Asset Publisher

Ausstieg aus der Abwärtsspirale

Für einen Sozialstaat, in dem sich Leistung wieder lohnt

Asset Publisher

Jeder Mensch hat Vorbilder im Leben. Zu meinen gehört seit Studienzeiten Ludwig Erhard. Der Mann mit der Zigarre, der Vater der Sozialen Marktwirtschaft, der die Prinzipien dieser Lehre gegen erhebliche Widerstände umsetzte und damit die Grundlage für Wohlstand schuf. Von diesem Mann sind viele beeindruckende Zitate überliefert. Eins davon lautet: „Nichts ist in der Regel unsozialer als der sogenannte ‚Wohlfahrtsstaat‘, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.“

Dieses Zitat kam mir vor rund acht Jahren in einem Gespräch mit dem ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf in den Sinn. Kurt Biedenkopf kannte Ludwig Erhard noch persönlich, und er berichtete etwas von seiner letzten Begegnung mit ihm, das mich nicht mehr losließ: Ludwig Erhard hatte ihm anvertraut, dass sich seine große Erwartung, dass Menschen mit zunehmendem Wohlstand ihr Leben eigenverantwortlich gestalten, nicht erfüllt habe. In diesem Punkt erachtete er die Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft sogar als gescheitert.

Bereits damals war etwas ins Rutschen geraten. Aber wenn Ludwig Erhard heute noch leben würde, wäre er vermutlich entsetzt, denn das Rutschen setzte sich fort. Der Wohlfahrtsstaat ist so weit ausgeufert, dass Leistung und Eigenverantwortung kaum noch eine Rolle spielen. Im Gegenteil: Diejenigen, die etwas leisten und fleißig sind, fühlen sich immer öfter als die Dummen. Und wer als Arbeitgeber und Unternehmer nicht schaut, wie und wo er Subventionen abgreifen kann, ist schnell weg vom Fenster. Kurzum: Es läuft etwas mächtig schief in unserem Land.

 

Wohlstand muss immer wieder neu erarbeitet werden

So sinkt die Arbeitsproduktivität, dafür steigen die Kosten für das Bürgergeld auf Rekordniveau. Und das, obwohl fast zwei Millionen Stellen unbesetzt sind und fast alle Branchen händeringend Arbeitskräfte suchen. Tatsache ist auch: In bisher nie gekannter Größe fließt Kapital aus Deutschland ab, während die Investitionen aus dem Ausland einbrechen. Zudem leiden Arbeitnehmer seit Jahren unter Reallohnverlusten – auch durch die Inflation.

Keiner dieser Befunde schmerzt mich allerdings so sehr wie die beiden folgenden Ergebnisse aus Umfragen: Beinahe jeder zweite Deutsche glaubt, dass es ihm in zehn Jahren schlechter gehen wird als heute. Und zum ersten Mal überhaupt glaubt die Mehrheit nicht mehr daran, dass Deutschland in zehn Jahren noch zu den führenden Wirtschaftsnationen zählen wird. Die Menschen spüren: Unser Wohlstand hat keinen Bestandsschutz. Er muss immer wieder neu erarbeitet werden.

Um aus der aktuellen Abwärts- und Abhängigkeitsspirale herauszukommen, sehe ich nur einen Weg: Eigenverantwortung als Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft muss wieder stärker gelebt werden. Und damit muss auch das Thema „Leistung“ wieder einen zentralen Stellenwert in Politik und Gesellschaft einnehmen. Wenn auch künftig die Legitimität des Sozialstaats aufrechterhalten bleiben und unser Wohlstand nicht vor die Hunde gehen soll, muss dringend und schnell gegengesteuert werden.

