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Der lange Krieg ist nicht zu Ende

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Im Jahr 2005 begannen US-amerikanische Militärs und Politiker vermehrt von einem „langen Krieg“ zu sprechen. Damit wollten sie darauf hinweisen, dass der Kampf gegen al-Qaida und andere dschihadistische Gruppierungen eine langfristige Herausforderung sei, die die amerikanische Politik noch jahrzehntelang beschäftigen werde. Einige vertraten sogar die Auffassung, der lange Krieg gegen die Terroristen werde zum bestimmenden Thema der US-Weltpolitik im 21. Jahrhundert und in seiner Bedeutung und Dauer dem Ost-West-Konflikt in nichts nachstehen.

Das Fiasko im Irak nach 2003 und der ab 2005 einsetzende Aufstand in Afghanistan führten in der amerikanischen Politik rasch zu Widerstand gegen die 2001 begonnenen Kriege. Barack Obama punktete im Wahlkampf von 2008 mit dem Versprechen, die amerikanischen Truppen aus dem Irak abzuziehen, und zeigte sich auch gegenüber dem Einsatz in Afghanistan skeptisch. Auch sein Nachfolger Donald Trump sicherte seinen Wählern zu, das US-Militär aus den „endlosen Kriegen“ – so der US-Präsident – zurückzuziehen. Dass so unterschiedliche Politiker wie Obama und Trump die Kriege ihres Vorgängers George W. Bush ablehnten, ist ein Hinweis darauf, dass es sich hier um eine neue Konstante der amerikanischen Politik handeln dürfte – schon weil das politische Washington in dem Aufstieg Chinas die große Herausforderung amerikanischer Weltpolitik im 21. Jahrhundert sieht. Doch ist die dschihadistische Bewegung trotz aller Rückschläge vergangener Jahre heute deutlich stärker als noch 2001 oder 2003, sodass der lange Krieg andauert – auch wenn er beileibe nicht mehr das beherrschende Thema amerikanischer Politik ist wie noch 2005.

 

Neue Operationsgebiete

 

Die al-Qaida Osama Bin Ladens geriet zwar ab 2001 so stark unter Druck, dass sie in ihren Rückzugsgebieten in Afghanistan und Pakistan fast zerschlagen wurde. Doch begann sie schon 2003, regionale Ableger in mehreren Ländern der arabischen Welt aufzubauen, die die terroristische Initiative übernahmen – in Saudi-Arabien, im Irak, in Algerien und in der Sahara, im Jemen und in Syrien. Auch wenn diese Gruppen in den letzten Jahren oft im Schatten des Islamischen Staates (IS) operierten, bleiben sie in vielen Ländern und Regionen eine große Gefahr. Ähnliches gilt für den IS selbst, der im Irak und in Syrien zwar militärisch geschlagen wurde, doch mit Tausenden Kämpfern weiterhin im Untergrund beider Länder operiert. Außerdem hat er seit 2014 nach dem Vorbild von al-Qaida Regionalorganisationen gegründet, die nicht nur in Libyen, der Sahara und der Sahelzone, im Jemen und im Kaukasus, sondern auch in Afghanistan und auf den Philippinen kämpfen.

Es ist vor allem die Instabilität in weiten Teilen der arabischen und islamischen Welt – die durch die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen weiter verstärkt wird –, die den Dschihadisten seit dem Arabischen Frühling von 2011 neue Operationsgebiete eröffnete. Sie profitierten wie kaum ein anderer Akteur von den Unruhen, Aufständen, Bürgerkriegen und ausländischen Interventionen, die den Nahen Osten erschüttern. Daran dürfte sich auch in den nächsten Jahren nichts grundlegend ändern, denn der amerikanische Rückzug führt schon heute dazu, dass Staaten versuchen, das entstehende Vakuum zu füllen. Schon seit Jahren kämpfen Iran und Saudi-Arabien erbittert um die Vormachtstellung im Nahen Osten und haben so dazu beigetragen, dass die Kriege in Syrien, im Irak und im Jemen andauern. Auch die Türkei und Russland intervenierten in Syrien und Libyen und zuletzt im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien und befeuern so die Konflikte dort.

