„Es gibt Länder, wo was los is, […] und es gibt Brandenburg […] in Brandenburg ist wieder jemand gegen einen Baum gegurkt […] Berlin, halleluja Berlin.“ Mit dieser Hymne über die vermeintliche Brandenburger Tristesse wurde Rainald Grebe 2005 bekannt. Heute würde er diesen Liedtext, wie er sagt, nicht mehr so schreiben, denn er „basierte auf dem Prinzip Oberflächlichkeit“. Brandenburg hat einiges zu bieten, nicht nur touristisch-kulturell. Politisch gehört es mit Bremen und Rheinland-Pfalz zu den Bundesländern, die seit 1990 durchgehend von der SPD regiert werden.
Dass Konrad Adenauer für ein Jahr „Brandenburger“ war, wissen nur wenige. Von Mai 1934 bis April 1935 lebte Adenauer mit seiner Familie in Potsdam-Babelsberg, da er in einem von ihm selbst angestrengten Dienststrafverfahren in Berlin einen Teil seiner Pensionsansprüche gegen das Naziregime durchsetzen wollte, nachdem er Anfang 1933 seiner Ämter als Kölner Oberbürgermeister und Preußischer Staatsratsvorsitzender enthoben worden war. Während seines Aufenthalts in Babelsberg wurde er am 30. Juni 1934 im Zuge des von den Nationalsozialisten so bezeichneten Röhm-Putsches für zwei Tage von der Gestapo inhaftiert und verhört, blieb jedoch im Gegensatz zu vielen anderen Inhaftierten am Leben. Zu dieser Zeit war die eigentliche Brandenburger Hymne – die Heide und Sand, Sumpf und Kiefernwälder sowie den Roten Adler als Wappentier der märkischen Heimat besingt – populär. Dies gilt bis heute, obwohl das ursprünglich jugendbewegte Lied von 1923 eine ungute Karriere in der völkischen Bewegung und der Zeit des Nationalsozialismus hinter sich hat.
Damit sind wir – neunzig Jahre später – in der Gegenwart, in der mit der AfD eine Partei erhebliche Wahlchancen besitzt, die trotz aller historischer Lektionen „völkisch“ orientiert ist. Bereits bei der Landtagswahl 2019 landete sie mit 23,5 Prozent auf Platz zwei hinter der traditionell starken SPD (26,2 Prozent) und weit vor der CDU (15,6 Prozent). So wurde eine Kenia-Koalition aus SPD, CDU und Grünen gebildet, die seither weitgehend konstruktiv miteinander regieren, wobei die Union das Innen- und Justiz- sowie das Infrastrukturministerium führt. Bei der Bundestagswahl 2021 sackte die AfD auf 18,1 Prozent ab (SPD: 29,5 Prozent; CDU: 15,3 Prozent). Laut Umfragen im Frühjahr 2024 liegt sie nun mit 25/26 Prozent weit vorn (SPD und CDU ungefähr 19 Prozent, Grüne: circa sieben Prozent).
Die regierende Kenia-Koalition hätte nach diesen Umfragen ebenso wenig noch eine Mehrheit wie eine rot-rot-grüne Regierung, denn die einstmals starke PDS respektive Die Linke, die es 2004 bis 2009 noch auf 27 bis 28 Prozent brachte, ist auf sechs Prozent abgestürzt. Ihre Position der „Ost-Partei“ hat sie längst an die AfD verloren. Als möglicher Mehrheitsbeschaffer gilt manchen das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das – erst im Januar 2024 gegründet – bis zu 13 Prozent Zuspruch verzeichnet.
Entfremdung zwischen Parteien und Wählern
Sicher kann und wird sich bis zu den Landtagswahlen am 22. September 2024 noch einiges an den Zahlen ändern. Bei den Kommunalwahlen am 9. Juni ging die AfD (25,7 Prozent, plus 9,8 Punkte) als Sieger hervor; sie liegt in sechzehn der achtzehn Landkreise und kreisfreien Städte zumeist mit Abstand vorn; 2019 befand sie sich noch hinter der CDU (jetzt 19,3 Prozent, plus 1 Punkt) und SPD (jetzt 16,6 Prozent, minus 1,1 Punkte) auf Platz drei; Wahlverlierer ist Die Linke (7,8 Prozent, minus 6,3 Punkte). Die Europawahl am gleichen Tag gewann in Brandenburg ebenfalls die AfD (27,5 Prozent, plus 7,6 Punkte) weit vor der CDU (18,4 Prozent) und dem BSW (13,8 Prozent); die SPD kam nur auf Platz vier (13,1 Prozent, 2014: 26,9 Prozent).
