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Ethnographische Erkundungen über öffentliche Orte in Dörfern Ostdeutschlands

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Reden wir von Öffentlichkeit in ländlichen Räumen, müssen wir die Eigenheit eines jeden Dorfes bedenken und Kleinstädte einbeziehen, weil sie die Infrastruktur stärken.1 Ländliche Lebensweisen befinden sich in einem stetigen Wandlungsprozess. Seit dem 19. Jahrhundert veränderten die fortschreitende Automatisierung der Landwirtschaft, die Ansiedlung von Industrie in Klein- und Mittelstädten und der Ausbau des Verkehrs- und Transportwesens zunehmend die ländlichen Räume. Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR sorgte noch einmal für einen massiven Wandel der Lebenswelt. Trotzdem bleiben die Klischees vom Dorfleben recht stabil und entsprechen den wirklichen Bedingungen kaum. Es bestehen Vorstellungen vom Dorf als einem überschaubaren sozialen Raum, über den das „Dorfauge“2 wacht, damit die Normen eingehalten werden. Es mag solche Situationen in einigen Dörfern geben, aber es herrscht auch Anonymität, die eigentlich mit dem Leben in der Stadt in Verbindung gebracht wird. Öffentlichkeit muss in Dörfern und Kleinstädten bewusst herbeigeführt und erarbeitet werden, gerade angesichts des demografischen Wandels und seiner Folgen für das Erscheinungsbild öffentlicher Räume.

Die Kleinstadt Gößnitz in Ostthüringen verlor nach 1990 zahlreiche öffentliche Orte: das denkmalgeschützte Bahnhofsgebäude, das traditionsreiche Stadtcafé, die Post, das Kino und mehrere Gasthöfe. An anderer Stelle schuf die Stadt neue Begegnungsorte wie ein Kulturzentrum, eine Heimatstube und einen modernen Sportplatz. Der Stadtraum mit seinen verlorenen Identifikationsorten, Neubauten, Leerständen und Sanierungserfolgen entpuppte sich in den Gesprächen, die ich dort zur Stimmungslage führte, als Gefühlsraum, der je nach Blickrichtung Stolz, Trauer oder Unmut hervorrief. Soziale Rollen, die man einst als Gößnitzer noch einnehmen konnte, wie die des Stadtcafé- oder Kinobesuchers, sind hier nicht mehr möglich. Neue Räume wie das Kulturzentrum oder die Heimatstube, die andere Rollen erlauben, werden zwar angenommen, vermögen das Verlorene jedoch nicht zu ersetzen.3

Der Bewohner eines kleinen Dorfes im Elbe-Elster-Kreis erklärte mir im Rahmen einer Feldforschung zur Kultur des Unmuts: „Seit es den ‚Konsum‘ nicht mehr gibt, sieht man sich selten.“ Ein anderer Gesprächspartner erinnerte sich an die wöchentliche Bierlieferung, die immer am Dienstag kam und für die Männer den Anlass bot, sich nach Feierabend zu treffen und miteinander auszutauschen.4 Es sind diese kleinen, scheinbar wenig bedeutenden Alltagshandlungen, deren Verlust in der Summe aber zu spürbaren Veränderungen im Sozialgefüge ländlicher Räume führten und die sich dann im Dorfund Stadtbild widerspiegeln.

 

Orte der Begegnung verschwinden

 

Wie gravierend sich das Dorfbild im Zuge der Transformation veränderte, erfuhr ich in einem einstigen Gutsdorf in Sachsen. Ich fragte den ehemaligen Pfarrer, wie der Dorfalltag vor 1989 aussah, als die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) die Gutsgebäude mitten im Dorf nutzte. Er erinnerte sich an die vielen Menschen, die beschäftigt waren, an zahlreiche Lastkraftwagen, die tagtäglich Futtermittel und Mist transportierten, an eine große Schafherde, die morgens und abends durchs Dorf getrieben wurde, an die Schüler und Arbeiter an der Bushaltestelle und an die Kinder, die im Baum vor dem Friedhof kletterten. Die LPG-Gebäude stehen heute leer, und das Dorfzentrum wirkt fast wie ausgestorben. Einige Dorfbewohner erzählten mir, dass sie sich noch von früher aus der LPG kennen, sich heute aber kaum noch begegnen.5

Parallel zum Verschwinden vieler Orte der alltäglichen Begegnung, wie des „Konsums“, des Gasthofs oder des Gemeindebüros, veränderte sich der Alltag der Menschen durch das Auseinanderbrechen der Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Die neue Situation auf dem Arbeitsmarkt erzwang eine höhere Mobilität, die letztlich dazu führte, dass viele Menschen weniger Zeit zu Hause verbringen können. Damit steigt der Wert des Privaten, was sich unmittelbar auf das öffentliche Leben auswirkt. Hinzu kommen Unsicherheiten im Umgang mit geänderten sozialen Normen im Zuge der Transformation in Ostdeutschland, die den Rückzug in die Privatheit befördern.6

