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Die Proteste im Iran

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Protestrufe hallen seit Monaten durch die Straßen iranischer Städte und finden ein internationales Echo: Die Parole Jin, Jiyan, Azadî auf Kurdisch – Zan, Zendegi, Azadi auf Persisch – steht für das Auflehnen der Iranerinnen und Iraner gegen das Regime der Islamischen Republik und hat ihren Ursprung in der Überzeugung der kurdischen Frauen- und Freiheitsbewegung: Wenn das Leben einer einzelnen Frau nicht sicher ist, so kann es kein Leben und keine Freiheit für alle geben.

Nicht sicher war das Leben von Jîna Mahsa Amini, einer 22-jährigen kurdischen Iranerin, die Mitte September 2022 in Teheran von der berüchtigten Sittenpolizei verhaftet wurde, weil sie gegen die rigiden Kleidervorschriften für Frauen verstoßen haben soll. In der Haft wurde sie misshandelt und verstarb. Die Protestwelle, die als Reaktion durch Aminis Tod in ihrer Heimatstadt in einer kurdischen Provinz einsetzte, breitete sich landesweit aus. Mit dem Ruf „Frau, Leben, Freiheit“ der einsetzenden revolutionären Bewegung verband sich nicht nur die Forderung nach der Einhaltung von Frauen- und Menschenrechten, sondern auch die Stellung der Systemfrage und die Forderung nach nichts weniger als der Abschaffung der Islamischen Republik.

Angeführt von Frauen – jenen, die das Kopftuch aus Protest ablegten, an der Seite derer, die sich für das Tragen des Kopftuchs entschieden – und der Jugend, der iranischen Generation Z, formierte sich der Protest an Schulen und Universitäten im Land. Demonstrierende skandierten „Tod dem Diktator“ gegen die höchste Autorität im Land, den Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, und zerstörten seine Bildnisse in der Öffentlichkeit.

 

„Kriegsführung gegen Gott“

 

Das Regime und sein vielschichtiger Sicherheitsapparat reagierten nach bekanntem Schema und mit erbarmungsloser Härte. Zugänge zum Internet und Mobilfunknetz wurden gekappt, Proteste gewaltsam aufgelöst und Massenverhaftungen auch in Krankenhäusern und Schulen vorgenommen. Hunderte Demonstrierende wurden getötet, darunter mehrere Dutzend Minderjährige; über 18.000 Menschen wurden inhaftiert und Schülerinnen und Schüler in Umerziehungsanstalten eingeliefert.

Eine überwältigende Mehrheit der iranischen Parlamentarier forderte die Justiz im November 2022 dazu auf, Protestierende wegen „Kriegsführung gegen Gott“ und Efsad fil-Arz, „Korruption auf Erden“, zum Tode zu verurteilen.

Die Basidsch-Milizen – eine mit den Revolutionswächtern verbundene Freiwilligenmiliz – wurden zum Sinnbild der staatlichen Gewaltexzesse gegen Protestierende, und das berüchtigte Evin-Gefängnis, in dem unzählige politische Gefangene inhaftiert sind und gefoltert werden, wurde zur Teheraner Bastille. Dieser Repression zum Trotz scheint ein großer gesellschaftlicher Umbruch im Gange zu sein mit dem Ziel, die von den Khomeinisten nach 1979 durchgesetzte Islamisierung von Staat und Gesellschaft umzukehren.

Die jüngsten Proteste sind Teil eines längerfristigen Prozesses. Sie reihen sich ein in einen wiederkehrenden Protestzyklus, dessen Frequenz allerdings über die letzten 43 Jahre zugenommen hat.