Im Rahmen der Erarbeitung unseres neuen Grundsatzprogramms „In Freiheit leben. Deutschland sicher in die Zukunft führen“ haben wir uns genau diesem Themenkomplex gewidmet. Wir bekennen uns nicht nur klar zu den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, sondern verdeutlichen auch, wie wir uns das Verhältnis zwischen Mensch und Staat vorstellen. Und zwar so, wie es Ludwig Erhard in seinem Buch Wohlstand für Alle definiert hat: „[Ich] will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“ Ganz konkret leiten wir daraus folgende Vorschläge ab.

 

Neue Grundsicherung: Fördern und Fordern

Wichtig ist zunächst, den Unterschied zwischen guter und schlechter Sozialpolitik zu erkennen. Eine Sozialpolitik ist gut, wenn sich jeder Mensch darauf verlassen kann, dass ihm im Ernstfall geholfen wird. Sie ist gut, wenn sich jeder Einzelne mit seinen Talenten und Fähigkeiten einbringen kann. Sie ist gut, wenn sie eine Gesellschaft stark und widerstandsfähig macht.

Eine Sozialpolitik ist schlecht, wenn sie sich darauf beschränkt, lediglich zu alimentieren, und damit Menschen lähmt. Sie ist schlecht, wenn sie die Fleißigen frustriert und damit die Bereitschaft zur Solidarität schwächt. Sie ist schlecht, wenn sie unter dem Strich ineffizient und teuer ist. Den Effekt einer solchen Politik müssen wir leider derzeit mit dem Bürgergeld beobachten. Allein der Name „Bürgergeld“ ist irreführend. Er suggeriert, dass diese Leistung jedem bedingungslos zusteht. Und zwar völlig unabhängig davon, ob jemand arbeitsfähig ist oder nicht, ob jemand arbeiten will oder nicht oder ob jemand Arbeitsangeboten offen begegnet oder nicht.

Mit anderen Worten: Das Bürgergeld setzt falsche Anreize, denn es ermutigt nicht konsequent und nachdrücklich zur Arbeitsaufnahme. Deshalb wollen wir das „Bürgergeld“ durch eine „Neue Grundsicherung“ ersetzen. Diese Leistung steht nicht jedem zu, sondern ist eine Unterstützung für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Arbeit oder Vermögen bestreiten können. All diese Menschen wollen und müssen wir unterstützen – einige vielleicht sogar stärker als bisher.

Rückgrat dieser neuen Leistung ist ein ausbalanciertes System des Förderns und Forderns. Es geht darum, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Arbeitskraft in die Gesellschaft einzubringen und ihren Lebensunterhalt wieder aus eigener Kraft zu bestreiten. Das funktioniert allerdings nur, wenn derjenige, der die Unterstützung der Solidargemeinschaft in Anspruch nimmt, sich auch bemüht, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Die allermeisten Menschen tun das auch. Weil sie spüren, dass Arbeit soziale Teilhabe und ein zufriedeneres Leben ermöglicht.

Aber es gibt auch jene, die sich verweigern und eine zumutbare Arbeit ablehnen. Ein solches Verhalten ist höchst unsolidarisch und lässt die Akzeptanz für das Sozialsystem sinken. Dringend notwendig ist also ein Regulativ, nämlich ein funktionierendes Sanktionssystem, das in Kombination mit Instrumenten wie Vermittlungsvorrang und verbindlichen Kooperationsvereinbarungen den Leistungsempfängern eigenverantwortliches Handeln abverlangt.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wer sich verweigert, muss Konsequenzen spüren. Bei sogenannten „Totalverweigerern“ muss auch die vollständige Streichung der Leistungen möglich sein. Wir trauen den Jobcentern zu, mit diesen Sanktionsmöglichkeiten verantwortungsvoll und individuell angemessen umzugehen.