In einem vogtländischen Dorf beschrieb ein Wirt, der oft hinter dem Fenster steht und auf Kundschaft wartet, seine Beobachtungen zur gegenwärtigen Bewegung der Menschen im öffentlichen Raum des Dorfes: „Die Leute fahren morgens zur Arbeit und kommen abends zurück. Sie fahren vorbei, manchmal winken sie, dann drücken sie auf den Knopf, das Garagentor öffnet sich, und sie verschwinden auf ihren Grundstücken.“7

 

„Danke, dass Sie sich für unser Dorf interessieren!“

 

Der mobilere Arbeitsalltag und die Schließung von Orten, die spontane Begegnungen zulassen, werden von vielen Bewohnern als Verlust empfunden. Sie suchen nach Wegen, den Tendenzen der Entfremdung8 etwas entgegenzusetzen, wie ich es in einem kleinen Dorf in der Dahlener Heide erlebte. Hier besuchte ich ein Fest, das seit über zwanzig Jahren zum Abfischen des Karpfenteiches gefeiert wird, „damit im Dorf mal was los ist“, wie einer der Organisatoren erklärte. Hier haben die Dorfbewohner das Problem, dass es keinen geeigneten Raum zum gemeinsamen Feiern mehr gibt. Das Gasthaus mit dem Saal wurde geschlossen und an das Landratsamt zur Unterbringung von Geflüchteten verpachtet. Das Pfarrhaus ist verkauft, und damit ging auch der Gemeinderaum verloren. Ein Festzelt ersetzt für die Dauer des „Anglerfestes“ die fehlenden Versammlungs- und Festräume.9 Diese Entwicklung kann man in vielen Dörfern beobachten. Es werden Feste organisiert, um die Gemeinschaft zu stärken. Sie sind als Inszenierung lokaler Identitäten zu verstehen. Das Festzelt wird zum Zeichen für aufwendig organisierte Dorffeiern und den gleichzeitigen Verlust von Gasthöfen. Diese Form der Festkultur ist darauf ausgerichtet, das Gefühl von Dorfgemeinschaft zu reaktivieren. Man identifiziert sich nicht mehr über den direkten Kontakt im Alltag, sondern über Symbole. Die lokale Identität entwickelt sich zunehmend zum Konstrukt.10

Trotz all dieser Veränderungen gibt es sie, die Orte der alltäglichen Öffentlichkeit. In einem vogtländischen Dorf mit nicht einmal dreihundert Einwohnern wies man mich stolz auf die zwei Gasthöfe hin, die unter anderem deshalb bestehen können, weil sich die Vereine dort treffen.11 In anderen Dörfern, die ich besuchte, machten eigens errichtete und teilweise mit öffentlichen Mitteln geförderte Vereinsheime oder Gemeindehäuser den ortsansässigen Gastwirtschaften Konkurrenz und beschleunigten deren Verschwinden.

Es ist dabei zu unterscheiden zwischen den öffentlichen Orten, die allen – Einheimischen, Fremden oder Reisenden – zur Verfügung stehen, wie einer Gastwirtschaft, einem Dorfladen oder auch der Kirche, und jenen, die nicht für alle gedacht sind, weil sie nur von Vereinsmitgliedern und Ortskundigen genutzt werden, wie ein Sportplatz, der Jugendclub oder das Feuerwehrgebäude. Die hier gepflegte Öffentlichkeit ist als begrenzt zu betrachten. Auf diese Weise entstehen in vielen Orten Teilöffentlichkeiten. „Jeder macht hier sein Ding“, beklagten in einem solchen Dorf einige meiner Gesprächspartner das Auseinanderfallen der Dorfgemeinschaft.

In einem anderen kleinen vogtländischen Dorf schlossen die beiden Gasthäuser. Nun treffen sich die Männer zum Feierabendbier am Sportplatz. Im Gegensatz zum Wirtshaus ist dieser Treffpunkt nur Einheimischen bekannt, und auch die Frauen des Dorfes haben keine Lust, sich dort hinzusetzen. Somit war es recht ungewöhnlich, dass ich als fremde Frau im Rahmen meiner Feldforschung dort erschien, um mit den Männern über die Streichung der Pfarrstelle, ihr Verhältnis zur Kirche und das große Musikfest, das alle zwei Jahre im Dorf gefeiert wird, zu sprechen. Zur Verabschiedung sagte einer meiner Gesprächspartner: „Danke, dass Sie sich für unser Dorf interessieren.“ Dieser Satz ruft einen weiteren Aspekt von Öffentlichkeit ins Bewusstsein: Es ist der Aspekt der öffentlichen Wahrnehmung und Würdigung der Menschen, die in ländlichen Regionen leben und mit viel Engagement trotz der Schrumpfungsprozesse und des Strukturwandels das Dorfleben aktiv gestalten.

