Am 29. August 2020 stand Tamara K., eine esoterische Heilpraktikerin aus der Eifel, in der Nähe des Berliner Reichstags auf der Bühne von Staatenlos.info, einer Reichsbürgervereinigung, und rief der versammelten Menschenmenge „Wir haben gewonnen!“ zu. Während vor ihr eine seltsam anmutende Ansammlung von Deutschland-, Amerika-, Russland-, Reichs- sowie QAnon-Flaggen wehte, befanden sich im Publikum Verschwörungsideologen, Mitglieder der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene sowie bekannte rechte Blogger. Wenig später durchbrachen mehrere Hundert Personen die Absperrungen, stürmten die Stufen des Parlamentsgebäudes und versuchten, in das Zentrum der deutschen Demokratie zu gelangen.
Diese Menschenmenge ist durch eine große Heterogenität gekennzeichnet, Esoteriker, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Querdenker stechen jedoch hervor. Für die verfassungsfeindlichen Mitglieder der dritten Gruppe hat das Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2021 den neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ etabliert.
Die weltanschauliche Bewegung der Esoteriker umfasst verschiedene Strömungen, die sich im Kern auf ein höheres Wissen berufen. Ihre Erkenntnisse werden oftmals durch „erleuchtete“ Persönlichkeiten erschlossen und sollen ausschließlich Eingeweihten zugänglich sein. Damit einher geht eine grundlegende Ablehnung naturwissenschaftlicher und medizinischer Forschung. Esoteriker glauben vielmehr an die Wirkung besonderer Gegenstände, etwa an die von magischen Kristallen, die einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben sollen.
Die Reichsbürger- und Selbstverwalterszene entwickelte sich in den 1980er-Jahren und erfuhr ab den 2010er-Jahren starkes Wachstum. Ihre Mitglieder lehnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland ab und schließen sich einem fiktiven Königreich an, das meist von einem selbst ernannten Monarchen regiert wird. Ziel ist der Aufbau einer alternativen staatlichen Daseinsfürsorge – mit eigenem Ausweis, Führerschein sowie unabhängigem Gesundheits- und Bildungssystem. Die Sicherheitsbehörden konstatieren eine erhöhte Waffenaffinität und ordnen rund fünf Prozent der Mitglieder dem Rechtsextremismus zu.
Die dem Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ – kurz Delegitimierer – zugeordneten Akteure sind, wie bereits erwähnt, sowohl organisatorisch als auch ideologisch heterogen strukturiert. Bindendes Element ist die Ablehnung der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie und die sich daraus entwickelnde Ablehnung staatlicher Institutionen. Neben der Verbreitung teils antisemitischer Verschwörungsnarrative finden auch Einschüchterungsversuche gegenüber Politikerinnen und Politikern statt.
Überlegenheitsgefühl gegenüber „Schlafschafen“
Trotz individueller historischer Entwicklungen und unterschiedlich anmutender Charakteristiken gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen dem esoterischen Milieu, der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene sowie den Delegitimierern. So lässt sich unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit eine erhebliche Affinität zu Verschwörungsnarrativen feststellen. Die Grundgedanken, dass „nichts durch Zufall passiert“ und zahlreiche Ereignisse durch eine geheime Elite beeinflusst würden, die im Hintergrund die Fäden ziehe, sind stark ausgeprägt.1 Beispielhaft kann die Theorie einer sogenannten „Plandemie“, also der angeblich geplanten COVID-19-Pandemie, genannt werden, die sich in allen drei Gruppierungen wiederfindet – oft verbunden mit dem antisemitischen Ressentiment, dass sie von einer Gruppe jüdischer Eliten gesteuert worden sei. Aber auch rassistische Gedanken finden Eingang in die Verschwörungsnarrative: So ist etwa von einem „Großen Austausch“ die Rede, einem angeblich bewusst gesteuerten Prozess, der die Bevölkerung Europas durch Zuwanderung aus dem Nahen Osten und Afrika „ersetze“.
Ein dritter Ansatzpunkt, der szeneübergreifend geteilt wird und aktuell immer mehr an Zuspruch gewinnt, ist der Verschwörungsmythos von QAnon aus den USA. Seine Anhänger sind von der Existenz eines weltweit agierenden, geheimen elitären Zirkels überzeugt, der als grundlegend böse dargestellt wird. Da der seinerzeitige US-Präsident Donald Trump ihnen oftmals als Erlöser und Retter im Kampf gegen diese Elite gilt, ist es nicht überraschend, dass sich auch Tamara K. in ihrer Rede auf den damaligen US-Präsidenten berief.2 Bei allen drei Gruppierungen manifestiert sich eine starke Wissenschaftsfeindlichkeit. Unter den Esoterikern zeigt sich dies etwa durch alternative Heilmethoden, die teilweise zu schweren Verletzungen und weltweit mehreren Todesfällen geführt haben. Mitglieder der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene betrachten historische Ereignisse revisionistisch und negieren geltendes Recht. Die Gruppe der Delegitimierer spricht Expertinnen und Experten – vor allem im Bereich der Virologie – die Expertise ab.
