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Der russische Krieg gegen die Ukraine und die Verteidigung der NATO-Ostflanke

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Eine persönliche Bemerkung zu Beginn: Der neuerliche Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert eine „Zeitenwende“. Mit Blick auf meine vierzigjährige Dienstzeit trifft diese Bezeichnung ebenfalls auf das Ende des Kalten Krieges mit der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands, auf den militärischen Einmarsch im Kosovo wie auch auf den 11. September 2001 und die erstmalige Anwendung des NATO-Artikels V gegen den internationalen Terrorismus zu.

Die aktuelle „Zeitenwende“ beschäftigt mich allerdings mehr als die vorangegangenen, weil sie einen Rückfall in längst überwunden geglaubte Konfrontationsmuster bedeutet. Wir benötigen einen change of mindset, einen Mentalitätswechsel, der die Bedingungen für die „kollektive Verteidigung“ des NATO-Bündnisses wieder ins Bewusstsein rückt.

Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist für die Staaten an der Nordostflanke des NATO-Bündnisses das eingetreten, wogegen sie sich mit ihrem Eintritt in die NATO schützen wollten und was sie nicht erst seit 2014 – dem Jahr der Krim-Annexion – als Bedrohung wahrnehmen. Die Beitrittsanträge von Schweden und Finnland zeugen von der Bedeutung, die der Allianz für die gemeinsame Verteidigung beigemessen wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 in Madrid bestand Einigkeit: Russland hat die Absicht, den ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion wiederzugewinnen, und scheut vor dem Einsatz militärischer Mittel nicht zurück. Diese Intention bleibt allen Erkenntnissen nach auch unabhängig vom Ausgang des russischen Krieges gegen die Ukraine bestehen.

Das Multinationale Korps Nordost (Multinational Corps Northeast, MNC NE), im Rahmen der NATO-Osterweiterung 1999 zur Förderung der Integration der neuen NATO-Staaten durch Dänemark, Polen und Deutschland in Stettin aufgestellt, ist heute das einzige NATO-Landstreitkräftekommando mit einem klar umrissenen Auftrag, nämlich dem Schutz der Nordostflanke des Bündnisses. Der geografische Verantwortungsbereich des Korps grenzt unmittelbar an Russland – unter Einschluss Weißrusslands erstreckt sich diese Grenze über etwa 1.800 Kilometer. Dem MNC NE unterstehen der NATO zugewiesene multinationale und nationale Truppenteile der baltischen Staaten und Polens, darunter auch die Landanteile der Enhanced Forward Presence (deutsch etwa: „Verstärkte Vornepräsenz“). Es schafft in dieser Region damit eine einheitliche NATO-Führungs- und Kräftestruktur und bildet das Rückgrat für die Integration von NATO-Verstärkungskräften.

 

Kohärente Ansätze der Verteidigung

 

Das neue 2022 Strategic Concept der NATO stellt fest, dass sich der euro-atlantische Raum nicht mehr im Frieden befindet, und bezeichnet Russland als die signifikante und unmittelbare Bedrohung für das Bündnis. Das Strategiekonzept zielt klar auf einen robusten, kohärenten Ansatz der kollektiven Verteidigung. Dieser wiederum findet seine militärische Umsetzung im Concept for the Deterrence and Defense of the Euro-Atlantic Area („Konzept für die Abschreckung und Verteidigung des euro-atlantischen Raums“).

Drei Aspekte stehen im Vordergrund meiner Überlegungen.

Erstens: Kollektive Verteidigung gründet auf ein gemeinsames Verständnis der Bedrohung. Es ist mehr als die Summe nationaler Verteidigungsüberlegungen, unterstützt durch Bündnispartner. Sie beruht gleichermaßen auf dem Vertrauen in die gemeinsame Anstrengung (unity of effort) und die Bereitschaft, die militärische Führung in die Hände der NATO zu legen.

Zweitens: Verteidigungsplanung muss vom „Ende her gedacht“ werden, gerade weil die Bündnispartner an der Grenze zu Russland auf Kräfteverstärkungen angewiesen sind. Kohärenz in den Plänen schließt auch ihre Hinterlegung mit militärischen Kräften und Fähigkeiten ein. Das erfordert ein nachhaltiges commitment – Bekenntnis – aller Bündnispartner.

Drittens: Die transatlantische Partnerschaft bleibt unabdingbar, und die US-Streitkräfte sind für die Verteidigung des euro-atlantischen Raumes aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihres Umfangs unverzichtbar. Doch ist auch festzuhalten, dass es europäische Kräfte und Fähigkeiten sein werden, die die unmittelbare konventionelle Verteidigung Europas schultern müssen.