Für die Landtagswahl setzt die Union mit ihrem Spitzenkandidaten, dem Fraktionsvorsitzenden Jan Redmann (44) aus der Prignitz, auf den optimistischen Slogan „Dein Land kann’s besser“. Sie will an der erstmals in Schlagweite befindlichen SPD vorbeiziehen, was ihr bei Landtagswahlen bisher noch nie gelungen ist, selbst nicht in der Ära des „Generals“, Jörg Schönbohm, zwischen 1999 und 2009. Das wäre jedoch notwendig, um nicht – wie 2019 – im Duell zwischen SPD und AfD zerrieben zu werden. Andererseits wird es ohne die CDU eine Regierungsbildung kaum geben können, da die Freien Wähler an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern drohen und die FDP mit drei Prozent in den Umfragen abgeschlagen ist. Sie hat es in sieben Legislaturperioden seit 1990 nur zweimal, 1990 und 2009, in den Landtag geschafft. Die SPD setzt erneut auf ihren bodenständigen Ministerpräsidenten, den Lausitzer Dietmar Woidke (62), der seit 2013 das Land zwischen Elbe und Oder regiert.
Die politische Gretchenfrage „Wie hast du’s mit der AfD?“ ist klar beantwortet: Keiner will mit ihr zusammenarbeiten. Wer also die scheinbar unendliche Herrschaft der SPD oder ein Bündnis aller Linksparteien verhindern will und einen Wechsel möchte, wird seinen Blick auf die Union richten. Wichtig ist es jedoch, die politisch tiefergehende Frage zu beantworten, aus welchen Gründen die AfD überhaupt einen derartigen Zulauf hat, trotz aller Warnungen, Ab- und Ausgrenzungen und Brandmauern. Eine erste Antwort bezieht sich auf SPD, CDU und Die Linke, die in Brandenburg stets den Ton angegeben haben, sich aber spätestens seit 2014 in einem Abwärtstrend befinden. Ihre Integrationskraft hat seitdem um ein Viertel (CDU), zwei Fünftel (SPD) und sogar zwei Drittel (Die Linke) abgenommen. Es ist zu einer Entfremdung zwischen diesen Parteien und einem größeren Teil der Wähler gekommen.
Verbreitete politische Unzufriedenheit
Eine zweite Antwort ergibt sich aus einer spezifischen Stimmungslage im Osten. Die durch Jahrzehnte der Diktatur und des „Eisernen Vorhangs“ stark „vereinheitlichte“ Bevölkerung hat innerhalb einer Generation zwei Veränderungsprozesse durchlaufen, die zu mehr Verschiedenheit geführt haben. Beide Prozesse stehen zwar in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Sie haben aber Uneinheitlichkeit und Ungleichheit befördert: durch den Zuzug von Westdeutschen nach 1990, die in vielen Bereichen oft noch heute den Ton angeben, und durch die Aufnahme von Migranten vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten nach 2015, die aufzunehmen und zu versorgen sind, auch wenn die Möglichkeiten und der Wille dazu endlich sind.1 Aus einem tief verwurzelten und verbreiteten Gefühl der Benachteiligung und des Nicht-Gefragt-Werdens stellt sich angesichts dessen für einen größeren Teil der Bürger im Osten in radikaler Weise eine Gerechtigkeits- und Demokratiefrage: Wo kommen wir bei den politischen Entscheidungen vor? Weil diese Frage in Wahl- und Umfrageerfolge der AfD mündet, die allzu leicht als Ablehnung der Demokratie missdeutet werden, wird die Demokratie- und Gerechtigkeitsfrage verschärft.2 Diese Situation lässt sich nicht mit „Brandmauern“ oder Barrikaden entschärfen oder auflösen. Vielmehr ist ein Eingehen auf die Stimmungslage und die konkreten Belange auch dieses nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung notwendig – eine Auseinandersetzung in der Sache.
