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Erzählen per Computerspiel

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In immer neuen Medien zu erzählen, ist typisch für die Entwicklung menschlicher Kommunikation. Gibt es ein neues Medium, nutzen es die Menschen, weil sie meinen, sich damit schneller oder besser verständigen zu können: So verläuft die Entwicklung vom Papyrus zum Buchdruck mit beweglichen Lettern, zu digitalen Formaten, die Text, Bild und Ton verknüpfen können. Doch ändern sich mit dem Medium die Inhalte – und wenn ja, inwiefern und wo genau? Diese Frage löst mit jedem neuen Medium lebhafte Debatten aus, und üblicherweise spalten sich die Lager in diejenigen, die das neue Medium begrüßen und darin einen gewissen kulturellen Fortschritt sehen, und diejenigen, die das bezweifeln.

So wurde das Virtual-Reality-Computerspiel zu Goethes Faust (2021) in den Sozialen Medien von Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen belächelt – die höchste kulturelle Anerkennung gilt hier weiterhin der Literatur in Buchform, wobei man gerade in diesem Fall berücksichtigen muss, dass es sich um Goethes Lebenstext handelt, dem er sich immer wieder neu näherte: vom Urfaust bis zum zweiten Teil des Faust-Dramas.

Wer Literatur sagt, meint damit in der Regel das Buch in gedruckter oder elektronischer Form. Doch ist eine Erzählung zwischen zwei Buchdeckeln nur eine von vielen medialen Formen, in denen Literatur realisiert wird. Literatur – verstanden als Erzählkunst – gab es schon vor der Erfindung des Buchs, sogar bereits vor der Erfindung der Schrift. Sie war ursprünglich auch eine gesprochene Kunst: Mythen und Märchen fanden ihren Weg von Mund zu Mund, und noch im Mittelalter war der Gesang ein wesentliches Verbreitungsmittel für Literatur. Immer neue Aufzeichnungsmöglichkeiten und Darbietungsweisen formten das, was jeweils für Literatur gehalten wird. Je mehr Medien im Laufe der Zeit entstanden (im Zuge von digitalen Entwicklungen in einem besonders hohen Tempo), desto mehr Möglichkeiten eröffneten sich, Erzählungen in diese zu übertragen oder Medien und Formate zu kombinieren: unter anderem vom Papier in das Hörbuch, in den Film, in verschiedene digitale Formate und in der wohl neuesten Entwicklungsstufe: in das hybride Medium Computerspiel, bei dem die Grenzen zu anderen Medien verschwimmen. Man nennt es Remediatisierung: das Aufnehmen, Aufgreifen und Weiterentwickeln der Medien in einem neuen Medium, das vom alten lebt, jedoch zugleich eine Ausdrucksform aus eigenem Recht sein will.

 

Hybride Gattung

 

Auch das Computerspiel reiht sich in diese Tradition der sich verändernden Form der Literatur ein – nicht in jeder Form, aber doch in mancher. Und tatsächlich sprechen die Expertinnen und Experten von Computerspielen als einer nächsten medialen Stufe von Literatur – jedenfalls: unter anderem. Die Entwicklung von Computerspielen ist technisch voraussetzungsreicher als diejenige von Literatur, und lediglich eine kleine Zahl von Spielen will überhaupt mit Literatur zu tun haben; aber alle Spiele leben aus einem narrativen Kern, und sei es nur durch das Aufbauen von Figuren, um den Gegner zu besiegen. Tatsächlich erweisen sich Computerspiele, vereinfachend gesagt, als eigenes Medium, das sich rasant weiterentwickelt, zugleich aber Elemente der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst und des Films integriert; kurz: Computerspiele sind eine hybride Gattung.

Die technischen Möglichkeiten gestalten das Erzählen einer Geschichte im Spiel besonders komplex; Spiele weichen von linearen Konventionen des Erzählens ab, um den Spielenden Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Um Gemeinschaftserfahrung zu ermöglichen, meist zu Unterhaltungszwecken, setzen sie auf schnelle Interaktion und Kollaboration.

Das Spektrum ist dabei sehr weit; am Ende dieses Spektrums, etwa in Open-World-Spielen oder sogenannten Quests, sind Regeln für den Fortlauf der Handlung auf ein Minimum reduziert, und es ist keine spezifische Erzählung vorgegeben; Handlung und Setting entstehen erst im Spiel selbst. Handlung ist hier das unter bestimmten Vorgaben Planbare, und was dabei entsteht, entwickelt sich in einem vielschichtigen Zusammenspiel aus technischen Möglichkeiten, mentalen Schemata der Teilnehmenden, den Chancen, die sie sich gewähren, und den Grenzen, die sie sich setzen.

Dabei zeigen erste empirische Untersuchungen, dass auch in Spielen, in denen eine Erzählung dominiert, bestimmte Spielhandlungen von der Handlung ablenken und im jeweils vorgegebenen Rahmen vom Ursprungstext abweichen. Die meisten Computerspiele – sieht man von ihren experimentellen Formen ab – folgen grundsätzlich einem anderen Interesse: Im Computerspiel bricht sich sportliche Energie Bahn, wobei die Erzählung an sich nur den Spielanlass darstellt. Möglicherweise tauchen bestimmte Plots und Figurenkonstellationen in Computerspielen aus diesem Grund häufiger auf: etwa Verfolgungsjagden oder andere Formen des Wettbewerbs. Im Grunde geht es dann mehr, wie Christoph Martin Wieland gesagt hätte, um ein Zeitkürzungsspiel als Zerstreuungsmittel, durch das man sich lediglich die Zeit vertreiben will – ohne ausgeprägte ästhetische oder literarische Ansprüche an eine Erzählung.