 

Begrenztes Zeitfenster nutzen

 

Mit der russischen Invasion der Krim und dem Konflikt in der Ostukraine 2014 zeigte sich der Wille der russischen Regierung, militärische Mittel zur Erweiterung ihrer Einflusszone einzusetzen. Mit diesem land grab („Landraub“) wurden die traumatischen Erfahrungen der sowjetischen Okkupation der baltischen Staaten und Polens im Zweiten Weltkrieg neuerlich belebt.

Mit den Entscheidungen der NATO-Gipfel von Wales (2014), Warschau (2016) und Brüssel (2018) reagierte das Bündnis auf die gestiegene Bedrohung ihrer Nordostflanke: unter anderem mit der Entwicklung abgestufter Reaktionspläne, einer erhöhten rotierenden NATO-Kräftepräsenz – der Enhanced Forward Presence – und mit der Anpassung der Einsatzbereitschaft von NATO-Krisenreaktionskräften. Der Ruf der estnischen Premierministerin Kaja Kallas im Vorlauf zum NATO-Gipfel in Madrid über verschiedene Medien nach mehr NATO-Truppen in den baltischen Staaten zeigt exemplarisch, dass insbesondere den drei baltischen Verbündeten diese Anstrengungen noch nicht weit genug reichen. Während sich die NATO eher auf einen langwierigen Prozess zur Bereitstellung militärischer Kräfte stützt, wären die russischen Streitkräfte ihren eigenen Bewertungen zufolge zu Angriffen mit kurzer Vorwarnzeit – zum Beispiel zum Abriegeln des Suwalki-Korridors, des Gebiets um die Grenze zwischen Litauen und Polen, das die einzige Landverbindung der baltischen Staaten mit den übrigen NATO-Partnern darstellt und das Territorium der russischen Exklave Kaliningrad von Belarus trennt – in der Lage.

Derzeit muss Russland insbesondere seine Landstreitkräfte auf den Krieg gegen die Ukraine konzentrieren. Bis Russland seine Kräfte regenerieren und gegen die baltischen Staaten und Polen ausrichten kann, wird es dauern – wie lange, muss hier offenbleiben, auch weil die Ukraine weiterhin in bemerkenswerter Weise Widerstand leistet. Umso wichtiger ist es, nun ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass diese Zeit durch die NATO und die einzelnen Alliierten genutzt werden muss, um eine entsprechende Sicherheitsvorsorge zu leisten. Nur wenn in diesem window of opportunity konkrete Anstrengungen zum Fähigkeitsaufwuchs, Ausbau der erforderlichen Infrastruktur und damit insgesamt zur Bündnisverteidigung umgesetzt werden, wird eine glaubhafte Abschreckung auf Grundlage sichtbarer Verteidigungsfähigkeit gelingen.

Noch entscheidender ist jedoch, sich bewusst zu machen, dass ein Zögern oder Abwarten in der Planung und Entscheidung einem russischen Regime in die Hände spielt, das rücksichtslos und gezielt die Schwächen innerhalb der NATO ausnutzen wird.

Über die vergangenen drei Jahrzehnte war der Fokus des Bündnisses und seiner Mitglieder primär auf das Krisenmanagement außerhalb des Bündnisgebietes gerichtet. Dieser expeditionary mindset war von individuellen nationalen Entscheidungen und dadurch de facto von „Koalitionsbildungen“ in den Einsätzen geprägt (siehe Afghanistan). Die Konfrontation mit Russland und die damit einhergehende unmittelbare Bedrohung des NATO-Bündnisgebiets erfordert nun zwingend die Rückkehr zu einem Bewusstsein für kollektive Verteidigung. Insbesondere die Bündnispartner an der Grenze zu Russland dürfen über den Willen und die Fähigkeit der NATO zur gemeinsamen und geschlossenen Reaktion auf eine Krisenentwicklung bis hin zu einem Konflikt nicht im Zweifel gelassen werden. Grundprinzip des Bündnisses ist und bleibt die „kollektive Verteidigung“.

 

Balance zwischen Krisenreaktion und Eskalationseffekten

 

Dies bedeutet mit Blick auf die erforderlichen Voraussetzungen, dicke Bretter zu bohren, um die verzugslose Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Nationale Interessenlagen, Kostenimplikationen sowie die Frage nach der Balance zwischen zeitgerechter Krisenreaktion und Eskalationseffekten sind hier miteinander zu vereinbaren.

