolle des „Transmissionsriemens“ für den Transfer bionischer Problemlösungen in die unternehmerische Praxis übernommen.

Bionik „made in Germany“ konnte auch international beispielgebend werden. Die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern wurde in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut. Dabei spielen Länder, zu denen bereits gewachsene Arbeitsbeziehungen bestehen, insbesondere Großbritannien, Frankreich, Österreich, die Niederlande, Belgien, die Schweiz und die Ukraine, eine Schlüsselrolle. Außereuropäische Partner hat das deutsche Bionik-Kompetenznetz vor allem in den USA und in Japan.

Um die Bionik als Innovationsmotor für werthaltige Produkte und Technologien und als eine der großen Zukunftstechnologien zu etablieren, sollten die Akteure künftig noch stärker über nationale Grenzen hinweg kooperieren und das Potenzial der Bionik in praktische Anwendungen überführen. Die Natur hat es schließlich in 3,7 Milliarden Jahren vorgemacht: Zukunft hat, was anpassungsfähig ist, wächst und immer besser wird.

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Rainer Erb, geboren 1966 in Münster, Geschäftsführer der Forschungsgemeinschaft Bionik-Kompetenznetz e. V. BIOKON mit Sitz in Berlin.

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