 

Angebot für mehr Öffentlichkeit

 

Die Fallbeispiele verweisen auf die Bedeutung öffentlicher Räume als Grundlage für öffentliches Handeln. Wo es an Orten fehlt, an denen man sich unkompliziert im Alltag begegnen kann, ist es aufwendiger, Gemeinschaftssinn aufzubauen. Daher wäre es sinnvoll, bei der Entwicklung ländlicher Räume auf die Erhaltung beziehungsweise Wiedergründung von Orten der Begegnung zu achten, die möglichst unkompliziert die Verknüpfung von Öffentlichkeit und Alltagswelt stärken. Betrachten wir den öffentlichen Raum als Bühne, wird deutlich, wie er uns erlaubt, verschiedene soziale Rollen einzunehmen. Mit dem Verschwinden öffentlicher Orte geht diese Möglichkeit, in unterschiedlichen Rollen Handlungssicherheit zu erlangen, verloren. Das führt nicht nur zu einer Entfremdung vom gesellschaftlichen Umfeld, sondern auch zur Selbstentfremdung. Das Selbst konstituiert sich in seiner Relationalität. In der „Beziehung zu anderen und anderem“ eignet sich das Selbst die Welt an.12

Die Gestaltung öffentlicher Räume, die es uns ermöglichen, im Austausch mit anderen unser Selbst zu entwickeln und dabei heimisch zu werden, ist eine Aufgabe für Stadt- und Dorfentwicklung gleichermaßen. „Heimat braucht ‚Inszenierungen‘ für Einheimische und Fremde – symbolische Handlungen, Zeichen und Bilder; sie braucht Bühnen und Akteure – und sie braucht ein neugieriges, teilnehmendes Publikum.“13 Dem zunehmenden Rückzug in die Privatheit sind daher ansprechende Angebote der Öffentlichkeit entgegenzusetzen, sollen Gemeinschaftssinn und zivilgesellschaftliches Engagement auch in Zukunft das Leben in unseren Kommunen prägen.

 

Juliane Stückrad, geboren 1975 in Eisenach, promovierte Volkskundlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Volkskundliche Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen im Thüringer Freilichtmuseum Hohenfelden.

 

1 Christine Hannemann: „Kleine Stadt, was nun?“, in: Bettina Reimann et al. (Hrsg.): Vielfalt gestalten. Integration und Stadtentwicklung in Klein- und Mittelstädten, Deutsches Institut für Urbanistik, Edition Difu – Stadt Forschung Praxis, Bd. 17, Berlin 2018, S. 45–61, hier S. 55, siehe https://difu. de/publikationen/2018/vielfalt-gestalten.html  [letzter  Zugriff:  28.07.2020].

2 Der viel zitierte Begriff geht zurück auf Albert Ilien / Utz Jeggle: Leben auf dem Dorf. Zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozialpsychologie seiner Bewohner, Opladen 1978.

3 Juliane Stückrad: „Die Perspektive der Stadt ist ja eigentlich die Perspektive der Menschen“. Eine ethnografische Studie zur Stimmungslage in Gößnitz, hrsg. von der Friedrich-EbertStiftung Landesbüro Thüringen, Erfurt 2020, S. 27–32.

4 Juliane Stückrad: Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit. Eine Ethnographie des Unmuts am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises im Süden Brandenburgs, Kiel 2010, S. 210–211.

5 Juliane Stückrad: Verantwortung, Tradition, Entfremdung. Zur Bedeutung von Kirche im ländlichen Raum. Eine ethnographische Studie in drei Dörfern des Regionalkirchenamtes Leipzig, Kohrener Schriften 2, Großpösna 2017, S. 19–20.

6 ​​​​​​​Bereits 1994 stellt Dietmar Wittich den Rückzug aus der Gesellschaft in die Privatsphäre für einen Großteil der ostdeutschen Bevölkerung fest. Er deutet dieses Verhalten als Ohnmacht gegenüber den herrschenden Verhältnissen, die durch das schnelle Tempo der Veränderungen noch gesteigert wurde; siehe Dietmar Wittich: Momente des Umbruchs. Sozialstruktur und Lebensqualität in Ostdeutschland, Berlin 1994, S. 165; Stückrad 2010, S. 214.

7 Feldforschung im Vogtland zur Bedeutung von Kirche in ländlichen Räumen, Juli 2018.

8 Rahel Jaeggi interpretiert Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. „Eine entfremdete ist eine defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat.“ Vgl. Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines philosophischen Problems, Frankfurt am Main 2005, S. 22–23.

9 Stückrad 2017, S. 24–25.

10 Beatrice Ploch / Heinz Schilling: „Region als Handlungslandschaft. Überlokale Orientierung als Dispositiv und kulturelle Praxis: Hessen als Beispiel“, in: Rolf Lindner (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen, Frankfurt am Main / New York 1994, S. 122–157, hier S. 124.

11 Feldforschung im Vogtland zur Bedeutung von Kirche in ländlichen Räumen, Juli 2018. Im Folgenden beziehe ich mich auf diese Studie.

12 Rahel Jaeggi 2005, S. 91, S. 197 f.

13 Christel Köhle-Hezinger: „Heimatinszenierungen. Beobachtungen zur ländlichen Geschichtskultur in der Gegenwart“, in: Christel Köhle-Hezinger: Alltagskultur profan – sakral, hrsg. von Anita Bagus / Kathrin Pöge-Alder, Münster 2011, S. 203–209, hier S. 209.

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