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Der Visionär als wahrer Realist

Zur Bedeutung von Technikvisionen

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Elon Musk, ein ausgesprochen visionärer Unternehmer, warnte kürzlich vor den Gefahren künstlicher Intelligenz (KI). Er sprach ihr eine zerstörerische Kraft zu, bis hin zu dem Bedenken, sie könne zum Auslöser eines Dritten Weltkriegs werden. Drohnen, die autonom töten können, sah er als Realisierung der Science-Fiction-Reihe „Terminator“. Musk steht mit solchen dramatischen Visionen nicht allein; Stephen Hawking äußerte sich hinsichtlich der KI-Forschung ähnlich. Aus historischer Perspektive finden sich derartige, apokalyptisch anmutende Prophezeiungen für fast alle Schlüsseltechnologien, sei es für die Atomkraft, für die Gen- oder Nanotechnologie oder für die künstliche Intelligenz. Der Widerspruch ließ nach Musks Äußerung nicht lange auf sich warten. Der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg attestierte dem Warner Musk ein begrenztes Verständnis der Materie, das zu Ängsten führe.

Zukunftsvisionen sind seit jeher umstritten. Die Debatte ist oft von einer Polarität der Enthusiasten und euphorischen Visionäre auf der einen und der Kritiker und Warner auf der anderen Seite charakterisiert. Wechselseitig werfen sie sich Unkenntnis, Hysterie, Leichtsinn oder Blindheit vor.

Technische Wunschbilder und Zukunftsvorstellungen gibt es, so betonte der Philosoph Ernst Bloch, bereits in Märchen, in denen beispielsweise ein Schlaraffenland existiert, Siebenmeilenstiefel oder Tarnkappen zur Verfügung stehen. Insbesondere das orientalische Märchen entfalte mit seinen technisch-magischen Phantasien, wie Bloch schrieb, den vollen „Glanz technischer Wunschbilder“. In der Bibel gibt es Propheten, die Antike kannte das Orakel, das Mittelalter ist voller Apokalyptiker und Seher.

 

Im Wartesaal der Zukunft

Dass man in die Zukunft als ein offenes Geschehen denkt und darüber streitet, wie sie aussehen wird und soll, ist jedoch ein modernes Phänomen. Glaubte man im Mittelalter an das „Buch des Schicksals“, in dem die Zukunft festgeschrieben sei, so bildete sich, wie der Historiker Lucian Hölscher herausgearbeitet hat, im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in Westeuropa unsere moderne Zukunftsvorstellung heraus. Das Konzept einer offenen und damit von Menschen gestaltbaren Zukunft entstand. Im 20. Jahrhundert versuchte die Futurologie, mannigfach Systeme zu entwickeln, um die Zukunft wissenschaftlich vorauszusagen. Sie wurde zum Objekt wissenschaftlicher Forschungen. Die Annahme ihrer Gestaltbarkeit machte es – das ist der Zwang der Moderne – nicht nur möglich, sondern vielmehr notwendig, Zukunftsentwürfe zu liefern, zu diskutieren und über die „richtige“ Zukunft zu streiten. Die Menschen befinden sich im Wartesaal der Zukunft, von wo aus sie versuchen, sie zu gestalten.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass immer wieder die Frage gestellt wird, ob Zukunftsentwürfe, seien es Visionen, Prophezeiungen oder Prognosen, Wirklichkeit werden. Der Wert eines Zukunftsentwurfs scheint sich daran zu bemessen, ob er sich realisiert. Nicht selten werden Beobachtungen geäußert, wie auch von Elon Musk, dass Aspekte aus dem Science-Fiction-Genre Realität zu werden scheinen. Vor nicht allzu langer Zeit fragte ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, inwieweit Ideen aus der Kultserie „Star Trek“ Wirklichkeit geworden sind (Christian Endt: „Mr. Spock lebt“, in: Süddeutsche Zeitung, 23.12.2016, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/science-fiction-mr-spock-lebt-1.3306446, letzter Zugriff am 02.11.2017). Der Autor konstatierte, dass die in der Science-Fiction verwendete Technik heute teils eine Selbstverständlichkeit geworden sei: die Funkgeräte vom Typ „Kommunikator“, die in der intergalaktischen Diplomatie so bedeutsame Videotelefonie oder der „Replikator“, der ungefähr dem 3-D-Drucker entspreche. Das „Beamen“ beziehungsweise die Teleportation allerdings stelle, so das Resümee, noch immer eine technische Vision dar, auf deren Verwirklichung zu warten sei.

