Hört man CEOs auf ihrer Jahreshauptversammlung sagen: „Wir werden nicht müde in unserem Streben nach größtmöglicher Effizienz“, dann ist das dem Publikum wahrscheinlich nicht mal ein Gähnen wert. Solange nicht erläutert wird, wie genau das Streben aussieht, was mit Effizienz gemeint ist, bleibt es nur eine leere Worthülse.
Das Streben nach effizienten Arbeitsabläufen ist ein „No-Brainer“ – jedenfalls innerhalb des betriebswirtschaftlich geprägten Managementdiskurses. Was soll eine auf Wertschöpfung ausgelegte Organisation denn anderes wollen, als den Einsatz so gering wie möglich zu halten, bei gleichzeitiger Erzielung größtmöglicher Ergebnisse? Doch gerade diese Selbstverständlichkeit macht Effizienzstreben interessant für die Organisationssoziologie. Denn aus soziologischer Perspektive ist klar, dass es gar nicht so einfach ist, einzuschätzen, wie viel Aufwand und Einsatz für ein Ergebnis verantwortlich ist. Umso erstaunlicher ist es, wie ausgefeilt die Mess- und Vergleichsmethoden sind, die für die Bestimmung organisationaler Effizienz bereitstehen.
Man kennt es aus dem Energiediskurs: Gut gedämmte Häuser speichern effizienter Wärme über einen gewissen Zeitraum. Effiziente Fahrzeuge verbrauchen weniger Brennstoff auf einer gewissen Strecke. Grad Celsius pro Stunde, Liter pro Kilometer: Für physikalische und chemische Prozesse sind X- und Y-Achse einer Messung zügig festgelegt. In Organisationen ist das mitunter schwieriger. Je weiter man sich von materiellen oder geistigen Produkten entfernt, deren Herstellungskosten ihrem erzielten Verkaufswert gegenübergestellt werden können, umso diffuser wird das Bestimmen des Aufwands, umso mehr muss diskutiert werden, was genau das Ergebnis ist.
Glücklicherweise kennt die Betriebswirtschaftslehre zahlreiche Werkzeuge und Methoden, die diese Unsicherheit absorbieren können. Oft sind es implizite Vorannahmen, die ihren Einsatz vereinfachen. Wenn sich eine Organisation etwa entscheidet, ihren Research- und Development-Bereich einem Benchmarking zu unterziehen und ihre Effizienz mit der Konkurrenz zu vergleichen, so muss natürlich angenommen werden, dass ein solcher Vergleich zu Erkenntnisgewinn führen kann. Dafür ist es notwendig, gewisse Aspekte der Dynamik in Organisationen unbeleuchtet zu lassen und die Vorannahmen der Betriebswirtschaftslehre, wie eine Organisation funktionieren sollte, als Ist-Zustand anzunehmen.
Bürokratieabbau kann Prozesse verlangsamen
Legt man die gleiche Orientierung – ein Streben nach Effizienz – an, nutzt aber organisationssoziologische statt betriebswirtschaftlicher Werkzeuge, ergibt sich ein anderes Bild. Der größte Unterschied ist, dass die Organisationssoziologie ihrem Gegenstand große Komplexität zugesteht. Dazu gehören zwei grundsätzliche Annahmen: Zum einen gibt es meist nicht die eine objektiv richtige, weil rationale Entscheidung, sondern viele. Gerade da, wo die Arbeitsteilung weit ausdifferenziert ist, gibt es umso mehr Antworten darauf, was richtiges Handeln ist. Zum anderen haben Organisationen zwar die besondere Möglichkeit, sich selbst zu regeln und bindende Entscheidungen über das Verhalten ihrer Mitglieder zu treffen. Doch folgt ihr Innenleben einer Eigendynamik, das sich genauer Steuerung entzieht.
Will man eine Organisation nachhaltig verändern, muss man von allgemeinen Vorannahmen Abstand nehmen und genau verstehen, welche spezifischen Rationalitäten und Eigendynamiken in ihr wirken. Ein Mittel für diesen Erkenntnisgewinn ist der Einsatz des Dreiseitenmodells. Es unterteilt eine Organisation in die formale, die informale sowie die Schauseite.
