Der Klimawandel schreitet voran. Auch die pandemiebedingte Verringerung des CO2-Ausstoßes hat an dieser Entwicklung nichts geändert. Es ist daher klar: Die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit werden in den öffentlichen Debatten der kommenden Jahre wieder den Stellenwert einnehmen, den sie verdienen. Wir stehen vor einem Umbau von Industrie und Gesellschaft, der zu Recht als vierte industrielle Revolution beschrieben wird. Wie bei allen anderen grundlegenden Transformationsprozessen werden diese stets mit Untergangs- und Verheißungserzählungen ausgemalt. Richtig ist: Es wird bei diesem Umbau Gewinner und Verlierer geben. Daher ist es wichtig, beim Thema Nachhaltigkeit gleichzeitig ökologische, ökonomische und soziale Aspekte in den Blick zu nehmen. Aber der offene Ausgang solcher Szenarien sollte uns auch die Zuversicht geben, dass wir den notwendigen gesellschaftlichen und industriellen Wandel zum Wohle aller klug gestalten können.
Auf dem langen Weg zu einer nachhaltigen Industrieproduktion wird bisweilen übersehen, welche Strecke wir schon zurückgelegt haben. In den vergangenen dreißig Jahren ist die deutsche Wirtschaftsleistung um fast sechzig Prozent gewachsen, der CO2-Ausstoß hat sich im gleichen Zeitraum um vierzig Prozent verringert. Das Thema Nachhaltigkeit steht in allen strategischen Szenarien und Selbstverpflichtungen von Branchen und Unternehmen ganz oben – Aktionäre, Eigentümer, Investmentbanken, vor allem aber die Mitarbeiter erwarten dies. Daran werden sie in den nächsten Jahren gemessen werden. Ein paar Beispiele: Volkswagen wird bis Ende dieses Jahrzehnts siebzig Prozent seiner Autos als Elektrofahrzeuge verkaufen, BASF wird 250.000 Kubiktonnen recyceltes Material bis 2025 für die Chemieproduktion verwenden und hat gerade bekanntgegeben, bis 2050 zur Gänze klimaneutral sein zu wollen. Die Energieerzeugung von Vattenfall ist „in einer Generation fossilfrei“, die Stahlproduktion von ThyssenKrupp soll bis 2050 klimaneutral werden. Dies geschieht in einem Kontext neuer CO2-Verbrauchsbepreisungen, globaler, europäischer und nationaler Zielvorgaben (Sustainable Development Goals, European Green Deal, Lieferketten-Gesetz et cetera) für Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeits-Rankings sowie Ratings von Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaftsprüfern, die den Anstrengungen eine Richtung geben.
Ökologische und digitale Transformation
Das Konsumverhalten der Gesellschaft wandelt sich, nachhaltig produzierte Waren werden verstärkt nachgefragt, wenn auch ihr Anteil am Gesamtkonsum weiterhin viel zu niedrig ist. Eine größere Lenkungswirkung für den industriellen Umbau verspricht eine voranschreitende Nachhaltigkeitsorientierung von Investoren, Fonds und Banken, die ihre Anlagestrategien zunehmend an ökologischen und gesellschaftlichen Zielen ausrichten. Dazu gibt es eine Welle neuer Start-ups und „Sozialunternehmen“, die mit nachhaltigkeitsgetriebenen Produkten und Dienstleistungen Märkte in Bewegung bringen. In diesem Umfeld steht die Industrie in einem harten internationalen Wettbewerb um innovative und weltweit konkurrenzfähige Lösungen für Kunden und Konsumenten. Es ist gut, dass die neue US-Administration dem Thema Nachhaltigkeit und Klima wieder mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt und sich auch China für eine Veränderung in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit ausspricht.
Über allem steht eine digitale Transformation, die alle gesellschaftlichen und ökonomischen Bereiche erfasst hat und als Teil der nachhaltigen Transformation der Wirtschaft den Boden für die künftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas bereitet. Branchenübergreifend können digitale Ansätze sowohl in der Produktion für Effizienzgewinne sorgen als auch völlig neuartige Geschäftsmodelle ermöglichen (Industrie 4.0). Digitale Infrastrukturen können nicht nur die Effizienz, sondern auch die Transparenz in den Wertschöpfungsketten erhöhen.
Für die Zukunft des deutschen Industriestandorts ist die Verbindung von ökologischer und digitaler Transformation zukunftsweisend (etwa durch Green IT). Gleichzeitig kann die Digitalisierung helfen, Ressourcen zu schonen. Effizienzgewinne in der Produktion, zum Beispiel durch weniger Ausschuss, effektive Steuerungsmechanismen in der Energieversorgung und nicht zuletzt die Substitution physischer durch digitale Prozesse, sind Beispiele dafür. Die Corona-Pandemie hat vor Augen geführt, dass viele Reisen vermeidbar sind, wenn gute digitale Alternativen genutzt werden. Die deutsche Wirtschaft und die deutsche Politik können bei der Förderung und dem Ausbau grüner Zukunftsmärkte eine führende Rolle im internationalen Wettbewerb einnehmen.