Vielfach lassen sich solche – teils sehr kurzweiligen – „Evaluierungen“ vergangener Visionen finden. Gleichwohl verkürzt diese Frage die Bedeutung und Funktion von Zukunftsentwürfen. Es gibt gleichermaßen viele Beispiele für „Irrungen und Wirrungen“, wie sie kürzlich Joachim Radkau in einem Buch beschrieb (Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017), ebenso wie Beispiele für Visionen, die in ähnlicher Form verwirklicht wurden wie der Replikator aus der Star Trek-Serie. Sicher ist allerdings: Die Zukunft tritt selten so ein, wie sie sich die Zeitgenossen ausdachten. Zu komplex ist das Zusammenwirken unzähliger Akteure, zu wenig linear das Handeln der Menschen, zu überraschend und komplex sind die „Volten“ der Natur, seien es Vulkanausbrüche, Hochwasser oder Erdbeben, die die Menschen trotz ausgefeilter wissenschaftlicher Prognosemethoden noch allzu oft unvorbereitet treffen. Die primäre Funktion von Zukunftsentwürfen ist nicht, Zukunft vorauszusagen. Ihre Bedeutung und ihre Funktionen sind weitaus komplexer.

 

„Star Trek“ als Inspiration

Visionen sind eine Möglichkeit, Neues zu denken, Ideen zu entwickeln, sie auszumalen und auch auszutesten. Dass beispielsweise Science-Fiction vielfach als Inspirationsquelle für Naturwissenschaftler und Ingenieure diente, ist bekannt. Das scheinbar Phantastische wurde zum Leitbild der Technikentwicklung. Ernst Bloch, Philosoph des „Prinzips Hoffnung“, sprach davon, das Unvorstellbare möglich zu machen, es überhaupt in den Horizont der Phantasie zu bringen. Jules Vernes durchaus satirisch zu lesende Technikvisionen formulierten die Idee einer Rakete, machten sie anschaulich und greifbar, sodass sich über Jahrzehnte lang eine Gruppe von Enthusiasten und begeisterten Technikern so intensiv damit beschäftigten, bis Menschen 100 Jahre später zum Mond flogen.

Technikvisionen ermöglichen es, wie auch Brigitte Felderer in ihrem Buch schreibt (Brigitte Felderer: Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Wien/New York 1996) schreibt, „Unvorstellbares denkbar zu machen, ein Bild des Noch-nie-Gesehenen zu entwerfen“. Sie liefern „plausible Bedeutungen (…) für Vorgänge, die eigentlich außerhalb unseres Wissens und unserer Vorstellungswelt liegen“.

Damit wird eine Idee, und dies ist eine weitere Funktion von Zukunftsvisionen, zur Verhandlungsmasse. Die in der Vision entworfene Technik wird zum Thema gesellschaftlicher Diskurse, in denen ihr Sinn, ihre Versprechungen und ihr Nutzen diskutiert werden. Daher erzählen Technikvisionen zumeist Geschichten, die Technik in ihren Möglichkeiten präsentieren und verständliche Erklärungen bieten, wozu sie zu gebrauchen ist. Sie beschränken sich nicht allein auf die technische Darstellung, sondern entwerfen zugleich gesellschaftliche Szenarien, Bilder der Nutzung und meist auch eine mit der Vision verbundene heilere Welt oder – ganz im Gegenteil – mögliche Gefahren.

Visionen sind notwendiger Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, wie die Zukunft aussehen soll. Vor allem seit dem 20. Jahrhundert stellt technofuturistisches Denken ein bedeutendes Element der Technikdiskurse dar, indem Technologien als Lösung gegenwärtiger und künftiger Probleme interpretiert und verhandelt werden. Lange bevor etwas technisch realisierbar ist, wird es uns vorgeführt, können wir darüber diskutieren, es uns vorstellen und uns daran gewöhnen.