Die formale Seite umfasst alle getroffenen Entscheidungen und Regeln, die in der Organisation gelten: Was muss ein Mitglied leisten, um Teil der Organisation bleiben zu können? Wo ist sein Platz im Organigramm? Was ist für die Rolle das richtige Verhalten? Wann begeht man einen Regelverstoß?
Die wichtigste Funktion formaler Regeln ist: Sie sorgen für Erwartungssicherheit. Man kann (grundsätzlich) davon ausgehen, dass sich die Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte an die formalen Regeln halten. Und wenn man sich selbst an Regeln und Strukturen hält, darf man sich sicher sein, nichts falsch zu machen. Hier setzen Effizienzprogramme typischerweise an. Sie untersuchen die Formalstruktur mit Blick auf die Frage: Was ist auf dem Weg zum Ergebnis unnötig – oder gar im Weg? Wo sind zum Beispiel mehr Rollen für eine Aufgabe vorgesehen, als „rational betrachtet“ gerechtfertigt ist? Welche Prozesse sind zu aufgeblasen? Hier kann ein bemerkenswertes Phänomen beobachtet werden: Bürokratieabbau kann Prozesse verlangsamen.
Formalstruktur ist oft besser als ihr Ruf. Gerade im Absorbieren von Unsicherheiten leistet sie Erstaunliches. Sich vorhandener Strukturen zu entledigen, ist also nicht per se effizient. Ein umfangreiches Konditionalprogramm, das zum Abarbeiten von Kundenanfragen dient, mag auf Kunden wie ein bürokratisches, ineffizientes Monstrum wirken. Doch geht der Rotstift zu weit durch die Bürokratie, wird das Durcharbeiten des Prozesses durch Einzelfallprüfungen ersetzt. Dann dauert es nicht lange, und die Abteilung, die vom Paragrafendschungel befreit wurde, wünscht sich – für das effizientere Arbeiten – standardisierte Verfahren.
Effizienzprogramme in der Informalität
Alle, die sich in Organisationen bewegen, wissen aber, dass es im Arbeitsalltag weit mehr Regeln zu beachten gibt als die formal festgehaltenen. Ebenso gibt es formale Regeln, die zwar irgendwann verkündet wurden, allerdings im Laufe der Zeit in die Irrelevanz erodiert sind. Oder Mitglieder erleben sich sogar sozial sanktioniert, wenn sie auf die Existenz dieser Regeln hinweisen. Die informale Seite der Organisation umfasst alles, was sich allmählich als Reaktion auf die gesetzten formalen Verhältnisse ergibt: das Gesetz der (organisationalen) Straße.
Formal muss die Präsentation entlang der Hierarchie abgestimmt werden – erfahrungsgemäß ist es jedoch leichter, wenn der Dienstweg kurz gehalten und Vorgesetzte vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Formal steht vor der Lieferung an den Kunden die umfassende Qualitätsüberprüfung – aber niemand hat dafür Zeit. Also reicht es, den Haken im Prozess zu setzen. Formal ist um 17.00 Uhr Feierabend – aber wer da zur Jacke greift, erntet Blicke und ein: „Na, halben Tag frei genommen?“ Solche und ähnliche Phänomene kennt nahezu jede Organisation. Das legt eine These nahe: Mitarbeitende stecken oft in straffen Effizienzmaßnahmen. Nur will die formale Organisation diese gar nicht kennen.
Wie bereits angedeutet, darf man die informale Seite der Organisation nicht als den Teil verstehen, in dem alles nur Teamgeist und Spaß ist, während auf der formalen Seite die Arbeit geschieht. Die informale Seite verarbeitet in erster Linie die Widersprüche der formalen Seite und hält die Organisation am Laufen. Das drückt sich auch in ihren Effizienzmaßnahmen aus, die härter sind, als die formale Organisation sie je veranlassen könnte. Ein Beispiel dafür kann man in manchen Filialen des Einzelhandels beobachten. Wenn die Personaldecke dünn ist, aber die zu leistenden Aufgaben zu Schichtbeginn gleichbleibend umfangreich sind, stellt die Organisation ihre Mitarbeitenden vor ein Problem. Sie lösen es, indem sie noch früher als vorgesehen mit der Arbeit beginnen. Gleichzeitig verzichten sie auf ein vorzeitiges Einstempeln, denn das ist verboten: wegen des Arbeitszeitgesetzes.
