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Über Erwartungen und das Paradoxe daran

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Erwartungen sind Annahmen, Hoffnungen, Wünsche oder Sehnsüchte über die Zukunft. Sie finden sich zu allen Zeiten in sämtlichen Lebensbereichen. Gerade in der Politik spielen Erwartungen eine zentrale Rolle. Bei den Bürgern erzeugen Parteien zum Beispiel die Erwartung, dass sie Zukunft positiv gestalten werden. An sich selbst richten Parteien die Erwartung, eine Mehrheit zu stellen und ihr Programm so weit wie möglich umzusetzen. Von den Bürgern dürfen sie umgekehrt erwarten, dass diese Demokratie leben und ihre Stimme abgeben. Die Bürger entscheiden sich für die Wahl einer Partei in der Erwartung, dass diese ihre Versprechen erfüllt.

Erwartungen prägen im Sinne des Konstruktivismus, wie wir die Welt wahrnehmen; sie regen Emotionen, Kognitionen und Verhalten an. Die Zufriedenheit mit unserer allgemeinen Situation bewerten wir daran, was wir erwarten oder erwartet haben, und nicht daran, was „objektiv“ ist.

Der Einfluss von Erwartungen zeigt sich sowohl auf der Ebene des Individuums als auch auf der Makro-Ebene: So kann etwa die Meldung des gleichen Gewinns bei der einen Firma einen steigenden Aktienkurs auslösen, da die Zukunftserwartung am Markt positiv ist, während der Aktienkurs bei einer anderen Firma sinkt, weil die Erwartung der Analysten eine höhere war. Auch aus der Politik kennen wir dieses Phänomen: Eine Partei feiert das Wahlergebnis von sechs Prozent als Sieg, etwa weil die Fünf-Prozent-Hürde überwunden wurde, während in einer anderen Partei Frustration herrscht, weil bei der letzten Wahl zehn Prozent erreicht wurden. Die Beispiele zeigen sowohl die positiven Konsequenzen erfüllter oder übertroffener Erwartungen als auch die negativen Konsequenzen enttäuschter oder überzogener Erwartungen.

 

Bewusste und unbewusste Erwartungen

 

Die Auseinandersetzung mit einigen Facetten von Erwartungen und die Analyse der Bezüge zum Berufs- und Privatleben sowie auch zum Gesellschaftsleben und zur Politik können verdeutlichen, wie wichtig jeweils Erleben und Verhalten aufgrund von Erwartungen sind.

Erwartungen an sich selbst: Menschen haben Erwartungen an sich selbst. Ein Sportler hat Erwartungen an seine Leistung. Man hat die Erwartungshaltung an sich, als guter Bürger wählen zu gehen. Die Erwartungen sind sowohl Pflichten, die man sich auferlegt, als auch Rechte, die man einfordern kann. Erwartungen an die eigene Person entstehen durch Sozialisation, auf Basis eigener Werte und Normen oder aufgrund der individuellen Motivstruktur (etwa Leistungs-, Macht-, Anschlussmotiv). Sind die Erwartungen an sich selbst überzogen und somit unerfüllbar, können sie krank machen, wenn man dem eigenen Erwartungsdruck nicht standhalten kann.

Erwartungen anderer an die eigene Person: Nicht nur wir selbst, auch andere (Menschen, Institutionen, Parteien, Firmen und so weiter) haben Erwartungen: etwa dass man sich regelkonform verhält oder ein bestimmtes Konsumangebot wahrnimmt. Die Erwartungen können auch (nur) wahrgenommene Erwartungen sein; das heißt, man interpretiert und konstruiert Erwartungen von anderen. Diese beeinflussen unser Handeln, denn vielleicht unterscheiden sich diese Erwartungen von denen, die wir selbst haben; wir stehen vor der Frage: Kann und will ich diese Erwartungen erfüllen?

Erwartungen an andere: Auch unsere Erwartungen an andere (Personen, Institutionen, die Demokratie, Parteien, die Zukunft) unterscheiden sich bezüglich ihrer Höhe. Je nach dem sind sie leicht bis unmöglich zu erfüllen. Diese Erwartungen können sich aus Traditionen, Erfahrungen der Vergangenheit oder aus Rechten ableiten, wie etwa dem Recht auf ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben. Gleichzeitig leiten wir aus unseren Erwartungen ab, dass sich andere an ihre Pflichten halten und zum Beispiel ihre Steuern bezahlen. Dabei spielen unsere Erwartungen an uns selbst eine Rolle: Haben wir an andere die gleichen Erwartungen wie an uns selbst?

 

Resignative Zufriedenheit

 

Es gibt auch übergeordnete Erwartungen, die etwa mit Transzendenz verbunden sind: Wie wird das Leben nach dem Tod sein? Es ist außerdem zwischen bewussten und unbewussten sowie expliziten und impliziten Erwartungen zu unterscheiden. Erwartungen können sehr bewusst sein, wenn es etwa um Rechte und Pflichten geht. Aber auch unbewusste Erwartungen können verhaltenssteuernd sein. Viele Menschen machen sich beispielsweise nie darüber Gedanken, ob die eigenen Kinder erwarten, dass man für sie „zuständig“ ist – trotzdem erfüllt man diese Erwartung.