 

Realisierung der ludischen Gesellschaft?

 

Der Gegensatz von Buch und Computerspiel lässt sich unter anderem mit den Begriffen Statik und Dynamik fassen; das Buch erscheint als statisches Medium, so sehr es seine Leserinnen und Leser auch in die Erzählung hineinzieht; das Computerspielen hingegen wirkt dynamisch, selbst wenn die Dynamik nur auf optisch glatter Oberfläche stattfindet. Besonders Literatur-Adaptionen zeigen, dass sich nicht so sehr das ändert, was erzählt wird, sondern auf welche Weise dies geschieht. Während das gedruckte Buch üblicherweise je nur eine Version einer Erzählung enthält, die sich auch nach mehrmaligem Lesen nicht ändert – es sei denn, es erscheint eine revidierte Fassung –, ist die Erzählung in einem Computerspiel nicht immer von vornherein festgelegt und kann im Spiel und beim Wiederspielen variieren. Dabei lässt sich auch hier ein Spektrum beschreiben: Es gibt Computerspiele, die eine Nähe zu Büchern und Erzählungen suchen, und solche, die das nicht tun. Zugleich gibt es Mischformen und Neuentwicklungen, in denen sich Spiel und Literatur ergänzen.

In Forschung und Öffentlichkeit wird im Hinblick auf solche Entwicklungen der ludic turn ausgerufen. Die ludische Gesellschaft scheint nahe, die sogenannte Gamification der Künste realisiert. Für Erzählungen bedeutet das, dass sie durch das Computerspiel nicht nur anders funktionieren, sondern insbesondere anders wahrgenommen werden können. Computerspiele setzen, politisch gesagt, auf Partizipation. In Streaming-Diensten wird diese Partizipation durch die Möglichkeit der Interaktion mit dem Publikum erweitert. Gerade in der Zeit der Pandemie und der damit verbundenen Selbstisolation dienen diese Erzählungen dazu, dass man sich im Spiel nicht nur mit Figuren, sondern auch – wenn auch nur medial – mit tatsächlichen Menschen trifft. Und die Spielercommunity, die Erzählungen im Computerspiel spielt, nachspielt oder spielend umschreibt, ist aktiver als das Lesepublikum.

 

Gaming als soziales Event

 

Erste empirische quantitative Forschungsbemühungen zeigen zudem: Kommen Menschen online zum gemeinsamen Spiel zusammen, wird tendenziell immer weniger die gespielte Erzählung thematisiert – sie kommunizieren mehr und auch über andere Themen, sodass das Gaming der Anlass zu einem sozialen Event wird, in dem die Erzählung nicht unbedingt im Mittelpunkt steht, aber neue Erzählungen kreiert werden können. Solche Phänomene kennt man bereits aus anderen Kontexten, etwa dem Theater des 18. Jahrhunderts, wo man sich traf und der aufgeführten Erzählung weniger aufmerksam folgte als den Gesprächen jenseits des Bühnenraums. Das digitale und virtuelle Spielen erweitert diesen Raum online und globalisiert ihn, jedenfalls potenziell. Die Gaming-Kultur ist dabei nicht allein wegen der Erzählungen im Spiel besonders populär, sondern auch aufgrund der Personen, mit denen gespielt wird, oder eben auch der Persönlichkeiten, die in sogenannten Let’s Plays Videospiele vorspielen. Diese Let’s Player werden mitunter als Berühmtheiten gefeiert und sind der eigentliche Grund für die Rezeption eines Games. Dabei sei noch erwähnt, dass das Durchschnittsalter der Gamerinnen und Gamer jüngsten Studien zufolge bei über 35 und damit wesentlich höher liegt, als üblicherweise angenommen wird.

Im Computerspiel und seiner Geschichte verbinden sich die Geschichte von Spiel und Literatur – und seit Friedrich Schiller galt die Literatur als eine Praktik des autonomen Spielens, jedoch auf eine sehr spezifische Art und Weise. Wie das Computerspiel. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach nimmt so jüngst mit dem Ziel, die Literatur in ihrer ganzen Medialität zu berücksichtigen, neben anderen Medien auch Versoftungen von Literatur – so nennt man die Umsetzung literarischer Texte im Computerspiel – und narrativ dichte Computerspiele in seine Sammlung auf. Neben Adaptionen literarischer Texte werden auch solche Spiele in die Sammlung integriert, die einen narrativen beziehungsweise literarischen Anspruch haben oder Spuren der Rezeption von Literatur aufweisen.

Der Sammelauftrag für diese nächste mediale Stufe von Erzählungen betrifft also nicht alle Computerspiele, sondern nur wenige. Die Sammlung ist derzeit im Aufbau und entwickelt sich mit der neuen Mediengattung weiter. Erst über die Jahre wird sich zeigen, wie sich das Verhältnis von Spiel und Literatur weiterentwickelt und was daraus für die Kanonisierung im Archiv folgt – oder vice versa: inwiefern ein solcher künftiger Kanon Literatur, Computerspiel und ihre Communitys beeinflusst.

 

Dîlan Canan Çakir, Wissenschaftliche Mitarbeiterin „Archivierung, Erschließung und Erforschung von Born-digitals“, Deutsches Literaturarchiv Marbach.

Sandra Richter, geboren 1973 in Kassel, Germanistin und Literaturwissenschaftlerin, seit 2019 Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach.

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