Bislang haben die Nationen vorrangig auf ihre nationalen Verteidigungsplanungen gesetzt. Diese waren in ihrer Ausplanung konkreter als die übergeordneten NATO-Pläne. Ein primärer Blick auf Verteidigung aus einer nationalen Perspektive schränkt allerdings die Sicht auf die Vorzüge des alliierten Verbundes ein. Wer sich zudem von der Planung mit einzelnen ausgewählten Bündnispartnern noch einen Vorteil verspricht, verliert nicht nur den Blick für den übergreifenden Schutzbedarf der Region, sondern unterläuft auch die Grundlagen für eine kollektive Verteidigung.

Collective Defense bedingt eine gemeinsame Anstrengung (unity of effort), die nationale Grenzen und Vorbehalte möglichst weitgehend auflöst. Kollektive Verteidigungsplanung muss sich im Kern an Erfordernissen der Operationsführung und notwendiger Bewegungsfreiheit in einer Region orientieren, die in Krise und Konflikt zum NATO-Operationsgebiet wird, und hat so konkret und verlässlich zu sein wie die nationalen Gesamtverteidigungspläne. Beide müssen sich komplementieren und ergänzen. Doch die Führung militärischer Operationen muss nach dem Prinzip der unity of command („Einheit der Befehlsgewalt“) erfolgen. Diese kann durch die entsprechende Führung durch das Bündnis gewährleistet werden. Vertrauen ist hierbei die entscheidende Voraussetzung.

Der NATO-Gipfel in Madrid hat gezeigt, dass Putins Absichten und Handeln den Entscheidungsprozess und die Reaktion des Bündnisses bestimmen. Um entsprechend reaktionsfähig sein zu können, greift in der Planung das Motto, „vom Ende her zu denken“. Nur so ist es möglich, die erforderlichen Kräfte und Mittel zeitgerecht und einsatzbereit am richtigen Ort zur Wirkung bringen zu können. Es kommt hierbei darauf an, dass über allen Entscheidungsebenen – von der politischen bis herunter auf die taktische Ebene – ein gemeinsames Verständnis über die Zeitlinien und Entscheidungsprozesse besteht. Derzeit strebt die NATO eine kohärente Planung von der strategischen bis zur taktischen Ebene an. Für das MNC NE bedeutet es das Prinzip „One Team – One Mission – One Area of Operation – One Plan“, namentlich die Gewährleistung gemeinsamer Handlungsfähigkeit unter Führung des Bündnisses.

Ist eine einfache, klare Führungsstruktur das eine, so ist für die Ausführbarkeit eines Plans die konkrete, auftragsgerechte Hinterlegung mit Kräften und Mitteln das andere. Hierbei geht es nicht allein um Zahlen, sondern vor allem um den Verbund von Fähigkeiten, die für eine militärische Operationsführung erforderlich sind. Diesbezüglich ist die NATO derzeit auf einem guten Weg, Anspruch und Wirklichkeit, Bedarf und eingemeldete Fähigkeiten zu vereinen.

Fakt ist und wird auf absehbare Zeit bleiben: Die amerikanischen Streitkräfte sind für eine Verteidigung des NATO-Gebiets derzeit unerlässlich. Und sie investieren zumindest temporär erheblich in ihre Präsenz in Europa, auch wenn die primäre Ausrichtung der USA – auch militärisch – auf dem Pazifik und China liegen dürfte. Es muss daher nachdrücklicher ins europäische Bewusstsein rücken, dass es die Streitkräfte europäischer Staaten sind, die als Kräfte der „ersten Stunde“ werden verteidigen müssen. Und das bedeutet auch die nachhaltige und durchhaltefähige Ausrüstung mit einem breiten Fähigkeitsspektrum. Auch deshalb kommt mit Blick auf Deutschland, aber eben auch auf die NATO als Ganzes, die eingangs angesprochene „Zeitenwende“ zum richtigen Zeitpunkt.

Wir werden durch die russische Bedrohung viel unmittelbarer als bisher gefordert. Wir brauchen daher einen change of mindset, der die Vorteile des gemeinsamen Planens und Handelns wieder in den Vordergrund rücken lässt.

 

Kay Brinkmann, geboren 1961 in Korbach, Brigadegeneral der Bundeswehr, derzeit „Deputy Chief of Staff Plans“, zuständig für Planung, Übungen und Zivil-Militärische Zusammenarbeit im „Multinational Corps North-East“ der NATO in Stettin (Polen).

 

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.