Das Vorgehen ist für die Organisation so lange funktional und effizient (mehr Arbeitskraft bei gleichen Kosten), wie die Mitarbeitenden zu dieser Zumutung bereit sind. Doch kann sie nicht steuern, wer wie viele unbezahlte Überstunden leistet und wer vielleicht besser Pause machen sollte, um die Überlastung zu reduzieren oder nicht bald den Job ganz hinzuwerfen. Es ist eine informale Effizienzmaßnahme, außerhalb formaler Kontrolle.
Effizienzstreben auf der Schauseite
Schauseiten bilden sich in und um Organisationen entlang ihrer Umweltgrenzen. Es sind die mal mehr, mal weniger schillernden Fassaden, die die eigentlichen Arbeitsabläufe etwas schöner und professioneller darstellen, als sie üblicherweise sind. Ein Vertriebsteam pflegt seine Schauseite gegenüber der Abteilungsleitung, wenn es wortreich beschreibt, wie aufwendig eine Akquise war, obwohl der Kunde das Produkt schon beim ersten Gespräch kaufen wollte (sehr effizient!). Die Abteilung baut eine Schauseite auf, wenn ihre Mitglieder dazu angehalten werden, Konflikte abteilungsintern zu klären und gegenüber anderen Kolleginnen und Kollegen Einigkeit zu demonstrieren. Der CEO auf der Jahreshauptversammlung arbeitet an der Schauseite der gesamten Organisation, wenn er öffentlich das Streben nach Effizienz verkündet.
Mithilfe der Schauseiten wird vor dem jeweiligen Publikum die Erfüllung von Erwartungen dargestellt: Das Vertriebsteam arbeitet hart – und erfolgreich. Die Zusammenarbeit in der Abteilung läuft reibungslos. Das Unternehmen erwirtschaftet Gewinne und arbeitet daran, dass sie sich noch erhöhen. Die Logik ist in allen drei Fällen gleich: Wo Erwartungen erfüllt werden, gibt es keine Irritation. Keine Irritation bedeutet üblicherweise, dass es keine Nachfragen gibt. Und das ermöglicht ein störungsfreies Weiterarbeiten.
Diese Schlussfolgerung lässt sich in einer Vermutung zuspitzen: Schon Effizienz zu heucheln, kann die Effizienz einer Organisation steigern.
Effizienz wird so sehr gewünscht, wie sie wenig hinterfragt wird. Das ermöglicht es, Effizienz in der Kommunikation wie einen für sich stehenden Wert zu verwenden. Im soziologischen Sinn zeichnet sich ein Wert dadurch aus, dass er sich dem Einfügen in eine nach Prioritäten geordnete Liste entzieht. Der Test: Was ist wichtiger – transparente oder effiziente Prozesse? Daraus erwächst die Möglichkeit, mittels Effizienzargumenten zahlreiche Entscheidungen zu legitimieren. Wer darstellen kann, dass eine Maßnahme effizientes Unternehmertum fördert, hat ein starkes Argument auf seiner Seite.
Hier finden nun die erstaunlichen Möglichkeiten der Betriebswirtschaftslehre, alle Organisationsbereiche in Zahlen zu beschreiben, ihre nutzbringende Anwendung. Argumente, die auf Zahlen basieren und vom Effizienznarrativ getragen werden, haben im Diskurs unbestreitbares Gewicht. Sie geben Organisationsgestalterinnen und -gestaltern die Möglichkeit, eine starke Schauseite aufzubauen, die ihre Entscheidungen legitimiert und in das rechte Licht rückt. Das verschafft ihnen die Möglichkeit, in Ruhe Entscheidungen abzuwägen und ohne Ablenkungen in die Umsetzung zu bringen. Wahrlich: effizient.
Judith Muster, geboren 1979 in Berlin, promovierte Soziologin, Partnerin bei Metaplan® – Gesellschaft für Planung und Organisation mbH, Co-Geschäftsführerin der Gesellschaft für Verwaltungsinnovation, Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Organisations- und Verwaltungssoziologie, Universität Potsdam.
Andreas Hermwille, geboren 1988 in Köln, Soziologe, Co-Host des Podcasts „Der ganz formale Wahnsinn“.