Oft sind Erwartungen implizit; sie werden nicht explizit formuliert. Das bedeutet: Es kann unklar bleiben, was genau erwartet wird, beispielsweise, wenn jemand eine neue Arbeitsstelle antritt. Es entstehen implizit die Erwartungen, wie der sogenannte „psychologische“ beziehungsweise „implizite“ Vertrag postuliert, dass der Arbeitgeber Vertrauen, Loyalität und Engagement erwartet. Der neue Mitarbeiter erwartet von seinem Arbeitgeber ebenfalls Vertrauen und Loyalität, was zum Beispiel in einer fairen Bezahlung zum Ausdruck kommt. Oft stellt sich jedoch gerade bei impliziten Erwartungen in Krisen- oder Konfliktfällen die Frage, was tatsächlich erwartet wurde und ob alle das gleiche Verständnis von den Erwartungen des jeweils anderen hatten.

Gesetzte Erwartungen werden oft als Versprechen interpretiert. So wird etwa das Versprechen von Parteien, Steuern zu erhöhen oder nicht zu erhöhen, oft als klare Erwartungshaltung formuliert; die Nichteinhaltung schafft häufig Glaubwürdigkeits- und Vertrauensprobleme, die zum Teil nicht mehr revidierbar sind. Es gilt deshalb für alle Seiten, mit Erwartungen reflektiert umzugehen.

Erwartungen können erfüllt, nicht erfüllt oder sogar übererfüllt werden. Erfüllte Erwartungen erzeugen Zufriedenheit, nicht erfüllte Erwartungen meist Unzufriedenheit. Entscheidend ist jedoch nicht die objektive Lage, sondern der Vergleichsstandard. Was kann man also aufgrund von Selbst- und Fremderfahrungen erwarten? Was ist ein zufriedenstellendes Ergebnis? Menschen sind oft unzufrieden mit ihrem Partner, mit der Kirche, einer Partei, ihrer Firma, weil die täglichen oder jährlichen Erfahrungen unter dem Erwartungsniveau sind, das sie früher einmal oder durch Vergleiche mit anderen hatten.

Das Erfüllen von Erwartungen geht eng mit gegenseitiger Loyalität und gegenseitigem Vertrauen einher. Doch wenn – wie etwa beim chaotischen Abzug aus Afghanistan – die Erwartungen vieler, vor allem auch der Ortskräfte, enttäuscht wurden, werden Loyalität und Vertrauen aufs Spiel gesetzt – teils sogar weit über den Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Erwartungen mit der Verantwortung einhergehen, diese bestmöglich zu erfüllen. Offenbar werden allzu oft Erwartungen geschürt und Versprechungen gemacht, ohne sich der eigenen Verantwortung für ihre Erfüllung und der Konsequenzen ihrer Nicht-Erfüllung bewusst zu sein. Die Nicht-Erfüllung schafft Glaubwürdigkeits- und Vertrauensprobleme, die zum Teil nicht mehr revidierbar sind. Grundsätzlich sollte man sich fragen: Welche Erwartungen sollen erzeugt werden? Bestehen die Intention und die Fähigkeit, diese Erwartungen zu erfüllen? Was ist der Preis für die Erfüllung und die Nicht-Erfüllung dieser Erwartungen?

Es gilt aber immer: Wer die Erwartungen der Menschen nicht kennt, wird sie (die Menschen ebenso wie die Erwartungen) nicht erreichen. Man muss sie nicht immer erfüllen; wichtig ist jedoch, sie zu kennen und dann zu begründen, warum man sie nicht im gewünschten Ausmaß erfüllen kann.

 

Politische Gratwanderung

 

Ob man aus Unzufriedenheit aufgrund unerfüllter Erwartungen handelt und eine Beziehung beendet oder die Partei wechselt, hängt auch von der nächstbesten Alternative ab: Nur wenn diese positiver als die momentane Situation bewertet wird, handeln wir – wobei auch beim Bewerten der Alternative Erwartungen eine große Rolle spielen. Und oft bleiben Menschen trotz Unzufriedenheit in ihrer Partnerschaft, bleiben in der Kirche, wählen die Partei wieder, weil sie keine bessere Alternative sehen. Menschen können so etwas wie eine resignative Zufriedenheit entwickeln. Der Zustand ist zwar schlechter, als sie erwartet haben, aber sie haben keine Alternativen. Es ist dann oft auch so, dass Staaten mit einer schlechteren Ausgangslage als entwickelte Industrieländer dieselbe Lebenszufriedenheit haben, einfach weil sie geringere Erwartungen hatten und diese auch in dem Sinne vergleichen, dass alles noch schlechter sein könnte.