Eine dritte Antwort lautet also: Statt sich andauernd auf die AfD zu fixieren, muss es ein Ringen um seriöse Antworten auf die virulenten Probleme in den Bereichen der Migrations-, Klima-, Wirtschafts-, Infrastruktur-, Gesellschafts- und Sozial- sowie Bildungspolitik geben. Schlechtere wirtschaftliche Perspektiven, eine hohe Steuer- und Abgabenlast für die Bürger, ausufernde Sozialausgaben des Staates, Überregulierung, Eingriffe in den persönlichen Lebensbereich, mangelhafte Infrastrukturen, Spitzenenergiepreise und Wohnungsknappheit, mäßige Bildung, anhaltende ungeordnete Zuwanderung mit ihren Folgen, linksideologische Gesellschaftspolitik, unsichere Perspektiven nicht zuletzt wegen des Kriegs in der Ukraine bilden den Nährboden für eine verbreitete politische Unzufriedenheit und sind Wasser auf die Mühlen populistischer Bewegungen von rechts wie links.
Die andere Seite der Medaille ist: Brandenburg steht bei den politischen Eckdaten nicht schlecht da. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit 2015 um 10,7 Prozent gestiegen, stärker als in allen anderen Bundesländern außer Berlin. Damit liegt das Land unter den ostdeutschen Bundesländern hinter Sachsen an zweiter Stelle. Diese positiven Werte ändern allerdings nach wie vor wenig daran, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Brandenburg – ähnlich schwach wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern – bei 75 Prozent des Bundesdurchschnitts liegt. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat Brandenburg mit rund 23.000 Euro einen Sprung nach oben gemacht und die anderen ostdeutschen Bundesländer hinter sich gelassen. Damit steht es nur sechs Prozent unter dem deutschen Durchschnitt und 14 Prozent hinter Spitzenreiter Bayern. Die Haushaltsführung der Landesregierung ist einigermaßen solide: Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt nur knapp über dem Länderschnitt und mit 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Mittelfeld. Beim Anteil erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch belegt Brandenburg Platz drei hinter Schleswig-Holstein und Thüringen. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 6,4 Prozent knapp über dem Bundesdurchschnitt, hinsichtlich der Lebenszufriedenheit gehört Brandenburg jedoch zu den Schlusslichtern in Deutschland.
Brandenburg, in dessen geografischem Zentrum die wachsende Metropole Berlin liegt, hat dank der Ausstrahlung der Bundeshauptstadt heute mit 2,57 Millionen Einwohnern wieder seinen Bevölkerungsstand von 1990 erreicht, während er in den anderen ostdeutschen Bundesländern um 14 bis 24 Prozent zurückgegangen ist. Die Bevölkerung nimmt im erweiterten Speckgürtel um Berlin zu, in den Randgebieten teilweise jedoch erheblich ab. Dort ist die Erreichbarkeit zentraler Orte mit weit über zwanzig Minuten Autofahrzeit unterdurchschnittlich. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt in diesen Gebieten bei einem Viertel bis einem Drittel, insgesamt hat er sich seit 1990 verdoppelt. In den nächsten dreißig Jahren wird dennoch nur mit einer moderaten Bevölkerungsabnahme von lediglich vier Prozent gerechnet.
Die Bedingungen für eine positive Entwicklung sind somit durchwachsen, insgesamt aber nicht schlecht. Brandenburg ist unter einer guten politischen Führung tatsächlich bereit für die Zukunft.
Stephan Raabe, geboren 1962 in Düsseldorf, bis April 2024 Landesbeauftragter und Leiter des Politischen Bildungsforums Brandenburg der Konrad- Adenauer-Stiftung, seit Juli 2024 Leiter des Auslandsbüros Bosnien und Herzegowina der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Sarajewo.
1 Der Ausländeranteil lag 1990 im Osten bei einem, im Westen bei acht Prozent, Ende 2022 im Osten bei sieben Prozent, im Westen bei 16 Prozent; siehe Statistisches Bundesamt: Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland zwischen 1990 und 2022: Angleichung oder Verfestigung der Unterschiede?, www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aspekte/demografie-bevoelkerungsentwicklung-ost-west.html [letzter Zugriff: 14.03.2024].
2 Das Klügste dazu kann man von dem evangelischen Theologen und Sozialdemokraten Richard Schröder nachlesen: „Wer beherrscht den Osten?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2023, S. 6, www.faz.net/aktuell/politik/geschichte/wer-beherrscht-den-osten-eine-antwort-19407905.html [letzter Zugriff: 14.03.2024].