Zwei weitere Aspekte sind meist mit der Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse verbunden: Komplexitätsreduzierung und Überlegenheitsdenken. Die Welt der drei Gruppen ist von der Auffassung geprägt, dass es für hochkomplexe Fragen allzu einfache Antworten gebe: Krebs könne durch positive Energie geheilt werden, Deutschland sei nicht frei, sondern werde von einer kleinen Gruppe regiert, und mithilfe von Impfungen seien den Menschen Mikrochips injiziert worden. Dieses „Wissen“ ist allerdings ausschließlich innerhalb der eigenen Gruppe bekannt, wodurch sich ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den „Schlafschafen“ entwickelt hat. Diese sollten doch endlich „aufwachen“ und die korrekten Zusammenhänge verstehen.
Vertrauensverlust kann in Hass umschlagen
Während der COVID-19-Pandemie erhielten zahlreiche verschwörungsideologische Gruppen großen Zulauf. Internet und soziale Medien wirken aufgrund der einfachen Verbreitung von Falschinformationen und daraus resultierender Verunsicherung als Katalysatoren dieses Prozesses. Gezielte Fake News untergraben das Vertrauen in politische Parteien, staatliche Institutionen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie in Politikerinnen und Politiker. Dieser Vertrauensverlust kann in Hass umschlagen oder sich in gewalttätigen Übergriffen, beispielsweise gegenüber Einsatzkräften der Polizei, ausdrücken.
Oftmals geht mit dieser Entwicklung die Manifestierung eines Selbst- und Feindbildes einher. Die eigene Gruppe wird als das Gute mit idealistischen Eigenschaften wie Anstand und Tüchtigkeit beschrieben; sie sei dabei die Mehrheit in der Gesellschaft, aber gleichzeitig das von den Eliten unterdrückte Opfer. Der Feind ist in ihren Augen das faule und sittenwidrige Böse, das zwar eine kleine Minderheit darstellt, jedoch als Täter fungiert.3 Das sich daraus ergebende Schwarz-Weiß-Denken wirkt stark identitätsstiftend und führt dazu, dass sich eine neue Autorität etablieren kann.
Diese Rolle können verschiedene Personen einnehmen. Es kann der mystische Heiler sein oder auch jemand wie Peter Fitzek, dessen „Königreich Deutschland“ rund 2.000 Mitglieder aufweist, oder Michael Ballweg – der Gründer von Querdenken 711. Mit der Akzeptanz dieser neuen Autorität verbindet sich in verschiedener Hinsicht großes Vertrauen: Die Gefolgschaft der neuen Autoritäten billigen ihren „Anführern“ Kompetenz in allen Lebenslagen zu. So werden etwa medizinische Ratschläge von diesen vermeintlichen Autoritätspersonen ernst genommen und umgesetzt. Gleichzeitig sind die Anhänger auch zu finanzieller Unterstützung der Führungsfiguren bereit, was sich an monetären Zuwendungen bis hin zu Grundstücksschenkungen ablesen lässt.
Von Anhängern des esoterischen Milieus, der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene und von den Delegitimierern gehen eine Reihe von Gefahren aus. Mit der Verbreitung gezielter Falschinformationen schüren sie nicht nur Ängste in der Bevölkerung, sondern sorgen auch für einen Vertrauensverlust gegenüber demokratischen Prozessen und staatlichen Institutionen. Darüber hinaus kam es bei zahlreichen Demonstrationen zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber anderen Demonstranten und der Presse. Der Polizistenmord in Georgensgmünd 2016 sowie die Bildung einer terroristischen Zelle mit dem Ziel des Umsturzes im Jahr 2022 verdeutlichen das Gefahrenpotenzial der Reichsbürgerbewegung.
Der Rechtsstaat muss alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um verfassungsfeindliche Strömungen rechtzeitig aufzuspüren und zu unterbinden. Gleichermaßen sind größere finanzielle und personelle Kapazitäten im Bereich der Präventionsarbeit, Deradikalisierung sowie für Beratungs- und Aussteigerprogramme notwendig. Die Politik muss das Gefahrenpotenzial verstehen und die Sicherheitsbehörden entsprechend unterstützen.
Felix Neumann, geboren 1996 in Dresden, Referent für Extremismus- und Terrorismusbekämpfung, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
Friederike Engelbrecht, geboren 1997 in Berlin, Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Inwiefern Reichsbürger-affine Einstellungen in der deutschen Bevölkerung verbreitet sind, siehe Dominik Hirndorf: „Kein Staat, meine Regeln“. Repräsentative Umfrage zur Verbreitung von Reichsbürger-affinen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung (Online-Publikation), Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2023, https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/kein-staat-meine-regeln [letzter Zugriff: 30.05.2023].
2 Siehe hierzu auch Pia Lamberty / Katharina Nocun: Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik, Köln 2022.
3 Siehe hierzu Jan Rathje: Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017.