Eine Partei versucht, im Wahlkampf Menschen für ihre Ziele zu gewinnen, indem sie sich inhaltlich positioniert, als attraktiv darstellt und implizit oder explizit Erwartungen erzeugt, die Zukunft für ihre Wähler zu verbessern. Dies ist eine Gratwanderung, denn die politischen Parteien müssen auf der einen Seite positive Erwartungen formulieren, um attraktiv zu sein; auf der anderen Seite dürfen die Erwartungen nicht zu hoch sein, weil sonst die Enttäuschung vorprogrammiert ist, wenn sie nicht umgesetzt werden können.

Sinnvoll ist es, zu reflektieren, ob Erwartungen an sich selbst oder andere realistisch oder unrealistisch sind. Ob sie adäquat sind oder nicht. Sinnvoll ist auch die permanente Anpassung der eigenen Erwartungen, um Enttäuschungen zu minimieren. Diese Reflexion beinhaltet auch, Erwartungen zu hinterfragen und sich gegebenenfalls von ihnen zu lösen: beispielsweise, wenn man an der Karriere festhält, obwohl man die Familie vernachlässigt – und die Erwartung, beiden Rollen zu hundert Prozent gerecht zu werden, unerfüllbar ist. Wichtig ist es deshalb, immer auch zu fragen: Was ist der Preis der Erwartung und der damit verbundenen notwendigen Verhaltensweisen? Oft ist ein permanenter Konflikt: Wo will und muss ich Erwartungen erfüllen, und wo muss ich loslassen?

Eine Anpassung der eigenen Erwartungen ist allerdings nicht die einzige legitime Reaktion auf enttäuschte Erwartungen. Man darf – gerade auch in der Politik – nachfragen, Kritik üben, verlangen, dass Konsequenzen gezogen werden. Insofern können enttäuschte Erwartungen auch ein Impuls zur kritischen Reflexion und sogar ein Auslöser zum Setzen neuer Erwartungen sein.

 

Offen sein für Neues

 

Mit Erwartungshaltungen kann immer auch eine Selffulfilling Prophecy verbunden sein. Das heißt, dass durch die Erwartungshaltung und durch die damit verbundenen Aktivitäten sich sowohl das Positive als auch das Negative verwirklichen können. Erwartungen können also Fluch und Segen sein. Die Kraft von Erwartungen zeigt sich in vielen ökonomischen Bereichen, zum Beispiel im Konsumklimaindex. Positive individuelle und kollektive Erwartungen an die Zukunft, die in den Medien verstärkt werden, aktivieren Menschen zum Konsum – ebenso der sogenannte Ifo-Index, der besagt, dass positive Einschätzungen der wirtschaftlichen Zukunft die Bereitschaft steigern, das Investitionsvolumen zu erhöhen.

Die Erwartungen, die Menschen in einer Gesellschaft haben, und die Erwartungen, die sie an Institutionen richten, sagen viel über die Stimmung in der Gesellschaft aus: Sind die Erwartungen hoch, spricht das für eine positive Grundhaltung, dass diese Erwartungen vielleicht erfüllt werden können.

Die Kunst ist, sich verschiedener Facetten von Erwartungen bewusst zu sein und sich die Freiheit zu nehmen, in gewissen Bereichen bewusst keine Erwartungen zu hegen, um offen zu sein für Neues. Durchaus aber auch zu reflektieren, ob die Unzufriedenheit in der Partnerschaft oder mit dem politischen System, der Firma oder der Kirche damit erklärbar ist, dass die eigenen Erwartungen möglicherweise zu hoch waren. Die Kunst ist auch, weiterhin zu reflektieren, wo man selbst Akteur und nicht nur Beobachter sein muss, damit bestimmte Zustände erreicht werden.

Erwartungen entwerfen positive Zukunftsbilder. Erwartungen an eine bessere Zukunft sind der Motor für Fortschritt und Entwicklung. Auch die Aufgabe von Politik besteht darin, ein positives Zukunftsbild für ein Land zu zeichnen und dieses zu realisieren. Bürger sind allerdings nicht nur Erwartungsträger, die ihre Erwartungen an die Politik richten. Sie sind selbst Akteure, die dazu beitragen können, ihre Erwartungen auch jenseits der Wahlkabine in der Gesellschaft zu verwirklichen. Die Hoffnung ist, dass Menschen ihre Erwartungen teilen. Und für den Fall, dass es nicht so ist, bleibt die gemeinsame Erwartung, in einer offenen Gesellschaft zu leben, die sich durch Freiheit, Toleranz, Humanität, Verantwortlichkeit und eine kritisch-rationale Diskussion auszeichnet.

 

Dieter Frey, geboren in Baiersbronn, Sozial- und Wirtschaftspsychologe, Leiter des „LMU Center for Leadership and People Management“ und ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dieter Frey ist im Ökonomenranking 2020 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter den ersten dreißig Personen gelistet.

Nadja Bürgle, geboren 1991 in Landsberg am Lech, „LMU Center for Leadership and People Management“, Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München.

Mariella Stockkamp, geboren 1993 in Bad Soden am Taunus, promovierte Psychologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Trainerin, „LMU Center for Leadership and People Management“, Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München.

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