 

Aktivrente: vorhandenes Potenzial ausschöpfen

Unser Land leidet unter einem enormen Fachkräftemangel. Die Antwort der Bundesregierung lautet: Zuwanderung. Das allein kann nicht die Antwort sein. Denn zunächst gibt es eine andere Antwort, und die finden wir in unserem Land. Wir müssen das Potenzial inländischer Arbeitskräfte heben. Ein Beispiel: Rente bedeutet in Deutschland traditionell berufliche Vollbremsung. Dabei geht es auch anders. Wer das gesetzliche Rentenalter erreicht hat, aber freiwillig gern weiterarbeiten möchte, soll sein Gehalt steuerfrei erhalten. Ich bin überzeugt, dass eine solche Aktivrente mit einem steuerfreien Zuverdienst von 2.000 Euro monatlich attraktiv ist und gleichzeitig eine praktikable Antwort auf den Fachkräftemangel darstellt. Am Ende gewinnen alle. Die Arbeitgeber freuen sich über Fachkräfte, die Arbeitnehmer über zusätzliche Einkünfte, und die jungen Mitarbeiter profitieren von der Arbeitserfahrung der Älteren.

Die Politik hat kein Erkenntnisproblem. Aber was ihr oft fehlt, ist der Mut, die Probleme anzugehen – auch auf vielleicht ungewöhnlichen Wegen. Viel zu oft lassen wir uns bremsen und suchen nach Gründen, uns erst gar nicht auf den Weg zu machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Land eine „Einfach-mal-machen-Mentalität“ benötigt. Lasst uns mutig neue Wege gehen und Neues ausprobieren!

 

Steuerfreie Überstunden: Mehrarbeit belohnen

Es gibt auch Arbeitnehmer, die gern mehr arbeiten und sich etwas dazuverdienen wollen. Allerdings lohnt sich Mehrarbeit weniger, weil dann die steile Progression im Einkommensteuertarif zuschlägt. Dies führt dazu, dass der zusätzlich verdiente Euro höher besteuert wird als der bisherige Lohn. Viele verzichten daher auf den Zusatzverdienst. Es lohnt sich für sie einfach nicht.

Wir sollten Tatendrang aber nicht ausbremsen. Im Gegenteil: Wir sollten diejenigen unterstützen, die mehr leisten wollen. Warum also nicht den Lohn für Überstunden bei Vollzeitbeschäftigung steuerfrei stellen? Wer zum Beispiel mehr als vierzig Stunden in der Woche arbeitet, muss auf den Lohn für jede weitere Arbeitsstunde keine Steuer mehr zahlen. Nur wenn eigene Anstrengung belohnt wird, kann es einen selbstbestimmten Weg zu Eigentum, Vermögen und gesellschaftlichem Wohlstand geben. Wer bereit ist, mehr zu arbeiten, soll dazu attraktive Rahmenbedingungen vorfinden.

 

Arbeit gehört zu einem erfüllten Leben

Ludwig Erhard glaubte an den Wert der Arbeit, und er glaubte an die Menschen, er traute ihnen etwas zu. Vor 61 Jahren war die Welt eine andere. Doch Erhards Worte bleiben zeitlose Prinzipien für eine stabile Volkswirtschaft und damit für eine stabile Gesellschaft. Diese Prinzipien sind uns heute Auftrag und Verpflichtung. Sie machen uns als Christdemokraten unterscheidbar und unverwechselbar in der deutschen Parteienlandschaft.

Unsere Politik ist auch heute geprägt vom christlichen Menschenbild, und dieses Bild ist grundsätzlich positiv. Zu einem erfüllten Leben gehört Arbeit, weil sie Sinn stiftet und Eigenständigkeit ermöglicht. Nach unserer Vorstellung gelingt dies nur in einem starken aktivierenden Sozialstaat, der den Prinzipien von Solidarität, Subsidiarität und Eigenverantwortung folgt. Ein Sozialstaat, in dem sich Leistung wieder lohnt.

 

Carsten Linnemann, geboren 1977 in Paderborn, promovierter Volkswirt, Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, seit 2023 Generalsekretär der CDU Deutschlands.

comment-portlet