Besonders dramatisch ist die Lage 2020 in Afghanistan, wo die USA schon jetzt ihre Truppenpräsenz auf ein absolutes Minimum verringert haben und die Taliban sich anschicken, in dem Land, in dem vor fast zwanzig Jahren der lange Krieg der USA begann, erneut die Macht zu übernehmen. Hiervon dürfte nicht nur al-Qaida profitieren, die schon seit 1996 eng mit den afghanischen Islamisten verbündet ist. Auch der in Afghanistan seit Jahren aktive Islamische Staat (IS) wird die Lage zu nutzen wissen, sodass am Hindukusch erneut das Epizentrum des internationalen Terrorismus entstehen könnte. Der amerikanische Rückzug aus Afghanistan ist jedoch nur ein besonders dramatisches Beispiel für die Folgen nachlassenden Engagements der USA. Denn diese haben trotz all ihrer Fehler im langen Krieg gegen die Dschihadisten auch die größten Erfolge verzeichnen können. Der 2007 unter Präsident Bush begonnene und von Obama stark ausgeweitete Drohnenkrieg ebenso wie der Einsatz von Spezialkräften schwächten die Terroristen in Pakistan, Afghanistan und im Jemen so sehr, dass sie nicht mehr in der Lage waren, internationale Anschläge zu verüben. Im Irak und in Syrien schließlich trugen die USA maßgeblich dazu bei, dass das Kalifat des IS ein rasches Ende nahm. Sind sie im Nahen Osten künftig weniger präsent, wird es schwieriger, die Dschihadisten in Schach zu halten, als bisher.

 

Konsequenzen für Europa

 

Dies betrifft auch Europa, denn es ist im (offenkundigen) Unterschied zu den USA ein unmittelbarer Nachbar des Nahen Ostens. Wie gefährlich es auch in Berlin, Paris oder London werden kann, zeigte sich zuletzt in den Jahren 2014 bis 2017, als der IS eine Welle von Anschlägen in Europa verübte. Die schiere Zahl der Dschihadisten in Syrien, Fortschritte bei der Verschlüsselung von Kommunikationsmitteln und die Wirren der Flüchtlingskrise machten es auch für die US-Nachrichtendienste unmöglich, alle Planungen rechtzeitig aufzudecken. Seit Jahren hatten sich Politiker in den europäischen Hauptstädten daran gewöhnt, dass solche Pläne bereits durch die Tötung von Terroristen in Pakistan und Afghanistan vereitelt wurden. Zellen, die dennoch in Europa operierten, wurden durch die Überwachung ihrer Kommunikation durch NSA und CIA enttarnt. Die Anschläge von Paris im November 2015, in Brüssel im März und in Berlin im Dezember 2016 zeigten, dass die US-Dienste die Kontrolle verloren hatten.

Zwar gelang es den USA, den IS im Nahen Osten in die Defensive zu drängen und die Überwachung der Telekommunikation erneut auf den notwendigen Stand zu bringen, sodass große Anschläge in Europa nach 2017 ausblieben. Doch zeigte dieser Erfolg auch zum wiederholten Male, wie abhängig von Amerika die Europäer in der Terrorismusbekämpfung sind. Frankreich und Großbritannien haben zumindest starke Geheimdienste und nahmen auch am Kampf gegen den IS im Irak und in Syrien teil. Deutschland hingegen hält seine Nachrichtendienste schwach und beteiligte sich auch an der Anti-IS-Koalition lediglich mit eher symbolischen Beiträgen. Setzt sich der US-Rückzug aus dem Nahen Osten in den nächsten Jahren fort, könnten neue Sicherheitslücken entstehen, wenn Europa diese nicht füllt und vor allem Deutschland nicht viel mehr in seine Terrorismusabwehr investiert. Dazu gehören selbstverständlich starke Nachrichtendienste, einsatzfähige Spezialkräfte und bewaffnete Drohnen. Vor allem ist aber die Einsicht gefragt, dass der lange Krieg gegen die Dschihadisten auch nach dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan und dem Irak andauern wird und dass mehr denn je eine ernsthafte deutsche Beteiligung an der Seite der Verbündeten gefragt ist.

 

Guido Steinberg, geboren 1968 in Trier, Islamwissenschaftler und Experte für islamistischen Terrorismus, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.

 

Literaturhinweis

Steinberg, Guido: Krieg am Golf. Wie der Machtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien die Weltsicherheit bedroht, Droemer Knaur, München 2020.

 

 

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