Nach der Islamischen Revolution von 1979, die die Islamische Republik Iran begründete, und dem Studentenaufstand von 1999 gingen 2009 im Zuge der sogenannten Grünen Bewegung erstmals Millionen Iranerinnen und Iraner auf die Straßen. Die Proteste entzündeten sich an der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Bei den Wahlen witterten viele Betrug, und Protestierende, hauptsächlich Angehörige der städtischen Mittelschicht, forderten unter dem Slogan „Wo ist meine Stimme?“ politische Reformen. Die Proteste wurden nominell von Präsidentschaftskandidat Mir-Hossein Mousavi, einem ehemaligen Premierminister, und Mehdi Karroubi, einem ehemaligen Parlamentspräsidenten, angeführt – beide stehen bis heute unter Hausarrest.

Darüber hinaus gab es Demonstrationswellen, die durch wirtschaftliche Missstände angetrieben wurden. Auslöser für die Dey-Proteste 2017/18 waren erhöhte Preise für Nahrungsmittel und Grundgüter, den Aban-Protesten vom November 2019 ging eine Verdreifachung der Benzinpreise voraus. Erstmals richteten sich auch die ärmeren Gesellschaftsschichten, die zuvor als loyale soziale Basis der Islamischen Republik betrachtet wurden, gegen die politische Elite – inklusive gegen systemtreue Reformer, die zu Zeiten der Grünen Bewegung vielen noch als Hoffnungsträger gegolten hatten.

 

Neue Dynamiken

 

Auch wenn die Mittelschicht sich nicht an diesem Aufbegehren beteiligte, so blieb jedoch die Brutalität des Regimes, das Hunderte Demonstranten tötete, im kollektiven Gedächtnis. Vor allem aber wurde deutlich, dass auch die „Reformer“ des Regimes in der Bevölkerung ihre Legitimität eingebüßt hatten. So waren die Slogans dieser beiden Protestwellen bereits revolutionär.

Die aktuellen Proteste verbinden verschiedene Elemente des vergangenen Aufbegehrens, weisen aber auch neue Dynamiken – allen voran eine schichtenübergreifende Solidarität – auf, die in ihrer Kombination eine Gefahr für das Regime darstellen könnten.

Erstens stehen nun auch Frauen an der Spitze der Proteste, ein Ergebnis ihres langjährigen Kampfes um mehr Selbstbestimmung. Zudem ist es vor allem die iranische Jugend, die Generation Z – eine weltoffenere, internetaffine und zunehmend areligiös eingestellte Generation –, die die Proteste seit Beginn getragen hat. Der stellvertretende Kommandeur der Revolutionsgarden berichtete anfangs, das Durchschnittsalter der festgenommenen Demonstranten liege bei nur fünfzehn Jahren. Universitäten sind seit jeher Zufluchtsorte für Debatten und Dissens sowie Schmelztiegel des Protests im Iran, so auch am Vorabend der Revolution von 1979. So schlossen sich auch Elite-Universitäten wie etwa die Sharif University of Technology der Protestbewegung an.

Zweitens stehen die Proteste inzwischen auf einem breiten gesellschaftlichen Fundament: Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, aber auch die Arbeiterschicht, der Mittelstand und die Basaaris (Geschäftswelt) schließen sich ihnen an. Jîna Mahsa Amini war als Sunnitin und Kurdin in einer doppelten Minderheitenposition im größtenteils schiitischen und persischen Iran; aber das Entsetzen über ihren Tod findet über ethnische, konfessionelle und klassenbedingte Grenzen hinaus sowohl in der urbanen als auch der ländlichen Bevölkerung ein nationales Echo. Sie alle skandieren die gleiche Parole und haben die gleichen Forderungen.

Ein neues Element bilden drittens die Dauer und die regionale Ausbreitung der Proteste sowie die Absolutheit ihrer Forderungen: Das System hat in ihren Augen ausgedient. Während die vorherigen Protestwellen nach wenigen Wochen niedergeschlagen wurden – die Grüne Bewegung von 2009 konnte nur aufgrund der weniger brutalen Reaktionen des Regimes monatelang andauern –, halten die aktuellen Demonstranten seit Monaten stand; und die Proteste finden in kleineren Kommunen bis hin zu größeren Städten statt.