 

Gedankenexperimente mit Gewöhnungseffekt

Denn neben der Funktion von Visionen, völlig Neues zu denken und in ihrer Zeit teils skurril wirkende Ideen auszuprobieren, ist einer ihrer Effekte, dieses Neue und scheinbar Unmögliche vertraut zu machen. Ein Beispiel ist das Konzept des autonomen Fahrens. Bereits im Jahr 1914, als die Idee eines Autopiloten für Flugzeuge entwickelt wurde, diskutierte man auch, ob Automobile „selbst fahren“ könnten. Was in dieser Zeit der beginnenden Automatisierung phantastisch schien und zudem nicht in das Bild des sportlichen „Selbstfahrers“ passte, kommt in den folgenden Dekaden immer wieder als Idee vor, wie Felix Krämer herausgearbeitet hat. Der US-amerikanische Verkehrserziehungsfilm The Safest Place aus dem Jahr 1935 zeigte ein eigenständig fahrendes Auto als Vorbild für korrektes, regelkonformes und sicheres Fahren. Auf der New Yorker Weltausstellung 1939 wurde das autonome Fahren als Vision spektakulär inszeniert. In den 1950er-Jahren sind in amerikanischen Magazinen Bilder von futuristischen Wagen abgedruckt, in denen Familien entspannt sitzen und spielen oder lesen.

Es ging in diesen Konzepten um das Schaffen von Bildern und Erwartungen. Sie stellen den Vorlauf der Realisierung dar. Lange Zeit schienen diese Bilder Spielereien und unrealistische Phantastereien. Doch sind sie gleichwohl ein Leitbild der Technikentwicklung, das in kleinen Schritten umgesetzt wurde. Die lange gültige Einschätzung, dass Visionen von selbststeuernden Automobilen in den Bereich der Science-Fiction gehören, unterschätzt den langen und schrittweisen Prozess der Automatisierung im Automobilbereich. Seit den späten 1950er-Jahren gibt es sogenannte Fahrerassistenzsysteme: den Tempomaten, das Antiblockiersystem, Bremshilfen, den Abstandshalter bis hin zu Einparkhilfen. Visionen, die in der Welt sind, werden häufig nach und nach verwirklicht. Das autonome Fahren beginnt nun auf der Autobahn, nicht im komplexen Stadtverkehr. Der langsame Gewöhnungseffekt, die Teilschritte, mit denen Visionen „erreicht“ werden, werden in der Regel übersehen, wenn nach dem Realitätspotenzial von Visionen gefragt wird. Auch die Visionen Ray Kurzweils, der das Ende der Menschen im herkömmlichen Sinne prognostiziert und ihre Zukunft als körperlose Wesen auf einem digitalen Chip sieht, scheinen heute zu den grenzenlosen Phantastereien überdrehter Naturwissenschaftler zu gehören. Kurzweil weist aber auf einen wichtigen Punkt hin: Den Menschen scheint ein Gehirn auf dem Chip unmöglich und unvorstellbar. Doch vollzieht sich die Entwicklung, wie er betont, in kleinen Schritten. Inzwischen wandert Technik in Chipform unter die Haut, Menschen bezeichnen sich als „Cyborgs“, die Grenze zwischen künstlicher Technik und scheinbar natürlichem Körper ist längst verwischt. Kurzweil prognostiziert daher eine schrittweise Gewöhnung und Technikentwicklung. Das digitale menschliche Gehirn der „posthumanen“ Menschen wäre dann nur der Endpunkt einer allmählichen Entwicklung, in der ein Gedanke, der heute absurd erscheint, immer vertrauter und gleichsam natürlicher wird.