Neue Infrastrukturen
Das alles ist noch nicht ausreichend, zeigt jedoch, wie zunehmend ein Rad in das andere greift. Dieses „systemische Ineinandergreifen“ ist das Entscheidende in der nächsten Phase des industriellen und gesellschaftlichen Umbaus. Denn die notwendigen Transformationsprozesse unterscheiden sich von „klassischen“ Innovationsund Veränderungsprozessen dadurch, dass keine Branche, keine Disziplin, keine einzelne Technologie oder Akteursgruppe die künftigen Herausforderungen allein bewältigen kann.
Neue Technologien bleiben für Prozessumstellungen in Unternehmen entscheidend. Diese Transformationsprozesse erfordern Investitionen, von der Forschung und Entwicklung bis zum Aufbau komplett neuer Herstellungsanlagen, und sie benötigen flankierende Rahmenbedingungen sowie finanzielle Unterstützung. Die in der Industrie verbrauchte Energie muss künftig aus regenerativen Quellen stammen. Dazu muss auch CO2-neutral produzierter Wasserstoff als Energieträger einen entscheidenden Beitrag leisten. Er dient künftig ebenfalls zur Defossiliisierung besonders CO2-lastiger Herstellungsverfahren, zum Beispiel in der Stahl- oder Zementproduktion (Green Steel). Die Produktion von Wasserstoff wiederum ist an Infrastrukturen gekoppelt, die Wind- und Sonnenenergien effizient und günstig nutzen, und der Transport erfordert neue Speicherstrukturen. Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung ist ein kluger Schritt, den Weg in die Wasserstoffwirtschaft einzuleiten.
Das Beispiel Wasserstoffwirtschaft zeigt den neuen Charakter der großen Transformationsprozesse: Jenseits neuer Technologien, Produktionsprozesse, Werkstoffe und Geschäftsmodelle müssen Infrastrukturen, Versorgungsund Sicherheitssysteme geschaffen, jedoch auch neue Normierungs- und Datenstandardfragen geklärt werden, die nur in nationaler und internationaler Zusammenarbeit zwischen Marktteilnehmern, staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren gelingen können. Eine Versorgung mit regenerativen Energien benötigt neue Stromtrassen, die in Deutschland noch fehlen und deren Realisierung vor Ort oftmals umstritten ist. Es stellt sich die Frage, ob das Planungsrecht heute noch adäquat für die Herausforderungen von morgen ist. Elektroautos brauchen eine neue Ladeinfrastruktur, die Städte und Gemeinden herausfordert und die sowohl neue technische Lösungen für die lokalen Energienetze benötigt als auch die Frage beantworten muss, wie eine urbane Mobilität in der jeweiligen Stadt in Zukunft aussehen soll. Vernetzte Mobilität braucht ein flächendeckendes 5G-Netz, das in anderen Ländern zurzeit schneller wächst als bei uns. Industrie 4.0 benötigt die europäische Daten-Plattform GAIA-X, um nicht in die Abhängigkeit von asiatischen oder amerikanischen Cloud-Anbietern zu geraten und deren Interpretation von Datenschutz und Datensicherheit folgen zu müssen.
Das alles zeigt: Transformationsprozesse bedürfen einer Neujustierung der Kooperationen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die Governance solcher systemischen Wandlungsprozesse wird zum Schlüssel des Erfolges – nicht nur bei der Klärung der Frage, wer für die notwendigen neuen Infra- und Sicherheitsstrukturen (Stichwort: Resilienz) Verantwortung trägt, die Finanzierung und den Aufbau gestaltet, sondern auch bei den gesellschaftlichen Entscheidungen darüber, welche Strukturen wir überhaupt wollen. In diesem neuen Miteinander wird es die Kunst sein, eine ausgewogene Balance zu finden zwischen innovativen Kräften des Marktes, politischen (Ziel-)Vorgaben, einer klugen Regulierung, die den Umbau erleichtert, einer staatlichen Verwaltung, die Innovationen agil befördert, und gesellschaftlichen Vereinbarungen („contrat social et écologique“) über das Notwendige und Gewollte.
Entwicklung konsensfähiger Zukunftsbilder
Ein Transformationsprozess, der gleichzeitig Innovationsprozess und die Resilienz fördernder Prozess ist, bietet eine große Chance für die beteiligten Wirtschaftsnationen, insbesondere für Deutschland. Dies ist umso wichtiger, als eine Verzichtsdebatte gesellschaftlich nicht tragfähig sein wird. Die großen Innovationsund Wertschöpfungspotenziale liegen im Hightechland Deutschland in nachhaltigkeitsorientierten technologischen Innovationen und sogenannten „Cross-Technologien“, die auf viele Branchen anwendbar und digital miteinander vernetzt sind. So wird die zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit zum Treiber von Produkt- und Prozessinnovationen sowie Smart Services werden, etwa im Bereich der Kreislaufwirtschaft oder der Sharing Economy. Um Wertschöpfung und Wohlstand in Deutschland und Europa zukunftsfähig abzusichern, muss die Wirtschaft bestmöglich auf zirkuläre Geschäftsmodelle und auf mit Produkten verknüpfte Dienstleistungsmodelle umgestellt werden. Einerseits werden so Ressourcen geschont, andererseits werden Anwendungen für Kundinnen und Kunden optimiert; dafür gilt es, regulatorische Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch das Einpreisen von Externalitäten, so anzupassen, dass Circular Economy-Ansätze wirtschaftlich konkurrenzfähig sind.