 

Die Mauer der Angst scheint gefallen

 

Jahrzehntelang haben die Iranerinnen und Iraner die Repressionen der autoritären Theokratie ertragen. Sie haben dem Regime wiederholt Chancen gegeben, sich zu reformieren und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen. Nun werden nicht mehr nur Reformen gefordert, sondern ein Regimewechsel.

Volkszorn und Frust haben sich mit der Wahl des ehemaligen Revolutionsrichters und Hardliners Ebrahim Raisi 2021 zum Präsidenten der Islamischen Republik noch einmal verstärkt. Doch die Wut breiter Teile der Gesellschaft war bereits unter dem im Westen oft als gemäßigt wahrgenommenen Präsidenten Hassan Rohani zu spüren. Die jungen Menschen im Iran nehmen wahr, wie die Söhne und Töchter der Eliten ein luxuriöses Leben führen, während junge Iranerinnen und Iraner für sich selbst keine Zukunft sehen.

Die Mauer der Angst scheint gefallen zu sein. In den ersten zehn Jahren nach der Revolution fielen Tausende von Menschen politischen Säuberungen zum Opfer – und auch jetzt hat das Regime bereits Protestierende öffentlich hinrichten lassen. Doch die Strategie, Angst zu schüren, scheint dieses Mal nicht aufzugehen. Die Protestierenden sind bereit, Opfer zu erbringen, um den Kampf um die Zukunft des Iran zu gewinnen.

Selbst wenn das Regime die Protestbewegung, die nach den größten Streiks in der Geschichte der Islamischen Republik in den ersten Wochen des neuen Jahres etwas an Intensität verloren hat, komplett niederschlüge oder Zugeständnisse machte, so hat sich ein Paradigmenwechsel in den Köpfen der Menschen vollzogen, der die Islamische Republik in ihren Grundfesten ablehnt. Im Iran wächst eine Generation ohne Erinnerungen an die Revolution von 1979 oder eine ideologische Bindung an die Theokratie heran. Einzig das Leben innerhalb einer brutalen Diktatur sowie staatliches Missmanagement, Korruption, Geschlechterdiskriminierung und fehlender Reformwille haben sich ins Bewusstsein eingebrannt.

Ein persisches Sprichwort sagt, dass nach und nach aus dem Baumwollfaden ein Turban wird. Und während es sich unter jungen Aktivistinnen und Aktivisten zu einer Protestform entwickelt hat, Vertretern der iranischen Geistlichkeit auf offener Straße den Turban vom Kopf zu schlagen, sind die andauernden und wiederkehrenden Demonstrationen ein Baumwollfaden, der dem Geduldverlust der Iranerinnen und Iraner erwächst, der Schritt für Schritt einen revolutionären Prozess nährt und der zu etwas Größerem werden könnte.

 

Simon Engelkes, geboren 1993 in Berlin, Referent Team Naher Osten und Nordafrika, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung.

Ali Fathollah-Nejad, geboren 1981 in Tabriz (Iran), freier deutsch-iranischer Politologe in Berlin, Schwerpunkt Iran, Naher/Mittlerer Osten und westliche Außenpolitik, Promotion in Internationalen Beziehungen und Entwicklungsstudien an der School of Oriental and African Studies, University of London, Autor u. a. von „The Islamic Republic of Iran Four Decades On: The 2017/18 Protests Amid a Triple Crisis“ (2020), wo er bereits vom Beginn eines langfristigen revolutionären Prozesses in Iran sprach; fathollah-nejad.eu.

 

Leseempfehlung

 

Themenseite der Konrad-Adenauer-Stiftung: Proteste im Iran. Zan, Zendegi, Azadi – Frau, Leben, Freiheit, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2022, www.kas.de/de/web/europaeische-und-internationalezusammenarbeit/proteste-im-iran [letzter Zugriff:

09.01.2023].