 

Grenzen des Vorstellbaren

Gleichwohl zeigt ein Blick in die Geschichte vergangener Technikvisionen ebenfalls, wie sich diese im Laufe der Zeit verschieben, verändern und insbesondere, dass es immer durch die Zeit bedingte Grenzen des Vorstellbaren gibt. Dies veranschaulicht die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Dystopie des Internet von Edward Morgan Forster mit dem Titel Die Maschine steht still (Hamburg 2016, Erstausgabe: 1909). Der Informatiker und Internetkritiker Jaron Lanier kommentierte, es handele sich vermutlich um „die früheste und wahrscheinlich auch heute noch treffendste Beschreibung des Internet“. Forster zeichnet eine beklemmende, in der Apokalypse endende Dystopie. Anfangs dominiert Bequemlichkeit und grenzenlose Verfügbarkeit. Alles, was die Menschen wünschen, erhalten sie per Knopfdruck, sei es die Kommunikation mit anderen Menschen, sei es eine ärztliche Diagnose, ein Buch oder ein warmes Bad. Die „Maschine“, die das alles ermöglicht, ist ein technisches System, das im Hintergrund verbleibt. Doch endet alles im Stillstand der Maschine, womit – gleichsam mit dem totalen Versagen einer kritischen Infrastruktur – das Leben unmöglich wird.

Technikvisionen und auch Forsters Dystopie sind in zweifacher Weise zeitgebunden. Sie sind stets eine Kreuzung aus Vergangenheit, erlebter Gegenwart und Fiktionen. Forster kannte die Telegrafie, die Telefonie sowie die zeitgenössischen Diskurse um das Verschwinden von Raum und Zeit – Konzepte und Gedanken, die er weiterspann. Die Zukunft hat jeweils, mit einem späteren Wort Robert Jungks, schon begonnen.

Was jedoch fehlt in Forsters in vieler Hinsicht hellsichtigen Vision, ist Angst vor Kontrolle und das Thema der Überwachung. Kontrolle war nicht das zentrale und beunruhigende Problem seiner Zeit, das die Zukunftsentwürfe anleitete. Dies änderte sich seit den 1920er-Jahren mit den großen Kontrolldystopien von Jewgeni Samjatin, Aldous Huxley und George Orwell. So wie die Visionen und Dystopien einerseits ihre Gegenwart spiegeln, die sie phantasievoll verlängern, so liegen andererseits in den zeitgenössischen Denk- und Problemkonstellationen Grenzen der Phantasie.

Zukunftsentwürfe sind immer Exkursionen in eine unbekannte Zukunft, die dabei zugleich den Grenzen des gegenwärtigen Denkens unterliegen. Die Frage, ob Visionen Wirklichkeit wurden, ob Prognosen eintrafen, ist daher zu schlicht. Zum einen kann es viele Jahrzehnte dauern, gar Jahrhunderte, bis eine vormals gedachte Vision Wirklichkeit wird. Zum anderen handelt es sich häufig nur noch um die Grundidee, den Kern einer Vision, während die gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte die Bedeutung und Wirkung der Idee veränderten. Zukunftsentwürfe treten nie so ein, wie sie die Zeitgenossen gedacht haben, aber nicht selten in verschobener Form. Dies liegt auch daran, dass Visionen Teil des notwendigen und unabdingbaren gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses über die Zukunft sind und diese mitgestalten. Im Wartesaal der Zukunft wird mit Entwürfen und Visionen die Zukunft gestaltet, die häufig viel später und anders kommt.

 

Denkanstöße, Experimentalräume und Kompass

Der Blick in die Geschichte vergangener Visionen lässt sich zweifellos als skurrile und amüsante Geschichte phantastischer Ideen von fliegenden Autos, Menschen auf dem Mars oder „gebeamten“ Sternenflottenoffizieren schreiben; auch als Geschichte stets falscher Erwartungen. Sie lässt sich jedoch auch erzählen als eine Geschichte der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse über die Zukunft, über identifizierte Probleme und über angedachte Lösungen, über Wunschvorstellungen, wie die Gesellschaft auszusehen habe.

Der Blick in die Geschichte von Technikvisionen zeigt, dass sie ernst zu nehmen sind; nicht als Vorhersagen, sondern als Teil der Frage, wie Menschen leben wollen. Sie sind Denkanstöße, Experimentalräume und Kompass. Sie sind Teil der Zukunftsgestaltung, auch wenn sie wieder vergessen wurden, es anders kam, sie „nur“ in verschobener Version oder nach vielen Jahren in völlig anderen Kontexten Realität werden. Der einzig wahre Realist sei der Visionär, so der italienische Regisseur Federico Fellini.

 

Martina Heßler, geboren 1968 in Bad Nauheim, Professorin für Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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