Für die Politik sollte gelten: Handlungsanstöße – neudeutsch „Nudging“ – und Anreize sind besser als kleinteilige Regulierung. Die Politik sollte Planungssicherheit zusichern, langfristige Zielhorizonte definieren und eine Innovations- und Pfadoffenheit für Technologien und Versorgungsstrukturen gewährleisten. Wir werden auch mehr Experimentierräume benötigen, in denen zunächst die Möglichkeiten neuer Technologien ausprobiert und erst mit und nach diesen Erfahrungen eventuell notwendige neue regulatorische Prinzipien angepasst werden. Vor allem aber benötigen wir funktionierende Verwaltungsstrukturen, die sich als „Ermöglichungsagenturen“ verstehen und sich nicht in dauerhaften Entschleunigungsschleifen durch eine überbordende Regulierung verzetteln. Für die Wirtschaft gilt: Wir benötigen deutlich mehr gesellschaftliche Partizipation beim technologischen Umbau; gemeinsam müssen wir neben Technologien Narrative und gemeinsame Zukunftsbilder entwickeln, die konsensfähig sind und die sich an den Bedarfen der Menschen orientieren.
Wettbewerb für mehr Innovation
Eine an solchen Leitlinien orientierte Transformationspolitik ist anschlussfähig an die Missionsorientierung in der deutschen Hightech-Strategie und im Innovationsprogramm „Horizont Europa“. Daher erscheint es notwendig, das Hightech-Forum der Bundesregierung in der nächsten Legislaturperiode zu einem Transformationsforum weiterzuentwickeln. Die beschriebenen systemischen und Governance-Herausforderungen für unterschiedliche Transformationsfelder könnten hier adressiert und konturiert werden. Es sollte dort auch über neue innovations- und bedarfsorientierte Mechanismen staatlicher Forschungsförderung im Sinne offenerer Lösungswege und Innovationskulturen beraten werden.
Einen Fingerzeig dazu gibt das aktuelle Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI): Gegenüber einer A-priori-Festlegung auf eine bestimmte Problemlösung, wie etwa „batteriebetriebene Fahrzeuge“, setzt das Gutachten auf eine offene Beschreibung von Missionen und Förderzielen, wie etwa „nicht fossile Antriebstechnologien“, und die kreativen Kräfte der Marktakteure, da diese unterschiedliche Wege zur Erreichung des Ziels einschlagen können. Erfahrungsgemäß erhöht Wettbewerb die Innovationsfähigkeit. Eine Förderung von Problemlösungsalternativen in der vormarktlichen Phase, das heißt bis hin zum Erkenntnis- und Technologietransfer, stellt keinen massiven Eingriff in die Marktdynamik dar. Die privatwirtschaftlichen Akteure entscheiden selbst, ob und inwieweit sie bestimmte Innovationsmöglichkeiten nutzen wollen. Sind direkte Markteingriffe nicht vermeidbar, sollten sie einen katalytischen Charakter haben, also nur eine Anstoßwirkung entfalten und dann wieder zurückgenommen werden. Dies gilt etwa bei der Förderung junger Technologien, bei der Überwindung von Lock-ins in alten Technologien oder für den Aufbau neuer Infrastrukturen, beispielsweise von Betankungssystemen für innovative Mobilitätsformen.
Transformationspolitik ist aber nicht nur Innovationspolitik. Wichtig ist eine Sozialpolitik, die den ökologischen Umbau und den digitalen Wandel begleitet. Und wir brauchen eine Bildungspolitik, die auf Transformationsprozesse vorbereitet, nicht nur durch die Vermittlung neuer Kompetenzen und Inhalte, die in den klassischen Curricula von Schulen und Hochschulen und in der Berufsbildung noch zu wenig Raum finden: Künstliche Intelligenz, Datenkompetenzen, systemisches Denken, Erfahrungen von Selbstund Gruppenwirksamkeiten (Transformational Literacy, Entrepreneurial Skills) – und vieles mehr.
Ist das machbar? Unser Land hat die Kraft und die Ressourcen dafür. Aber die „Points of no Return“ im Klimawandel rücken näher. Je schneller wir voranschreiten, desto weniger steil ist der Berg.
Andreas Barner, geboren 1953 in Freiburg im Breisgau, seit 2013 Präsident des Stifterverbandes, Essen, seit Juli 2016 Mitglied des Gesellschafterausschusses der Boehringer Ingelheim GmbH.
Volker Meyer-Guckel, geboren 1960 in Twistringen, stellvertretender Generalsekretär und Mitglied der Geschäftsleitung des Stifterverbandes, dort Leiter des Bereichs „Programm und Förderung“.